10 Songs, die man im Jahr 2021 gehört haben sollte

Noch schnell hören um mitreden zu können: Die besten Songs aus dem Jahr 2021, für euch zusammengestellt.

Das Jahr 2021 ist vorbei: und ja! Auch in diesem Jahr gab es viele tolle Musik, großartige Songs, wunderbare musikalische Momente. Mirko Wenig schaut auf seine Lieblings-Popsongs des Jahres. Songs, die catchy, eingängig, originell sind: und eher nicht im Formatradio zu hören gewesen waren. Und: Die gehen auch 2022 noch gut ins Ohr.

Black Sherif: „First Sermon“

Yo Freunde, wir schauen zu viel auf hiesige Hitparaden. Und vermissen das, was abseits der üblichen Hörgewohnheiten die globale Community im Sturm erobert. So wie „First Sermon“ von Black Sherif: ein 19jähriger Rapper aus Ghana, der einfach in diesem Jahr zwei der besten und infektiösesten Songs ever veröffentlicht hat. Trap meets Afro-Funk meets Pop: Vielleicht hat man das in dieser Mischung noch nicht gehört. Und es ist großartig! Catchy, eingängig, dringlich. Ein Song über Schmerz und persönliche Niederlagen: und den Weg daraus. Und wie der „Raging Storm“, der im Refrain über den Hörer hereinbricht, hat Black Sherif vielleicht sämtliche Genre-Grenzen niedergerissen. In Europa hat das leider keiner gemerkt, in Westafrika hat er mehr als 2,3 Millionen Klicks. Ja, Fuck: Hört doch einfach das ABBA-Comeback-Album! Ist ja auch okay. Aber hier findet die Zukunft des Pop statt. Und es ist gut zu wissen: Hierfür braucht es das Airplay in Europa und in den USA nicht. Ghana hat in Sachen Digitalisierung Deutschland ohnehin längst abgehängt: weniger Funklöcher. Und hat im Zweifel auch die besseren Rapper! Kein Scheiß, ist so. Bitte spielt diesen Song auf jeder Hip-Hop-Party.

Tori Amos: „Spies“

Mein Gott, was waren wir damals alle verliebt in Tori Amos! Damals, als sie mit tief ausgeschnittenem Dekolleté vor ihrem Bösendorfer saß, über erotische Abgründe sang und manch Machismo-Song (Slayer! Eminem!) mit eigenen Interpretationen in ihre Eingeweide zerlegte. Muss in den 90er Jahren gewesen sein. Das war gut, das war ungewöhnlich, subversiv: und sexy. Nun behaupten manche, dass Amos mittlerweile, als Mutter einer erwachsenen Tochter, aussieht wie ihre eigene Großmutter. Große Brille und so. Das ist natürlich sexistischer Bullshit! Wir sind noch immer verliebt in Tori. Und allen Spöttern, die behaupten, sie hätte lange schon nichts mehr Relevantes abgeliefert, haut sie ihr neues Album Ocean to Ocean um die Ohren. Das ist gut, das knüpft an ihre besten Zeiten an. Mit einer Band eingespielt, manchmal überraschend rockig, präsentiert uns die Diva der subversiven Sexyness: ein Album voller bewegender Momente. „Spies“ ist die Single: Was man heute eben noch so Single nennt. „Du siehst ein Erdferkel in der U-Bahn / Dann auf der Brücke, unter dem Turm/ In Spritzern mit einem karierten Regenschirm / Es scheint, er ist nur ein gut gekleideter Kerl / Spione / Ja, das stimmt: Spione!“, singt Tori. Noch immer kryptisch. Da ist Sexyness, Abgründigkeit, Boshaftigkeit: Wir fühlen uns an Boys for Pele erinnert, jenes Album, auf dem Tori im Inlay ein Ferkelchen säugte. Skandal! Und es hilft doch nichts: Wir sind immer noch verliebt in diese Frau. Und unsere Liebesbriefe bleiben unbeantwortet.

The War on Drugs: „I Don’t Live Here Anymore“

Lasst uns hier bitte mal den vermeintlich größten Langweiler aller Zeiten küren. Und ja: „den größten“ bitte doppelt und dreifach großgeschrieben, denn „groß“ meint auch „großartig“. Adam Granduciel von The War on Drugs! Ich kenne ja die Einwände: Bob-Dylan-Epigone. Ausufernde Songs, die im Nichts enden. Im Zweifel: Klingt wie die Dire Straits. Und nichts, wirklich NICHTS daran ist wahr.  Adam Granduciel hat längst seinen eigenen Klang-Kosmos erschaffen. Adam Granduciel ist Adam Granduciel. Ein Melancholiker, der davon lebt, dass seine Songs bis ins letzte Detail austariert sind: Indie-Pop, perfekt produziert, mit viel Hall und Raffinesse. Stimmt alles, verdammt: Es stimmt alles! Adam Granduciel ist der Mark Knopfler der Neuzeit.

