„Ein Hoch auf uns“: Durchhaltemusik, der Cheatcode für die Wirklichkeit

Deutschsprachige Texte klingen immer häufiger nach Nostalgie und einfachen Welterklärungen. Kurz: Die neue deutsche Durchhaltemusik ist da.

Wer in den letzten Jahren häufiger Radio gehört oder die Charts verfolgt hat, wird immer häufiger einer deutschsprachigen Musik begegnet sein, die von Nostalgie, Eskapismus und Einheit erzählt. Wir finden diese „Durchhaltemusik“ unangenehm – und bisweilen gefährlich.

Wir haben früher geschwor’n
Wir schwör’n uns ewige Treue
Vergolden uns diesen Tag
Ein Leben lang ohne Reue,
vom ersten Schritt bis ins Grab.
Auf Uns – Andreas Bourani

Das ist der Text von Andreas Bouranis WM-Hit Auf Uns (80 Wochen in den Charts, davon 19 in den Top 10), in dem er, durch den damaligen zeitgeschichtlichen Kontext aufgeladen, eine Zeit behauptet, die perfekter nicht sein könnte. Die zeitliche Korrelation mit dem Sieg der deutschen Nationalmannschaft im Sommer 2014 hat das Lied maximal überhöht, und dadurch auch den Sieg der Nationalmannschaft. Diese Überhöhung ist zwar zur Zeit durch den FIFA-Skandal etwas gedämpft, aber Bouranis Einigkeitshymne strotzt vor Zuversicht über das hier und heute und ist ein gern gespielter Titel bei quasi allen feierlichen Ereignissen – vom Formatradio mal ganz abgesehen. Zwei Jahre zuvor erschien Altes Fieber von den Toten Hosen. Ein Lied, das sich bedingungslos nach Vergangenheit sehnt. So sehr, dass es einem kalt den Rücken herunterläuft.

Und immer wieder
Sind es dieselben Lieder
Die sich anfühlen
Als würde die Zeit stillstehen
Denn es geht nie vorüber
Dieses alte Fieber
Das immer dann hochkommt
Wenn wir zusammen sind
Wir stoßen an
Mit jedem Glas
Auf alle, die draufgegangen sind
Altes Fieber – Die Toten Hosen

Aber was ist so schlimm an den musikgewordenen Durchhalteparolen und der hilflosen Nostalgie? An einer Geisteshaltung, die in Fußballstadien, in Bars und Wohnzimmern gern laut mitgesungen wird?

Sie werden auch von Menschen konsumiert, die in komplizierten Situationen lieber eine einfache Antwort möchten als eine ehrliche Auseinandersetzung mit höchstwahrscheinlich nicht eindeutigem Ende. Die Aussicht, dass eigentlich gar nichts eindeutig und einfach ist, ist diesen Menschen offenbar unangenehm. Die Songtexte dieser Musik spiegeln dieses Bedürfnis wider: Es wird ein diffuses „Früher“ herbeigesungen – weil die Regeln da angeblich klar waren, genauso wie die Liedermacher ihren Hörern ein simples „Einfach mal stolz sein“ lieber anbieten als Karten mit zwei Seiten. Statt Optionen gibt es Spiel-, Denk- und Fühlanweisungen, A-B-C. Dass eine reflektierte Haltung sich selbst und der Welt gegenüber Dinge wie „Gönnen können“ oder eine „gute Zeit“ keineswegs ausschließt, wird dabei übersehen. Um „Gönnen“ und „Gutes“ geht es dann eigentlich auch gar nicht – eher darum, einer Auseinandersetzung mit eigener und fremder Inkonsistenz effektiv auszuweichen. Quasi geistige Entspannung für immer, ohne nervige Rückfragen.

