Wie es sich anfühlt, einen Bestseller zu landen. Teil 1: Von Marburg zu Ullstein

Johannes Hinrich von Borstel landete mit Herzrasen kann man nicht mähen einen internationalen Buch-Hit. Wir haben ihn gefragt, wie der Weg vom Studium auf die Science Slam-Bühne und die Bestsellerlisten hinter den quietschbunten Kulissen von Buchmesse, Lanz und SAT.1-Frühstücksfernsehen aussieht.

Wie fühlt es sich an, einen Bestseller zu landen? Und wie wird überhaupt einer gemacht? In unserer mehrteiligen Serie lässt der Science-Slammer und Sachbuchautor Johannes Hinrich von Borstel seinen Weg in die internationalen Bestsellerlisten Revue passieren. 

Dieser Text zum Hören, vom Autor eingesprochen:

Schöntraum

„Das ging alles ziemlich schnell.“ Ich höre oft diesen Satz von mir. In Gesprächen mit Freunden, in Interviews oder wenn ich im Stillen bemerke, was sich in den letzten Monaten verändert hat. So schnell wie 2016 ist noch kein Jahr an mir vorbeigezogen. Gestern war ich noch „nur“ Medizinstudent, einer von etwa schreibtisch85 000, die sich täglich mit Anatomie, Krankheiten, Therapien und Prüfungen auseinandersetzen. Heute studiere ich zwar immer noch, aber mein Alltag hat sich so sehr geändert, wie ich es in meinen kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten habe. Ich sitze immer noch an dem Schreibtisch in meinem WG-Zimmer, aber immer seltener, um Muskeln, Knochen und Stoffwechsel auswendig zu lernen. Gerade, zum Beispiel, hatte ich eine Journalistin am Telefon. Dieses Mal aus London. Vor mir steht eine Tasse Kaffee, neben mir liegt ein bunter Stapel von Büchern. Ich beantworte Fragen, die Fragen der Londoner Journalistin am Telefon, betrachte die Buchstaben auf den Buchrücken und frage mich, wann genau ich aufwache. Das, was gerade passiert, scheint dann doch zu unrealistisch. Die Bücher in dem Stapel sind von unterschiedlichen Verlagen, sie sind aus unterschiedlichen Ländern, haben Titel, von denen ich teilweise noch nicht einmal die Schrift lesen kann, geschweige denn die Sprache verstehen. Sie alle tragen meinen Namen auf den Buchrücken.
Normalerweise wache ich in solchen Momenten immer auf, doch so sehr ich mich auch anstrenge, ich schlafe weiter, und der Traum von der Karriere als Autor eines internationalen Bestsellers bleibt. Ein schöner Traum, und ich erinnere mich sogar daran.

Science Slam

Alles beginnt damit, dass ich mit einem Studienkollegen einen Science Slam in Marburg besuche. Es geht darum, dass junge und angehende Wissenschaftler ihre Forschung in zehnminütigen Vorträgen auf die Bühne bringen müssen. Möglichst allgemein verständlich, gerne unterhaltsam. Das Publikum stimmt am Ende über den besten Vortrag ab. Mein Kumpel und ich sind begeistert. So begeistert, dass wir in der Pause zu der Veranstalterin gehen, um uns für das nächste Mal als Teilnehmer anzumelden.
Wenige Monate später befinde ich mich selbst hinter der Bühne des Hessischen Landestheaters, noch zwanzig Minuten, bis das Publikum in den Zuschauerraum strömen wird. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Passend dazu habe ich einen Vortrag vorbereitet, der das Publikum durch seinen ersten Herzinfarkt führen soll. Dabei bin ich selbst höchstwahrscheinlich dicht an der Nulllinie. „Warum kannst du nicht einmal dein Maul halten?!“, ermahne ich mich. „Warum kannst Du nicht einmal einfach nur begeistert sein, ohne sofort auf den Karren aufzuspringen?“ Ich würde gerne eine Ausrede finden, um mich nicht dem Publikum und deren kritischer Beurteilung stellen zu müssen. Ich durchlebe eine emotionale Berg- und Talfahrt, die den Phasen der Trauer gleicht. Phase 1 bis Phase 3, Leugnen, Zorn und Verhandeln habe ich gerade hinter mich gebracht. Im Moment – in Phase 4 – erlebe ich eine Art Depression. „Dein Vortrag ist Scheiße. Die werden Dich nicht gut finden. Du bist ein Idiot, dass Du Dich darauf eingelassen hast.“
Ich stapfe hinter der Bühne auf und ab, der Zuschauerraum füllt sich langsam und einen gefühlten Wimpernschlag später erklingt schon der dritte Gong und läutet den Abend ein. Meine Aufregung wächst ins Unermessliche. Ich haste alle paar Minuten vom Backstage auf die Toilette, auf meinen Platz hinten im Zuschauerraum, wieder auf die Toilette. Der Slam ist in vollem Gange, ich bin der vierte in der Reihe von sechs Slammern. Und dann ist es so weit. Ich werde anmoderiert. Fünf Minuten lang.

