Kongress der Zeugen Jehovas: Von Schafen und Ziegenböcken

Unsere Autorin war auf einem Regionalkongress der Zeugen Jehovas in Hannover. In der größten Halle der Stadt.

Die Welt der Zeugen Jehovas ist nicht unbedingt von Artenvielfalt gekennzeichnet: Es gibt Schafe, und es gibt Ziegenböcke. Die Schafe sind die Guten, die Follower, die Ziegenböcke alle anderen. Ich sehe zumindest aus wie ein Schaf: flache Schuhe, bodenlanges Kleid, das problemlos auch als Gardine durchgehen würde, zurückgebundenes Haar, weder Make-up noch Schmuck. Am Eingang der TUI-Arena, an einem leeren Bibelverkaufsstand, nicken mir die beiden Einlasser freundlich zu und überlassen mir eins ihrer Programmhefte: „Bleibe Jehova gegenüber loyal! Kongress der Zeugen Jehovas 2016.“
Außer mir sind an diesem Wochenende 14.000 Menschen nach Hannover zum Kongress gekommen, wahrscheinlich mehr, verteilt über drei Tage. Junge, Alte, viele Kinder, viel Security: Fotografieren streng untersagt! Die Halle ist voll bis unters Dach, die Hitze staut sich, ich muss bis ganz nach oben, um noch einen Platz zu finden. Und sehe mich um in diesem Universum, von dessen Spielregeln ich nur die Klassiker kenne: kein Weihnachten, keine Geburtstage, keine Bluttransfusionen. Ein Pärchen mittleren Alters nickt lächelnd herüber, ich nicke zurück: Spiegelneuronen, bitte verlasst mich jetzt nicht.

„Was für Bücher?“ fragt Sergej

Ein Film wird gezeigt, vielmehr: eine Sequenz. Ein junger Mann namens Sergej trifft sich mit seinen Freunden, wie er Zeugen Jehovas, in einer Wohnung. Offenbar werden sie verfolgt: Sie flüstern, dann tauchen plötzlich Männer in SS-ähnlichen Uniformen auf und verlangen, dass Sergej ihnen verrät, wo er seine Bücher versteckt hält. „Was für Bücher?“, fragt Sergej. „Stell dich nicht so an“, sagen die Männer, „die Bücher über deinen Gott. Über Jehova.“ Was macht Sergej? Lässt sich lieber von ihnen abführen, als das Versteck und damit natürlich Jehova selbst zu verraten. Ende. Und ein Ausschlag aller Vitalfunktionen dieser sonst so anämisch wirkenden Community – Riesenapplaus.
Displays blinken: Fast jeder hat ein Tablet vor sich, es sind so viele absolut identischer Größe, dass ich zuerst vermute, die werden hier irgendwo ausgegeben. Werden sie natürlich nicht, jeder hat sein eigenes mitgebracht, und zwar nur, um die auf der Bühne zitierten Bibelverse direkt mitlesen zu können. Wer kein Tablet hat, schlägt analog im Buch der Bücher nach.
Auf der Bühne sagt ein junger Mann ins Mikrofon, dass er den Film nicht umsonst gezeigt hat. Sergej sollte uns allen ein Vorbild sein, sagt er. Es sind, sagt er, „oft die scheinbar so harmlosen Kleinigkeiten, die uns vom Weg abbringen wollen. Selten ist es ja etwas so Ungeheuerliches wie ein Pornofilm, das uns vergiftet.“ Schon ein Bild in einer Modezeitschrift kann ausreichen, die Einladung eines Kollegen zum Feierabendbier, ein scheinbar gutes Buch. Die ganze Welt steckt voller Ziegenböcke. „Wir müssen versuchen, nicht zuviel Kontakt mit ihnen zu haben.

Die Möhre an der Angel

„Gummibärchen?“, fragt die Frau neben mir und öffnet den blauen Deckel einer Tupperschale. Ein süßlicher Geruch macht sich in der Hitze breit. „Ach“, sage ich, „im Moment grad nicht, vielen Dank.“ Gummibärchen gehen also, Gummibärchen stehen nicht auf dem Index einer sicher sehr langen Liste verbotener Dinge bei den Zeugen Jehovas. Sogar Coca-Cola geht, sehe ich zwei Reihen vor mir, wer hätte das gedacht.
Wem ich begegne, der lächelt mich an. Plötzlich bin ich mittendrin, wortlos aufgenommen in eine Gemeinschaft, die mich, weil einen ja immer alles an etwas erinnert, an meine Kindheit erinnert, an die Zeit in der Pionierorganisation Ernst Thälmann in Deutschlands Osten. Da wie hier ein strenges Regelwerk, eine gleichgeschaltete Community, die ihre Mitglieder lobt und straft und ihnen ständig Helden wie Sergej präsentiert, was zum Nacheifern, die Möhre an der Angel. Ich weiß, dass es sich gut und geschützt darin lebt. Solange man Schaf ist. Solange man es okay findet, in einem Schwarzweißfilm zu leben. Seine Härte zeigt das System erst, wenn man es verlassen will.
Draußen scheint die Sonne an diesem Tag, auch um 16.50 Uhr, als die Veranstaltung, exakt wie im Programm angekündigt, zu Ende ist. In allen Wellenlängen des sichtbaren Bereichs.

Bildquellen

  • 13815213_1232732896737378_1318431856_n: Kathi Flau