Wenn es denn mal zu Überschneidungen mit gesellschaftspolitischen Fragen kommt bleibt, es anschlussfähig, pauschal und plaktiv:

Im Dunkel der Nacht
Hier oben ist alles so friedlich, doch da unten geht’s ab
Wir alle tragen dazu bei, doch brechen unter der Last
Wir hoffen auf Gott, doch ham‘ das Wunder verpasst
Wir bauen immer höher, bis es ins Unendliche geht
Fast 8 Milliarden Menschen, doch die Menschlichkeit fehlt
Von hier oben macht es alles plötzlich gar nichts mehr aus
Von hier sieht man keine Grenzen und die Farbe der Haut
Dieser ganze Lärm und nichts verstummt, ich hör‘ euch nich‘ mehr
Langsam hab‘ ich das Gefühl ich gehöre hier her
Es gibt kein vor und kein zurück mehr, nur noch unten und oben
Einer von hundert Millionen, ein kleiner Punkt über’m Boden
Astronaut – Sido & Andreas Bourani

An sich ist erst einmal nichts Schlimmes daran zu finden, sich der Auseinandersetzung „mit Welt“ temporär zu entziehen. Es gibt da nur zwei Knackpunkte:
Der Vorteil der einfachen Erklärung für einen selbst geht oft auf Kosten von anderen – akut gerade auf die Kosten von Minderheiten, die zusammen eine Mehrheit sind. (Oder, wie im Fall von Frauen, auf Kosten einer Mehrheit. Wer gegen Feminismus ist und Sexismus albern findet, weil er gar nicht mehr weiß, was er eigentlich „noch darf“ – dem kann man leider keine klare Antwort auf seine Frage geben außer eine Wikipedia-Definition von Sexismus und den Hinweis, dass man, wenn man schon Sprüche vom Leder ziehen will, persönliche Grenzen respektieren sollte, wie bei jedem anderen Menschen auch.)
Was aber wirklich am Wunsch nach einfachen Antworten und Gefühlen stört ist, dass einfache Antworten aus Songs nicht die einzigen sind, die bereitgestellt und konsumiert werden. Die meisten einfachen Antworten kommen aus einer Ecke, die eher unangenehm ist, weil dort „kompliziert“ mit „anders“ gleichgesetzt wird. Oder gar gefährlich, weil dort mit einfachen Antworten Rattenfängerei betrieben wird. Menschen, die gerne einfache Weltbilder aus Liedern mögen, bevorzugen vielleicht auch viel zu einfache Weltbilder im gesellschaftspolitischen Sinne. In jedem Fall ähneln sich die Geisteshaltungen. Grüße nach Sachsen-Anhalt.

Es fährt im Kopf ein Karussell
und alles dreht sich irgendwie zu schnell
die Straßen sind leer und Du bist es auch
als wär‘ das Leben das hier einmal war verbraucht
Als ob dort in der ferne ein weiterer Stern wär‘
Der wie Du so einsam scheint
Doch da sind weit über tausend den geht es genauso du bist nicht alleinDa sind Millionen Lichter in der Welt, Milliarden Farben die leuchten so hell, Millionen Lichter über der Stadt
Sie bring‘ uns sicher durch die Nacht. Da sind Millionen Lichter, siehst du sie nicht
Millionen Gesichter
Wie Du und Ich
Wie Du und Ich
Millionen Lichter – Christina Stürmer

Texte wie diese spiegeln eine einfache, selbstgewählte Opferrolle wider, die gerade Konjunktur hat. „Wir“ als ein hilfloses Opfer von fremden Mächten in der Welt, der Mensch als hilfloses Opfer eines unbegreiflich komplexen Systems und dagegen ein simples Heilsversprechen: Du bist nicht allein, es ist eigentlich alles ganz einfach und früher war alles besser. „Es gibt Millionen Lichter“. Jedes ein Gute-Nacht-Lied für die differenzierte Weltwahrnehmung und eine Affirmation der selbstgewählten Opferrolle. Im gemeinsamen Verlorensein findet man Einigkeit und Versicherung. Am deutlichsten wird der Durchhaltereflex, das Ohnmachtsgefühl und das pseudo-nostalgische Festhalten am „Eigenen“ in einem Lied von Revolverheld, dessen Titel das Alles schon sagt: „Das kann uns keiner nehmen“:

Und in der Kneipe an der Ecke
brennt noch immer das Licht
Wir trinken Schnaps, rauchen Kippen
und verändern uns nicht
Und in der Kneipe an der Ecke
brennt noch immer das Licht, immer das Licht
Und es ändert sich nicht
Das kann uns uns keiner nehmen
Lasst uns die Gläser heben
Die Stadt wird hell und wir trinken auf’s Leben
Das kann uns keiner nehmen – Revolverheld

Ironischerweise wird wohl keiner der Hörer, die sich wie Revolverheld „nichts nehmen“ lassen wollen, erklären können, was genau vom Verlust bedroht ist und wer speziell ihnen etwas nehmen wird.
Dass Menschen zur Erleichterung, Entspannung und Affirmation gerne Musik hören, die ihnen sagt, dass sie heute alle mal ein „Hoch auf uns“ als deutsches siegreiches Volk feiern können – ohne Verpflichtung zur Reue – sei ihnen, wie gesagt, gegönnt. Man muss nicht pauschal die Nazikeule rausholen, wenn sich mehr als drei Deutsche versammeln und singen.
Jeder wünscht sich ab und an einfache Antworten, dann wäre alles nicht so kompliziert und alle Probleme sofort gelöst.