Aber dann sind da diese Songs. Und die sind eben anders: melancholisch, berührend, traurig: sensibel. The War on Drugs sind die Kuscheldecke, die dich einlullt, wenn alles im Leben vergeblich scheint. Und das konnte Mark Knopfler eben nicht. Da war nicht diese Selbstspiegelung, diese Vergeblichkeit. Und da sind wir auch schon beim neuen Album: I Don’t Live Here Anymore. Ein Album, das sich anfühlt wie ein verlassener Raum, wenn alle, die hier lebten, gestorben sind: Oh, welche Verzweiflung! Welch Trost! Und dann schält sich diese Single heraus: eben „I Don’t Live Here Anymore“. Ein bittersüßer Song, für den sich Granduciel die Unterstützung  der New Yorker Indie-Pop-Band Lucius gesichert hat: Zwei Sängerinnen, die diesen Song nicht bittersüßer hätten interpretieren können. Welche Tiefe! “Is life just dying in slow motion / Or getting stronger everyday?”, singt Granduciel. „We’re all just walkin‘ through this darkness on our own“, singen die Girls. Wir alle sind gezwungen, die Dunkelheit allein zu durchschreiten: Man würde dem Song viel an existenziellem Ernst nehmen, würde man die Zeile auf den Corona-Lockdown beziehen. Hier geht es um alles: Um die Frage, wie man als Mensch bestehen kann. Und das kommt in überlebensgroßen, bittersüßen Harmonien daher. Einer der besten Songs des Jahres!

Steven Wilson: „Personal Shopper“

Whoa: Wenn du Elton John für ein Gast-Feature gewinnen kannst, dann mach das Beste draus! Und lass ihn dir um Himmels Willen nicht die Show stehlen: Weil er immer noch singen kann wie ein junger Adonis, als Songwriter ohnehin erhaben ist (Erinnern wir uns noch an „Sorry seems to be the hardest word“, 2002 interpretiert von der Boy-Group Blue? Elton Johns Gast-Gesang ist leider der beste Part dieser Neuinterpretation: Er zeigt den jungen Mädchen-Schwarms, wie man Gefühl in eine schaurig-traurige Ballade übersetzt!). Und dann kommt der knurrige Brite Steven Wilson daher, der ebenfalls für seinen Song „Personal Shopper“ Elton John gewinnen konnte. Und was macht er? Elton singt nicht. Er spielt kein Piano. Er liest auf diesem Song einfach eine Einkaufsliste vor. Eine EINKAUFSLISTE!

Und ja, das funktioniert. Steven Wilson, mit seiner Band Porcupine Tree früher als Pink-Floyd-Epigone abgetan, liefert hier einen bittersüßen Pop-Song ab, der es sich zwischen 80s-Wave, Soul und Prog-Rock gemütlich macht. Das ist tanzbar, das ist catchy: Der Frauenchor im Refrain tönt süßer als eine Sacher-Torte. Wenn das Klischee ist, dass Altrocker nicht tanzen können: Sollten sie es zu diesem Song zumindest einmal versuchen. Mit Falsett-Gesang rettet der 54jährige (und vermutlich ziemlich hüftsteife) Wilson nebenbei den Retro-Disco-Sound. Natürlich können wir uns vorstellen, wie John Travolta (auch nicht mehr der Jüngste!) hierzu im weißen Anzug und mit Schlaghose unter der Disco-Kugel tanzt. Wenn denn die Rheumasalbe wirkt. Tolle Nummer, die eben das Feature des Jahres zu bieten hat: Elton John liest eine Einkaufsliste vor.

