Über: Leben: „Ich habe 75 Prozent meiner Aufträge verloren“

Martin Spieß, selbst Künstler, trifft Künstler*innen digital und coronakonform zum Gespräch – über Ängste, Bewältigungsstrategien und Perspektiven. Heute in Über: Leben: Christine „Tini“ Rauscher, Musikerin, Songwriterin und freie Rednerin.

Schon vor der Corona-Pandemie war die Situation der meisten Künstler*innen prekär, das Virus und die mit ihm einhergehenden Veränderungen haben die Lebens- und Arbeitsbedingungen aber noch mal erschwert. Martin Spieß, selbst Künstler, trifft Künstler*innen digital und coronakonform zum Gespräch – über Ängste, Bewältigungsstrategien und Perspektiven. Heute in Über: Leben: Christine „Tini“ Rauscher, 35, Musikerin, Songwriterin und freie Rednerin.

Zebrabutter: Mir ist, mit dem Blick auf den Messenger, gerade erschreckend bewusst geworden, dass wir im gesamten letzten Jahr nicht einmal geschrieben haben. Wie geht es dir? Und wie hat die Pandemie deine Arbeit beeinflusst?

Christine Rauscher: Die Pandemie hat sowohl meinen Arbeitsalltag, als auch mein Leben insgesamt massiv beeinflusst. Vor Corona war ich ständig unterwegs – Konzerte, Festivals, ich habe Trauungen gehalten, habe Freund*innen und Bekannte in ganz Deutschland besucht. Seitdem habe ich ungefähr 75 Prozent meiner Aufträge verloren, bin finanziell allein auf die Unterstützung meiner Fans auf Twitch und Patreon angewiesen – durch digitales Hutgeld in meinen Online-Konzerten – und musste im Grunde mein ganzes Lebens- und Arbeitskonzept umstellen. Du kannst dir sicher vorstellen, dass das auch psychisch eine extreme Belastung ist: Nicht zu wissen, was kommt – ob man einen Auftritt, den man gerade vorbereitet, wird spielen können, eine Rede halten, die fertig geschrieben auf dem Rechner liegt. Ich habe noch nie so viel umwerfen, neu planen, und dann erneut umorganisieren müssen wie in den letzten 13 Monaten. Das kostet sehr viel Kraft. Das Schlimmste daran ist aber eigentlich das Gefühl, von der Politik in all diesen Kämpfen nicht gesehen oder wissentlich ignoriert zu werden.

Ich habe auf Deutschlandfunk Kultur einen Beitrag mit Bertolt Meyer, einem Wirtschaftspsychologen, gehört, der sagte, Hilflosigkeit sei das schlimmste Gefühl, dass man durchmachen könne. Und das erlebten gerade viele Menschen. Was machst du dagegen? Aushalten? In Deckung gehen? Und hast du ein Supportsystem von Freund*innen, Familie und Kolleg*innen, die du wenigstens digital sehen beziehungsweise hören kannst?


Ich habe zum Glück ein stabiles und weit verzweigtes Support-Netz: Eine wundervolle Familie, ein paar enge Freund*innen (die zum Glück selbst nicht in der Branche unterwegs sind), meine Fans, die mich unterstützen – da, wo der Staat es nicht tut. Und im Gegensatz zu vielen anderen, die unter der aktuellen Situation leiden, habe ich zusätzlich eine großartige Therapeutin. Man sollte dazu vielleicht wissen: Ich habe den „Vorteil“, dass all das nicht meine erste größere Krisensituation ist, seit ich diesen Beruf ausübe. Vor drei Jahren wurde bei mir Schilddrüsenkrebs diagnostiziert – an sich eine sehr gut behandelbare Krebsart, glücklicherweise. Nur ist die Operation potenziell nicht ungefährlich für die Stimmbänder, was gerade für mich als Sängerin natürlich die absolute Horrorvorstellung ist. Schon damals musste ich also überdenken, wie ich mich breiter aufstellen kann, um auch in Zukunft meinen Traumberuf Musikerin noch ausüben zu können, in Phasen, in denen ich vielleicht schlicht nicht live singen kann. Dadurch bin ich vermehrt zu den Reden, aber auch zu den alternativen Formaten wie Online-Streaming und eben Patreon gekommen, schon bevor die Pandemie zugeschlagen und die komplette Veranstaltungsbranche lahmgelegt hat. Ich hatte also einen „Vorsprung“. Trotzdem ist die aktuelle Situation sehr schwer auszuhalten – vor allem weil man eben nichts tun kann.

Wie blickst du in die Zukunft? Glaubst du, auch im Hinblick auf die Bundestagswahl im Herbst, dass die Kulturpolitik sich ändern wird?


