Ein Mörder, kein Held

Gerade ist im Goldmann Verlag das Buch Der Todespfleger über den Fall Niels Högel erschienen, den Krankenpfleger, der mindestens 91 Menschen ermordet hat. Martin Spieß hat es gelesen.

Wäre der Fall Niels Högel ein Spielfilm, man würde ihn für unrealistisch halten. Wie oft da geschwiegen, nicht gehandelt, nicht ermittelt wurde, das wirkt beinahe surreal. Aber der Fall Niels Högel war nur allzu real: Der Krankenpfleger wurde in mehreren Prozessen schuldig gesprochen, insgesamt 91 Menschen ermordet zu haben. Jetzt ist ein Buch darüber erschienen, das den Fall nacherzählt und die Opfer, die Ermittler*innen und die Politik zu Wort kommen lässt. Es heißt Der Todespfleger.

„Karsten Krogmann und Marco Seng waren hautnah an den Ermittlungen gegen den Todespfleger beteiligt und verdichten die verschiedenen Handlungsstränge zu einem fesselnden Krimi“, heißt es etwas reißerisch auf dem Klappentext.

Reanimieren, um sich als Held zu feiern

Es ist allerdings bezeichnend, dass sich der Fall erst in der Rückschau so „fesselnd“ liest, denn lange war es gar kein Fall. Högel, 1976 in Wilhelmshaven geboren, fängt 1999 im Klinikum Oldenburg an, als Krankenpfleger zu arbeiten – und beginnt fast augenblicklich damit, Patient*innen ohne Erlaubnis Medikamente zu spritzen, um sie anschließend reanimieren und sich als Held feiern zu lassen. Ein Held, das wird am Ende klar, ist Högel nicht. Er ist ein Mörder.

Die vielen Reanimationen und Todesfälle fallen auf, Högel wird intern versetzt, schließlich mit gutem Zeugnis aus Oldenburg weggelobt. Die Klinik will keinen Skandal, Högels Taten werden verharmlost, es gebe keine Notwendigkeit, die Ermittlungsbehörden einzuschalten.

Högel darf weiter manipulieren, weiter morden. Erst im Juni 2005 – Högel arbeitet mittlerweile im Klinikum Delmenhorst – wird er auf frischer Tat ertappt, obwohl vorher schon Kolleg*innen reden und sich über ihn wundern, obwohl der Verbrauch eines Herzmedikaments, das Högel zum Manipulieren und Morden verwendet, plötzlich sieben Mal höher ist. Auch hier wird weggesehen.

Unglaubliche Geschichte, sachlich und unaufgeregt erzählt

Die Ermittlungen laufen schleppend, Högel darf noch einmal in zwei Altenheimen arbeiten, bis er schließlich vor Gericht und in Haft kommt.

Karsten Krogmann und Marco Seng, die den Fall für verschiedene Medien verfolgt haben, erzählen diese im Wortsinn unglaubliche Geschichte nun nach: Sachlich und unaufgeregt, anders als es der Klappentext vermuten ließe. Sie lassen die Fakten sprechen, zählen die Versäumnisse auf, das Schweigen, die stockenden Ermittlungen – und die schiere Unglaublichkeit der Geschichte erzeugt ungeheure Wucht. Die Ohnmacht der Angehörigen wird erfahrbar, die Fassungslosigkeit der Richter, die Anstrengungen der Ermittler*innen. Besonders eindringlich schildern sie, wie lange es dauert, bis wirklich etwas passiert im Fall Högel: Bis endlich richtig losermittelt wird, bis Leichen exhumiert werden, wie lange Angehörige auf Antworten und Gerechtigkeit warten müssen. Wie sehr einige von ihnen noch heute darunter leiden, dass man ihnen anfangs nicht geglaubt hat – oder dass Högel im Fall des Todes ihrer Angehörigen freigesprochen wurde, sie also nie eine Antwort erhalten werden.

Wenn die Prozesse am Ende auch nicht alle Fragen beantwortet haben, so ist doch klar: Karsten Krogmann und Marco Seng ist mit Der Todespfleger ein glänzendes Stück aufklärerischer Journalismus gelungen. Man kann nur hoffen, dass es dazu beiträgt, dass sich ein solcher Fall nicht wiederholt.

Karsten Krogmann, Marco Seng: Der Todespfleger
Goldmann, 2021
320 Seiten
15 Euro