Nikita Kering: „Better than Ever“

Whoa, waren wir gerade in Westafrika? Yo, dann lasst uns doch bitte DAS HIER mal versuchen: Nikita Kering mit „Better than Ever“. Ich weiß ja: Ihr habt alle auf das neue Album von ADELE gewartet. Und ich mag sie ja auch: Überlebensgroße Power-Balladen, zu denen man einfach herrlich kuscheln und -nun ja- vermutlich auch vögeln kann. Aber hier ist Nikita: zarte 19 Jahre jung, wieder aus Kenia: Sie schreibt ihre eigenen Songs mit. Und die sind einfach groß, überlebensgroß: eben mächtige Power-Balladen. Auch „Better than Ever“ ist ein wunderbarer Ohrwurm. Der berührt, der dich in deinen süßesten Träumen verfolgt. Bitte bitte: Lasst das einen weltweiten Hit sein! Besser kann man das nicht singen, kann man das nicht machen: Das hier ist echt ADELE-Niveau. Kein Widerspruch! Das hier ist eine ganz bezaubernde Interpretin: und findet sich absolut zurecht auf Rang fünf der besten Pop-Songs ein. Schon 2020 erschienen? Egal! Im Lockdown ist Zeit relativ.

Christin Nichols: „Today I Choose Violence“

Gehen wir zurück nach Deutschland: zu Christin Nichols. Sie ist bisher eigentlich als Schauspielerin in Serien und Fernsehfilmen bekannt. Und liefert nun einen der besten -teilweise- deutschsprachigen Indie-Pop-Songs des Jahres. Darin bürstet sie so ziemlich jedes Klischee, das man von besorgten Männern bei Twitter und Facebook zum Thema Gender und Sexismus lesen kann, gegen den Strich. „Muss es jetzt eigentlich Frau*innen heißen?“ Oder: „Ja, dann denk mal drüber nach, was du für Signale sendest, wenn du dich so anziehst!“ Einst schrieb die Hardcore-Katholikin Birgit Kelle zum Thema sexuelle Belästigung: „Dann mach doch die Bluse zu!“ Als wenn ein sexy Outfit Berichtigung dafür wäre, dass Männer gaffen, grapschen und vergewaltigen dürfen.

Christin Nichols kennt da nur einen Ausweg: „Today I choose Violence!“ Für unqualifizierte Kommentare gibt es eben ordentlich aufs Maul. Ich sehe schon, wie die BILD-Redaktion in ihrem neuen TV-Format Viertel vor Acht darüber diskutiert: „Darf man sich so ausdrücken? Sollte man die Sorgen der Bürger nicht ernst nehmen?“ oder alternativ: „Gibt es Rassismus gegen Weiße? Ich fühle mich als Mann Mitte 50 diskriminiert!“ Dafür gibt es natürlich auch aufs Maul. Das alles packt Nichols in herrlich schlechtgelaunten, aber dennoch verführerisch klingenden Gitarren-Pop. Sprechgesang in der Strophe: im Refrain sehen wir uns an britischen Wave-Rock erinnert, Smiths-Gitarren inklusive. Und die leider völlig vergessenen, brutal unterbewerteten Kanadierinnen von The Organ klingen auch durch. Das komplette Album ist am 21.1. erschienen. Also: Hören! Und aufs Maul!

Marioo – „Beer Tamu“

Ach Afrika, Du killst mich! Ich weiß ja: „Africa Is Not a Country!“. Und da ist viel Musik, die ich eigentlich hassen will: Autotune, Rolex und Luxuswagen. Gelingt mir nicht. Weil dann plötzlich so ein cooler Banger wie „Beer Tamu“ von Marioo um die Ecke kommt: wieder so ein infektiöser Pop-Song, und du denkst: Ja klar, wäre absolut plausibel, wenn das den europäischen Acts den Rang ablaufen würde. Ist eben sexy, cool, ansteckend: auch, weil der Trap hier in Richtung Afro-Beat abbiegt, die Stimme zwischen Rap und einschmeichelndem Gesang (Youssou N’Dour) pendelt. Und ein cooles Video, das mit den übrigen Afro-Klischees aufräumt. Kein Ghetto, nicht Ackerbau und Viehzucht: stattdessen die junge, coole Start-up-Szene, Digitalisierung, die eben in Afrika auch präsent ist. Schöne Menschen in eleganten Business- und Streetstyle-Anzügen. Und Girls, die in Schuluniformen tanzen. Yo: das Silicon Valley von Westafrika braucht futuristischen, minimalistischen Pop. Den bekommt Ihr hier. 

Nestor: „On the Run“

Ein anderes Jahrzehnt: Pornoschnauzer, eine dicke Silberkette um den Hals, Wuschelfrisur und ein Vokuhila, auf den jeder Mantafahrer in den 80ern stolz gewesen wäre. Genau, die 80er! Bitte zieht jetzt mal alle Eure Aerobic-Einteiler an, nehmt das Schweißband über die Stirn und hängt das Jane-Fonda-Poster wieder auf. Denn, falls Ihr es noch nicht gemerkt habt: Es gibt ein 80s-AOR-Rock-Revival! Songs, die locker im Soundtrack von Baywatch oder Knight Rider laufen könnten. Oder bei Rocky, Teil 3. Die catchy sind, unverschämt eingängig: dennoch virtuos, mit tollem Gesang und knackigen Soli. Und da wären wir bei den Schweden von Nestor. Keine andere Band hat das in diesem Jahr so gut hinbekommen wie die Band aus Falköping auf ihrem Debüt Kids in a Ghost Town.