Um ehrlich zu sein habe ich keine großen Hoffnungen. Kultur war schon immer etwas, mit dem sich in guten Tagen gerne geschmückt hat und auf das in schlechten Zeiten nur allzu gerne gesetzt wird, um die Moral hochzuhalten beziehungsweise zu helfen, einen gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Eine Lobby dafür gab es in der Politik aber letztlich noch nie. Die Arbeits- und damit Lebenssituation von Künstler*innen in Deutschland war schon vor der Pandemie in großen Teilen prekär: Das Leben von Engagement zu Engagement, Zeitverträge, die Ungerechtigkeit in Bezug auf die relative Steuerlast, die Mindestbeiträge zu Krankenkasse und so weiter. Künstler*innen sind nicht umsonst oft gleichzeitig auch Lebenskünstler*innen – weil sie es sein müssen. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum man aktuell noch nicht so viel hört: Weil wir es gewohnt sind, uns anzupassen und „schon irgendwie klar zu kommen“. Gut, und weil nach 13 Monaten ohne sinnvolle Hilfsmaßnahmen von Bund und Ländern, ohne ein faires System der Auftragsausfall-Kompensation und ohne wirkliche Hilfe, den allermeisten auch einfach die Kraft fehlt. Wer um seine schiere Existenz kämpft, wird nicht politisch aktiv.

Bist du politisch aktiv?


Nicht im engeren Sinne. Ich habe tatsächlich mehrfach in den letzten Monaten darüber nachgedacht, mich parteipolitisch zu engagieren. Ich wusste aber um ehrlich zu sein einfach nicht, in welcher Partei: Denn es gibt meines Eindrucks nach keine, die die Interessen von Künstler*innen und kleinen Solo-Selbstständigen vertritt. Ich werde natürlich wählen gehen, aber es fehlt am gesellschaftlichen Druck, von unten – auch von den Hörer*innen, Leser*innen und Besucher*Innen –, damit das Thema wirklich in den Fokus rücken kann.

Dabei muss ich an den Arte-Beitrag zum Streaming denken, der gerade die Runde macht, und frage mich, ob die meisten Hörer*innen unsere Allys oder eher Teil des Problems sind.


Meine Erfahrung und mein Eindruck sagen: Beides. Gerade zu Beginn der Pandemie habe ich einen großen Aufschwung bemerkt, sowohl in den Zuschauer*innenzahlen meiner Streams, aber auch im Support: Den Menschen war durchaus klar, dass da eine ganze Branche leidet und um ihre Existenz kämpft. Je länger die Pandemie aber dauert, desto weniger wird diese Unterstützung: Weil immer mehr Künstler*innen darauf angewiesen sind, weil die Online-Angebote immer mehr und auch professioneller werden, aber auch, weil Menschen Angst haben, dass ihr Geld für den eigenen Lebensunterhalt nicht reicht, dass sie ihren Job verlieren und so weiter. Was dann als Erstes auf der Strecke bleibt, sind all diese „Zusatzausgaben“: Kunst und Kultur werden – gefühlt – zum Luxus, obwohl wir in der Pandemie so viel davon konsumieren wie nie zuvor. Aber „Konsumieren“ ist da eben das Stichwort. Es existiert, gerade auch in der Musikwelt, die Erwartung, dass Musik immer verfügbar sein muss und natürlich so wenig wie möglich kosten sollte.

Wenn du, wie du sagst, „nicht im engeren Sinne“ politisch aktiv bist, was tust du dann?

Ich spreche darüber – auf Social Media, in meinen Posts, auf meinen Seiten. Ich versuche zumindest in meiner Bubble den Menschen klar zu machen, wie prekär die Situation von Künstler*innen aktuell immer noch und immer mehr ist. Und dass letztlich sie es in der Hand haben, wie es mit der Kunst- und Kulturszene weitergeht: Als Wähler*innen, als Konsument*innen, als Fans – so traurig und enttäuschend das mit Blick auf die Politik auch ist, deren Aufgabe das ja eigentlich wäre … Ich bin aber auch unendlich dankbar für die Unterstützung, die ich und andere schon erfahren – und das betone ich natürlich auch.

Das geht mir tatsächlich auch so: Ich habe gerade durch meine Fans viel finanzielle, aber auch emotionale Unterstützung bekommen, Letzteres allein dadurch, dass immer wieder mal jemand schreibt oder kommentiert: „Wir sehen dich, wir finden dich nicht selbstverständlich.“ Das macht mich dankbar und demütig, aber auch ein bisschen wütend, weil es ja nicht ihre Verantwortung sein sollte, für meine Kolleg*innen und mich zu sorgen.

Genau, denn eigentlich sollte das nicht nötig sein.

Das ist doch ein schönes Schlusswort! Danke für deine Zeit, Tini.

Ich danke dir für die Möglichkeit, „laut“ sein zu dürfen. Oder zumindest ein bisschen lauter.

Bildquellen

  • VanH_Tini__191023-10_quer: Bild: Antje Hamann