„…Wenn ein Mediziner hinter dem Sarg seines Patienten geht, so folgt manchmal tatsächlich die Ursache der Wirkung.“

Dieses Zitat von Voltaire ist mein Startschuss. Das Publikum empfängt mich mit Applaus auf der Bühne. Mir ist heiß. Die Scheinwerfer blenden mich. Der 10-Minuten-Countdown beginnt zu ticken. Die Zeit rennt. Phase 5. Akzeptanz. Flucht nach vorn. Ich lege los.

Blackout

An die 10 Minuten meines ersten Auftrittes habe ich so gut wie keine Erinnerungen mehr. Die Aufregung hat einen Großteil verdrängt. Woran ich mich aber erinnere: An den Moment nach dem Vortrag. Applaus. Es hatte funktioniert. Das Publikum mochte mich. Meinen Vortrag. Die Versagensangst fiel, wie ein zentnerschwerer Rucksack, von mir ab und plötzlich durchströmte mich ein tiefes Glücksgefühl, das für den Rest des Abends andauerte. Die Aftershowparty war atemberaubend… Blackout.
Dieser Abend öffnete eine Tür und ich ahnte noch nicht, dass ich gerade eine Lawine los getreten hatte, die mich mit all Ihrer Kraft erfassen würde. Kurze Zeit später bekam ich einen Anruf. Ich sei für die Westdeutsche Science-Slam Meisterschaft in Köln nominiert. Ich fuhr hin. Ich gewann. Dann die Deutsche Meisterschaft in Münster. Ich fuhr wieder hin. Ich gewann nicht. Aber es reichte, um die Science-Slam- Bühnen der Republik besuchen zu dürfen. Es folgte ein Auftritt in Frankfurt, dann einer in Berlin. Frankfurt war geil, doch was die Bundeshauptstadt fast eine Woche nach Silvester für mich bereit halten würde, sprengte alle meine Vorstellungen.

6. Januar 2014, Berlin-Kreuzberg, Oranienstraße

Ich darf am 30. Berliner Science-Slam in Kreuzberg teilnehmen. Entlang der Oranienstraße, die ich auf dem Weg zur Location entlangschlendere, säumen viele Veranstaltungsplakate meinen Weg. Sie führen mich zu meinem Ziel. Von weitem sehe ich rot leuchtende Lettern über dem Gehweg thronen. SO36. Ich kenne diesen Laden nur aus Erzählungen. Eine der berüchtigtsten Punkrockbühnen der Republik. Ich stoße die Eingangstür auf, vor mir ein langer Gang, an den Wänden Graffiti, in der Nase der Geruch von kaltem Rauch vermählt mit dem jahrzehntelang gereiften Aroma angegriffener Bausubstanz. Eine Nuance von Erbrochenem. Nicht unangenehm, aber wahrnehmbar, so als wollte mich der Laden präkognitiv auf den Ausgang dieses Abends vorbereiten. Ich gehe weiter in das Gebäude hinein in den Veranstaltungssaal, der Soundcheck 30-slamberlinist bereits in vollem Gange. Ich bekomme ein Bier in die Hand. Das passt irgendwie zu der Punkrockatmosphäre, die diese Bühne ausstrahlt. Slime und Die Ärzte sind hier schon aufgetreten und der Spirit dieser Zeit kriecht aus jeder Fuge des Ladens. Ich bin beeindruckt und schon wieder aufgeregt. Es bleibt nicht bei diesem einen „Bühnenbier“. Der Saal füllt sich langsam. Am Ende sind es so viele Zuschauer, dass nicht nur alle Sitzbänke belegt sind, sondern die hinteren Zuschauerreihen stehen müssen. Das SO36 ist gerammelt voll.

Ich habe meinen Vortrag in der Zeit seit meinem ersten Auftritt geschliffen, Folien entfernt, geändert, ihn um einige neue Folien ergänzt. Es hat sich gelohnt. Das Publikum spricht mir am Ende des Abends den ersten Platz zu. Nach der Siegerehrung leert sich der Saal langsam, ich stehe mit den anderen Slammern und den Veranstaltern vor der Bühne und die Laune ist großartig, als plötzlich eine Zuschauerin auf mich zukommt. Sie begrüßt mich, wir gehen ein paar Schritte zur Seite. Dann sagt sie, dass sie für einen Verlag arbeitet und sich über eine Nachricht von mir freuen würde, wenn ich Lust hätte, ein Buch zu schreiben. Sie drückt mir zum Abschied eine Visitenkarte in die Hand. Ich bedanke mich ein wenig ungläubig und verdutzt und stecke die Karte ein. Im Anschluss: Aftershowparty im Keller vom Café Jenseits. Eine der heftigsten meines Lebens. Glücksgeschwängert und getrieben von Übermut feiern wir diesen grandiosen Slamabend. Die Visitenkarte in meiner Tasche gerät in Vergessenheit. Bis zu dem Zeitpunkt etwa sieben Tage später, als ich die Karte beim Wäschewaschen wieder hervorkrame. Die Visitenkarte meiner zukünftigen Lektorin von den Ullstein Buchverlagen.