Was das Image angeht, ist hier alles drüber. Macker mit fetten Brillen und Bärten. Man mimt den Kleinstadtrebellen, auf jeder Bad-Taste-Party wäre ihnen der Preis für das beste Kostüm sicher. Auf einem Plakat der Band sitzt einer der Musiker, vermutlich in seinen 40ern, auf einem viel zu kleinen Klappfahrrad, das ordentlich aufgepimpt wurde. Er trägt ein gelbes Basecap, Sonnenbrille, Fuchsschwanz. Er ist zu groß und zu unförmig für dieses Gefährt. Und Ihr merkt schon: ganz ernst nehmen die sich nicht, hier wird die Retro-Fönfrisur als Perücke mit einem Augenzwinkern präsentiert. Ganz ernst ist aber die Musik. Das sind liebevoll inszenierte Hardrock- und Metalpop-Nummern, mit zentnerweise Hooks und hitverdächtigen Refrains, dargeboten von einem fantastischen Sänger, der selbst schwierigste Harmonien mit seiner hohen Stimme spielerisch meistert. Fanfarenhafte Keyboards, treibende Gitarren. Und doch Pop-Appeal en masse. Der Beleg? „On the Run“, die erste Single. Wer den Hard Rock der 80er für tot erklärt hat, sollte ihn spätestens 2021 wiederbeleben. Das musikalische Pendant zu Stranger Things.

Girl Ultra: „Rosas“

Moment, haben wir schon in Lateinamerika vorbeigeschaut? Keine Sorge: Wir sind nicht auf der Suche nach dem neuesten Sommerhit. Der Song „Rosas“ von Girl Ultra aus Mexiko Stadt klingt stattdessen wie der Soundtrack zu einem nostalgischen, melancholischem Arthouse-Film. Hier gibt es spanische Gitarren, Bolero in seiner herzzerreißendsten Form: aber ohne Sentiment, auch jede Menge Soul und eine tiefe, erotische Stimme, die Erinnerungen an Sade wachruft. Das ist kein Song, der gleich beim ersten Mal zündet, sondern auf einer Loggia sitzend bei einem Glas Tequila erlitten werden will. Es geht um Abschied, und um den vergeblichen Versuch, für jemanden Worte zu finden, nachdem man weiß, dass die Beziehung eigentlich gescheitert ist. Es geht um Schmerz und Verletzungen. Das alles wird so sanft und verführerisch präsentiert, wie Musik nur sein kann. Hinter Girl Ultra verbirgt sich die 26jährige Musikerin Mariana de Miguel, die viele Songs bisher in EP-Form veröffentlicht hat: Reminiszenz vielleicht an die Spotify-Streaming-Gemeinde. Aber selten kam Musik, die auf neue Hörgewohnheiten zugeschnitten ist, so stylish, so elegant und so reif daher.

Edis – Arıyorum

Okay, lasst uns fix noch einen Abstecher nach Istanbul machen. Dort lebt der in London geborene Musiker Edis Görgülü, der mit „Arıyorum“ vielleicht doch den besten Sommerhit des Jahres veröffentlicht hat, den keiner kennt. Eine süße Pop-Nummer mit folkigen Einflüssen, eine tanzbare, aber schmerzhafte Ballade. Nicht mehr und nicht weniger. Dass dieser Song hierzulande nicht ganz groß abgeräumt hat, liegt vielleicht doch an dem leicht schrägen, zunächst gewöhnungsbedürftigen Refrain. Welcher kein Problem ist: Trägt eben dazu bei, dass wir es doch nicht mit einem X-beliebigen Song für die Tanzbar der Großraum-Disse zu tun haben. „Weißt du, was es bedeutet, ohne dich zu leben? Ich brenne: Ich brenne wie die Zigaretten im Aschenbecher!“, fleht Edis, ein Song über Verlust und Verlassenwerden. Es ist ein gelungener Pop-Song, nicht mehr und nicht weniger. Aber einer mit mehr als 51 Millionen Klicks. Und wieder haben wir hier in Deutschland einen potentiellen Kult-Song einfach mal komplett verpennt: die türkische Community weiß es hoffentlich besser.

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