Es muss doch auch anders gehen – so geht das nicht weiter
Wo find ich Halt, wo find ich Schutz – der Himmel ist aus Blei hier
Ich geb keine Antwort mehr – auf die falschen Fragen
Die Zeit ist rasend schnell verspielt – und das Glück muss man jagen
Stadt – Cassandra Steen & Adel Tawil

So einfach ist es aber nun nicht. Es war noch nie einfach oder eindeutig und das wird es niemals werden. Wenn wir aber von allen Seiten mit Durchhalteparolen („Bald wird es einfacher! Gestern war es doch auch einfacher! Eigentlich ist doch alles gut! Hier, nimm ein klar abgestecktes Rollenbild, das hilft gegen den Schmerz!“) vollgejault werden, dann bleibt es einfach, Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Dann bleibt weiterhin das Gefühl, es müsste für alles eine klare Antwort geben. Dann müssen manche Menschen sich nie daran gewöhnen, dass man mit uneindeutigen, fremden und komplizierten Dingen und Menschen umgehen (lernen) muss.

Wir war’n geboren um zu leben
Mit den Wundern jeder Zeit,
Sich niemals zu vergessen
Bis in aller Ewigkeit
Geboren um zu Leben – Unheilig

Komplexität, Widersprüche und Inkonsistenz zu sehen und auszuhalten ist eben Übungssache. Sich darin nicht verloren zu fühlen ist genauso Übungssache. Für sich selber denken ist auch Übungssache. Das Schlimme an dieser „Durchhaltemusik“ ist, dass sie einen Cheatcode fürs Leben verkaufen. Sie bietet vorartikulierte Phrasen für den Ruf nach einer simplen Welt, nach einer verlorenen Unschuld und simplen Freiheit, die es nie gegeben hat in einer Welt, die unglaublich komplex scheint, schon immer war und noch komplexer ist als uns allen lieb ist. Das soll nicht heißen, dass Kategorien wie „Richtig“ und „Falsch“, „Recht“ und „Unrecht“ keinen Wert mehr haben, und manche Medaillen haben tatsächlich nur eine Seite. Es ist nur so, dass, unabhängig wo man die Linien zwischen Kategorien zieht, sie in den meisten Fällen sehr viel diffuser verlaufen als so mancher es gerne hätte.
Vielleicht sind aber auch einfach nur Zeilen wie „Hier geht jeder für jeden durchs Feuer“ in dieser Zeit, diesem Land, auf diesem Kontinent, in dieser Welt ziemlich verlogen.

Wir haben hier übrigens bewusst das Wort „Durchhaltemusik“ und nicht das ähnliche „Durchhalteschlager“ gewählt. Zum einen war der der Durchhalteschlager als Produkt der nationalsozialistischen Propagandaindustrie kontrolliert und gelenkt, also eben nicht aus einem Impuls der Konsumenten entstanden, zum anderen vermittelt er kein Bild von Nostalgie und Einheit, sondern ein Bild von falscher Hoffnung und Erlösung. Das von heutiger erfolgreicher deutschsprachiger Popmusik vermittelte Gefühl findet sich jedoch früher in der Geschichte trotzdem wieder: Im Schlager der Weimarer Republik.

Irgendwo auf der Welt Gibt’s ein kleines bißchen Glück,
Und ich träum‘ davon in jedem Augenblick.
Irgendwo auf der Welt Gibt’s ein bißchen Seligkeit,
Und ich träum‘ davon schon lange lange Zeit.
Irgendwo auf der Welt – Lilian Harvey (aus Ein blonder Traum, 1932)

 

Hier übrigens noch eine Playlist mit einigen Liedern, die all diese Reflexe bedienen:

Bildquellen

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