Der Zauberer von Oz: Im Kern der Geschichten

Im Herzen unserer Lieblingsgeschichten liegt oft eine ganz andere Geschichte: „Der Zauberer von Oz“ von 1939.

Die Familie versammelt sich vor dem Fernseher. Nicht vor irgendeinem Fernseher. Die Familie ist bei einem reichen Bekannten, oder auch in einem Elektrogeschäft, eines, das die neuesten Modelle führt.. Es muss eines der neuesten Modelle muss sein, kein Schwarzweiß-Gerät, jeder hat so eines, nein, es muss ein Gerät sein, dass die satten Technicolor-Farben auch zeigen kann. Der Zauberer von Oz in schwarzweiß, das ist sinnlos.

Es ist das Jahr 1950, die US-Fernsehpremiere der „Oz“-Verfilmung von 1939. Die nächsten 48 Jahre, bis 1998, wird die Familie dem Ereignis entgegenfiebern, sich jedes Jahr vor dem Fernseher versammeln, zuerst noch vor einem der wenigen Farbgeräte, später, mit steigendem Wohlstand, vor dem eigenen Fernseher. Sie wird jedes Jahr den Zauberer von Oz ansehen. Die Lieder mitsingen, die Sätze mitsprechen: „I have a feeling we’re not in Kansas anymore“, „Don’t pay attention to the man behind the curtain“. 1950: Es ist die Geburtsstunde von Geschichten.

Die kleinen Unterschiede

Denn auch wenn der Zauberer von Oz sein Leben als Buch begann: Es ist der Film, der die Fantasie der Menschen anregte und das Land Oz bis weit in unsere Welt hineintrug. Die Verfilmung bleibt dabei der märchenhaften Vorlage weitestgehend treu. Die zwei großen Unterschiede, die es gibt, sind allerdings entscheidend.

Der erste Unterschied ist, dass im Buch Dorothy tatsächlich auf die Reise geht, während sie im Film während des Tornados einen Schlag auf den Kopf bekommt und am Ende wieder aufwacht. Im Film ist die Reise nach Oz nur eine Traumreise. Das wirkt auf den ersten Blick nicht so wichtig – die Reise findet ja trotzdem statt. Die Wirkung der Botschaft „Oz ist in dir“ kann allerdings kaum überschätzt werden – gerade in Zeiten einer neuen Jugendkultur und den ersten, zarten Schritten zu unseren heutigen unterschiedlichsten Lebensstilen.

Der zweite Unterschied ist der, dass im Buch Dorothys Schuhe silbern sind – im Film glitzern sie in sattem Rot. Der einzige Grund für diese Änderung ist, dass die Schuhe in rot im Farbfilm beeindruckender wirken. Während die Szenen in Kansas in Sepiatönen gehalten sind, strahlt Oz in grellem Technicolor. Im Zauberer von Oz zeigte der Farbfilm zum ersten Mal, was er wirklich kann. Und das tut er ganz bewusst, indem er mit seiner zwischen Farb- und Schwarzweißfilm wechselt, also mit dem Film als Medium selbst spielt. Zu einer Zeit, in der im Fernsehen selten Farbfilme liefen, und auch im Kino wenigstens noch eine kleine Besonderheit waren.

In Farbe. Und bunt.

Diese Farbigkeit war die Initialzündung, das, was die Menschen an dem Film zuerst interessierte und beeindruckte. Jahr für Jahr ging es dann nicht mehr um den Film, sondern um das Ritual, das zwei bis drei Generationen beim Erwachsenwerden begleitete: Die Familie, die jedes Jahr vor dem Fernseher zusammenfindet. Hierzulande gab es diese Tradition nie. In den USA aber schrieb der Film sich tief ins kollektive Gedächtnis ein. Nicht nur als Film, sondern auch als Symbol für familiäre Gemütlichkeit und als Ermunterung, die bunten Welten in sich selbst zu suchen: „You’ve had the power all along, my dear“. Der Film wurde zum Lebensbegleiter und zur wichtigen Inspirationsquelle vor allem für die Geschichtenerzähler der Baby Boomer, die in den 80ern begannen, neue Geschichten vom Erwachsenwerden zu erzählen so, wie sie es erlebt hatten. Und vieles ihrer Erzählkunst vom „Zauberer von Oz“ abschauten oder darauf verwiesen.

Heraus kamen unzählige Verweise, kleine und große Echos aus Oz: Folgen der Serie Lost mit Titeln wie The Man behind the curtain, die mit Motiven aus dem Film arbeitet, Stephen Kings Roman Glas,  „David Lnychs Lost Highway, Figuren und Motive aus Star Wars, Dorothys rote Schuhe, die ständig wiederkehren – es gibt unzählige Zitate und Bearbeitungen, es gibt Motive die sich schon längst verselbständigt haben, das Land Oz als Metapher für einen fantastischen Fluchtpunkt, und Hexen, beispielsweise, sind auch erst seit dem Film traditionell grün. Tatsächlich muss man den Film gar nicht gesehen haben um die Verweise zuordnen zu können. Es gibt mehr Interpretationsansätze, als man zählen könnte und sogar eine urbane Legende, die besagt, dass Pink Floyds Dark Side of the Moon perfekt auf den Zauberer von Oz passt.  Man muss das Album nur zum dritten Brüllen des MGM-Löwen starten.

Das alles heißt nichts als: Der Film Der Zauberer von Oz ist nicht einfach nur ein Film, es ist auch nicht einfach nur einer der meistgesehenen Filme überhaupt. Es ist ein Geschichte, um die herum sich viele andere Geschichten auffalten, Echos in der Popkultur, die durch jedes Medium hindurch zu hören sind. Und die, im Kern, ganz tief unten, Erinnerungen an gemütliche Familienabende sind, an gemeinsam gesungene Lieder, an Vorfreude, ans Staunen über eine Welt, die plötzlich bunt wurde, die immer da war, immer blieb, und immer wiederkehrte. Es hängt so viel an Erinnerung daran, wie ein vertrauter vertrauten Geruch oder die ersten Tönen eines halb vergessenen Liedes aus der Kindheit, Erinnerung, die sich im Spiel mit Zitaten, Symbolen, Verweisen und Nacherzählungen mittlerweile verselbstständigt hat. Das Land Oz ist schon längst nicht mehr irgendwo hinter dem Regenbogen – um es zu finden, muss man sich nicht gleich von einem Tornado wegpusten lassen. Das geht auch einfacher. Denn Oz ist für den, der anfängt es zu sehen, überall.

Bildquellen

  • Wicked_Witch2: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wicked_Witch2.jpg#/media/File:Wicked_Witch2.jpg