Raif Badawis Blogartikel: Lauter, nicht anders als die anderen

Der inhaftierte saudische Blogger Raif Badawi möchte lieber Symptom als Symbol sein. Das Buch „1000 Peitschenhiebe“, eine Artikelsammlung, zeigt das.

Märtyrer haben ein Problem, denn Märtyrer haben Namen. Das macht sie einzigartig, und damit zur Ausnahme.
Raif Badawi wollte nie ein Märtyrer sein. In „1000 Peitschenhiebe. Weil ich sage, was ich denke“ schreibt er in dem Vorwort, dass er seiner Frau aus dem Gefängnis diktiert hat: „Es gibt Menschen , die sind der Ansicht, dass ich etwas zu sagen habe. Es gibt aber auch solche, die meinen, dass ich einfach ein gewöhnlicher Mensch bin. Einer, der es nicht verdient hat, dass seine Blogartikel übersetzt und als Buch veröffentlicht werden.“

Aufklärung und „Liberalismus“

Es sind diese Blogartikel, wegen denen Badawi nun in einem saudischen Gefängnis sitzt – 10 Jahre, lautete das Urteil, dazu eine Geldstrafe und 1000 Peitschenhiebe, verteilt auf 20 Wochen (in dem Zusammenhang ist übrigens der „Unsere Autoren live erleben“-Button auf der Verlagsseite etwas zynisch). In seinen Artikel kritisierte Badawi die übermäßige Präsenz der Religion und deren rigorose Kontrolle aller Lebensbereiche in Saudi-Arabien. Die Idee, die immer wiederr in seinen Artikel aufschimmert, nennt er „Liberalismus“, der tief tief in den Ideen der Aufklärung verwurzelt ist. Mehr Freiheit – auch zur freien Wahl der Religion – weniger staatlich-religiöse Kontrolle, so könnte man die Einstellung zusammenfassen, die Badawi ins Gefängnis gebracht hat. Diese hat er in seinen Artikeln immer wieder ausformuliert, immer wieder propagiert, in vollem Bewusstsein des Risikos für sich und seine Familie, die inzwischen nach Kanada fliehen musste(Raif Badawis Frau, Ensaf Haidar, schreibt hier darüber, wie sie die letzten Monate erlebt hat).

Märtyrer und Symbol

Genau deshalb ist natürlich die Wahl des Wortes „Märtyrer“ vielleicht die falsche – wegen der starken religiösen Konnotation. Aber die Idee, das Gefühl dahinter ist das richtige. Der Klappentext des Buches benutzt das Wort „Symbol“, um in etwa dasselbe auszudrücken. Aber auch damit wird Badawi wieder in die Einzigartigkeit erhoben, zur großen Ausnahme, der Journalist und Herausgeber des Buches, Constantin Schreiber, schreibt in der Einleitung: „Raif Badawi hat nicht den Weg gewählt, den Tausende andere junge Araber jedes Jahr wählen, und sich in Richtung Westen aufgemacht.“ „Raif Badawis Mut“, schreibt er an anderer Stelle, „kann gar nicht genug bewundert werden.“

Keine strahlende, leidende Verkörperung

Es geht nicht darum, Badawi zu kritisieren. Niemand im gemütlichen, säkularisierten Westeuropa kann sich wohl vorstellen, wie viel Mut dazugehört, in Saudi-Arabien für Überzeugungen wie Badawis einzutreten. Und damit zu leben, dass jederzeit – als theoretische Maximalstrafe für seine in westlichen Augen inhaltlich sehr zahmen Artikel – die Todesstrafe über einen verhängt werden könnte. Niemand kann sich vorstellen, wie 1000 Peitschenhiebe sich anfühlen. Niemand sollte wissen, wie sie sich anfühlen.
Das Problem ist, dass vor allem die Einleitung und die gerade erschienenen Rezensionen zum Buch ihn zum Symbol deklarieren – wo doch immer nur Symptom sein wollte, nicht die strahlende, leidende Verkörperung von etwas, sondern ein Anzeichen für ein größeres Problem. Kein Individuum, dessen Gesicht groß auf dem Buchcover prangt, sondern eine Stimme von vielen. Denn, auch das die die Essenz von Badawis Artikeln, viele junge, kluge Saudis denken wie er – was ihn umtreibt, und was Schreiber in seiner Einleitung auch formuliert ist, dass diese nach und nach in den Westen abwandern, statt an den Verhältnissen in Saudi-Arabien etwas zu ändern. Wobei das Problem sich – auch das formuliert Badawi – sich nicht nur auf Saudi-Arabien erstreckt, sondern in vielen Ländern der arabischen Welt mit einem leicht anderen Geschmack genauso anwendbar ist.

Die Stimme, die etwas lauter ist

Das ist auch das Bewusstsein, in dem „1000 Peitschenhiebe. Weil ich sage, was ich denke“ gelesen werden sollte. Nicht als große Ausnahmestimme, nicht als schmaler Band von Artikeln eines radikalen Denkers, der für seinen Idealismus inhaftiert wurde. Sondern als eine Stimme, die ausspricht, was viele denken, und dabei zufällig etwas lauter ist.

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Raif Badawi, Constantin Schreiber (Hg.): 1000 Peitschenhiebe. Weil ich sage, was ich denke.
Ullstein-Verlag, 2015
64 Seiten, 4,99 €

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