Deutsche Ängste: Inflation

Jedes Mal, wenn die Inflation um ein halbes Prozent steigt, fällt irgendwo eine deutsche Eiche um. Mika Doe über die deutsche Angst vor der Inflation.

Ich weiß es noch, als sei es gestern gewesen. Wir schreiben das Jahr 1920, kurz nach dem Ende des ersten Weltkriegs. Mein Ur-Großvater rief seiner Frau Gertraud zu: „Ich geh jetzt Brot holen!“ Und Gertraud rief zurück „Aber natürlich Hans! Holst dir das Geld aus der Scheune, gell?“ Und Hans nahm seine Schubkarre und seine Schaufel und ging zur Scheune. Dort lagen zwischen den Kühen und den Hennen bergeweise Reichsmark und Hans schaufelte nicht ein, nicht zwei, nicht drei-mal in seine Krupp-Schubkarre. 5-mal schaufelte er und zog los mit seinem Karren in die Stadt. Für 500 Millionen Reichsmark erstand er ein halbes Laib Brot und zwei Eier, die Gertrud und ihm als recht bescheidenes Mahl gereichten. Doch am nächsten Tag schaufelte er nicht fünf-mal, sondern sechs-mal und am Tag danach sieben-mal und so ging es stetig immer weiter. Dann kamen die Nazis.

Ich weiß es noch, als sei es gestern gewesen. Meine Großeltern waren dabei die Trümmer des Krieges wieder anständig zu verräumen und sich langsam von dem Schock zu erholen. Diesmal gab es keinen Versailler-Vertrag (der ja eigentlich Mitschuld an allem trug), sondern einen ordentlichen Marshall-Plan. Endlich! Da war sie, unsere eigene Währung: stark wie die Deutsche Eiche, stabil wie die Regierung Adenauer und makellos wie unsere Demokratie. Endlich eine Münze, die des Sammelns würdig war. Doch da kamen die Ossis mit ihrer Wende und wollten ihre Aluchips 1:1 gegen unsere Deutsche Mark tauschen. Oben war unten und Ost war West und meine Eltern wussten nicht mehr, wie viel das eigene Geld noch wert sein würde.

Ich weiß es noch, als sei es gestern gewesen. Strahlend und unbekümmert hielt ich den neuen Schein in den Händen, den meine Eltern mir geschenkt hatten. Er sah so hübsch und frisch aus und hieß Euro. Ich war erst elf Jahre alt, aber werde nie vergessen, wie viel dieser 5 Euro Schein Wert war: 10 Mark.

Das deutsche Volk betrauerte den langsamen Werteverfall der D-Mark (obwohl niemand sie mehr benutzte) und ich trauerte mit. Doch irgendwann realisierte man, dass sich die Menschen trotz der der Umstellung auf den Euro noch die gute Rama leisten konnten. Ein Höllenschlund hatte sich nicht aufgetan, Brot wurde nicht karrenweise bezahlt und die Nazis waren auch nicht zurück. Also gewöhnte ich mich wohl oder übel daran, dass eine Kugel Eis nun 2 Mark kostete.

Wenn das Wort Inflation fällt, zucken die Deutschen zusammen. Jedes Mal, wenn sie um ein halbes Prozentsteigt, fällt irgendwo eine Eiche um und ein Deutscher hat Angst um seine Margarine. Im Keller stehen die Schaufeln und die Schubkarren bereit, falls wir wieder teures Brot kaufen müssen.

Bildquellen

  • Bundesarchiv_Bild_102-00134,_Berliner_Tageszeitung_zur_Geldentwertung: Bild: Bundesarchiv