Willkommen bei den Ullstein Buchverlagen

Ich rufe meine zukünftige Lektorin an. Wir sprechen viel. Wie könnte ein Buch von mir aussehen – ein unterhaltsames Herzbuch möchte ich schreiben – wie läuft ein solches Projekt ab, wie schreibe ich ein solches Buch? Wir telefonieren häufiger. Ich nehme mir Zeit und der Verlag macht mir keinen Druck. In den kommenden Wochen bekomme ich ähnliche Anfragen von anderen Buchverlagen. Ich entscheide mich am Ende dennoch für Ullstein, aus dem Angebot wird ein Vertragsentwurf und schließlich fahre ich nach Berlin, um den Vertrag zu unterzeichnen. Schon wieder Berlin. Dieses Mal führt mein Weg mich in die Friedrichstraße. Vorbei an einem Hipstercafé, in dem ich mir stilecht und um mir ein bisschen mehr, wie ein echter Berliner vorzukommen, einen „Latte Macchiato To Go“ mitnehme. Sonderwünsche? Keine. Scheinbar eine ungewöhnlich simple Bestellung. Zumindest, wenn man nach destiftm enttäuschten Blick der Barista geht. Ich nicke meine Bestellung ab und weiter geht’s mit dem Lattebecher in der Hand. Berlin-Mitte-Streetcredebility overload. „Berlinerisch“-unangepasst und zwar so sehr, dass selbst der Vanilla-Chai-Latte mit fettarmer Sojamilch1 nicht mehr gut genug ist, nein. Dieser außergewöhnlich traditionell zubereitete Latte Macchiato soll mein Alleinstellungsmerkmal sein. Ohne Chai, ohne Chia, ohne Chi Chi. Ich verbrenne mir die Zunge, ärgere mich darüber und dann glupscht sie mich an. Die Ullstein-Eule vor dem Hauptgebäude der Ullstein Buchverlage.

Es riecht nach Ikea, irgendwie neu und sauber. Im Eingangsbereich melde ich mich an der Rezeption an. Meine Lektorin wird informiert, sie befände sich auf dem Weg, sagt die Dame am Emfpang. Ich vertreibe mir die Wartezeit und beäuge dunkelbraune Holzregale an den Wänden mit den aktuellen Ullsteinbüchern. Sauber geordnet reihen sich Bücher mit bekannten Namen auf den Rücken auf. Das neue Buch Heinz Buschkowskys, des ehemaligen Bürgermeisters von Neukölln, daneben der neue Bestseller-Krimi von Nele Neuhaus. Ich kann mir noch nicht vorstellen, wie es sein wird eines Tages mein eigenes Buch dort zu finden. Neben mir öffnet sich eine Tür. Meine zukünftige Lektorin stößt dazu. Wir beginnen mit einer ausgiebigen Führung durch das Gebäude in der Friedrichstraße in dessen Treppenhäusern große Schwarzweißbilder hängen, die noch mehr bekannte Autorengesichter zeigen. Mir werden die ersten Menschen vorgestellt. Einige Namen und Gesichter kenne ich schon aus Telefonaten und Emails. Menschen aus dem Marketing, aus dem Pressebereich, Lizenzexperten. Es sind viele neue Gesichter dabei. Ich treffe das erste Mal die Leiterin der Abteilung Rechte und Verträge, die für die Ausarbeitung meines Vertrages verantwortlich ist. Wir hatten vorher schon Kontakt und überfliegen nun den Vertrag ein letztes Mal. Anschließend kommt die Verlagschefin persönlich dazu. Wir gehen zu dritt ins Chefbüro, ein großer Raum mit einer atemberaubenden Aussicht über Berlin, auf die Siegessäule, deren krönende Viktoria aus diesem Blickwinkel genau mittig und oberhalb des Bundeskanzleramtes zu schweben scheint. Wir beginnen mit Smalltalk, der sich zu einem Gespräch über das gemeinsame Buchprojekt entwickelt. Am Ende unterschreiben wir den Vertrag. Mit einem Ullsteinstift. Glücklicherweise darf ich den Stift behalten, ich bin ein Fan von Souvenirs. Ich habe seitdem nie wieder mit ihm geschrieben. Er ruht unberührt auf dem Geweih eines in Bern gewonnenen Science-Slam-Hirsches über meinem Schreibtisch.

Der nächste Teil der Serie folgt nächste Woche.

  1. Kling, Marc-Uwe: Das Känguru-Manifest, Ullstein, Berlin 2011, S. 33

Bildquellen

  • schreibtisch: Johannes Hinrich von Borstel
  • 30-slamberlin: Screenshot: Johannes Hinrich von Borstel
  • stift: Johannes Hinrich von Borstel