The sun always shines on tv

The sun always shines on TV: Was macht eigentlich…? – MTV

Mathias Mertens gehörte zu den deutschen MTV-Zuschauern der ersten Stunde. In seiner Kolumne beschreibt er was MTV für ihn war bis es verschwand. Folge #25 (8. April 2001)

Früher war alles besser. Da konnte man sich bei ZAK unterhaltsam informiert fühlen, bei 0137 Leuten beim informativen Unterhalten lauschen und bei Schmidteinander sich über das Unterhaltsame informieren. Da moderierte noch Hanns-Joachim Friedrichs die Weltlage und Johannes B. Kerner durfte noch Fußballspiele ansagen. Vor allem aber gab es noch MTV. Nicht, daß es heute kein MTV mehr gäbe, aber „unser“ MTV ist weg. MTV, das war einmal die real-existierende Utopie einer gemeinsamen europäischen Jugend. Bevor es die Aufteilung in Zielgruppensparten gab, schauten wir alle dasselbe Programm in derselben Sprache, der englische Public-School-Schüler, der französische Philosophie-Student, der deutsche Bankkaufmannslehrling, der spanische Landarbeiter, der italienische Informatiker. Alle schauten wir hin und beklagten uns nicht, daß wir Englisch nicht so gut konnten, daß die Musikstile so durcheinander waren oder daß uns die Moderatoren nervten, nein, wir nahmen alle diese Strapazen auf uns, weil es MTV war, das einzig Wahre, weil das einzige Musikfernsehen, das es gab. Wir lernten Englisch. Wir kannten das, was andere gut fanden. Wir wußten, daß auch andere das zu sehen bekamen, was wir gut fanden. Alles war gut.

Ganz besonders natürlich Ray Cokes. Ein Tisch, ein Telephon und ein Kameramann, dazwischen er als Dampfplauderer. Wenn es wirklich so etwas wie interaktives Fernsehen gibt, dann war Most Wanted die bisher beste Annäherung an ein solches Format. Es gab praktisch keinen Inhalt, keine Stand-Up-Routinen waren vorbereitet, keine Pointen zurechtgelegt, Ray Cokes beantwortete einfach nur Telephonate, Faxe, Briefe von seinen Fans aus ganz Europa, die wiederum Fans seiner Beantwortung von Telephonaten, Faxen, Briefen geworden waren. Er zog Grimassen, machte ungläubige Pausen, alberte herum, flirtete mit den Fans und das war es schon. Wenn es keinen Fan-Input von außen gab, dann mußte Kameramann Rob als Adressat herhalten, wenn auch das nichts mehr hergab, richtete er sein Dampfplauderarsenal gegen sich selbst. Das Schöne an Ray Cokes war seine völlige Arglosigkeit. Man hatte das Gefühl, daß nichts von dem, was er sagte und tat, überlegt war, sein Auftreten war bar jeder Reflexion. Was man von Kopien wie Stefan Raabs Vivasion bei der direkten Konkurrenz, dem deutschen Nachfolger Unter Ulmen im eigenen Sender oder Roberto Cappellutis öffentlich-rechtlicher Version Late Lounge nicht sagen kann. Stefan Raab war zu sehr auf sich bezogen und nahm Input nur sehr, sehr selektiv war, Christian Ulmen ist zu kalkuliert und pflegt ein unspontanes Under-Statement und Roberto Cappellutis Sendung sieht zu sehr nach Marke Eigenbau im Partykeller aus.

Am schönsten war Marijne van der Vlugt. Was heute V-Jane heißt, das war Marijne damals bei MTV, zwischen den Videoclips erschien sie, hielt die Arme hinter den Körper, kippte ihren Kopf ein wenig schräg nach vorne und hauchte mit leicht geschürztem Mund die Ansage für den nächsten Clip durch den Äther. Zarte Kleider umwehten sie luftig, ihre dunklen Haare wurden mal in dünne Zöpfe gebunden, mal offen getragen, in ihrem Gesicht waren leichte Sommersprossen auszumachen. Wenn dann der Clip kam, stoppten wir die Aufnahme unseres Videorecorders, Musik interessierte uns nicht, wir wollten eine Kassette nur mit Erscheinungen von Marijne. Auch ihre richtigen Sendungen waren nicht so interessant, da gab es viel zu viel Ablenkung im Vorder- und Hintergrund, außerdem beschäftigte sie sich da mit anderen Leuten und das wollten wir nicht, wir wollten sie in Dreiviertelansicht von vorne, wie sie uns ihre volle Aufmerksamkeit schenkt. Sie war das Pin-up unserer MTV-Zeit. Pip Dann war O.K., obwohl das Girliehafte ihres Auftretens etwas mit ihrer Reife kollidierte. Rebecca war zwar üppig und präsentierte sich auch so, das war uns dann aber schon zu direkt, da hatten wir keine Projektionsfläche mehr. Simone Angel war ein wuselndes Etwas im Technobeat, nichts, was als Sehnsuchtsobjekt gedient hätte. Und Kristiane Backer, nun gut, die bewegte sich zu eckig in viel zu sackartigen Kleidern. Nein, Marijne war die Einzige, die Unnahbare, die Göttin. Sie hörte dann auf, um Musik zu machen. Wir kauften die Platten ihrer Band Salad, gingen in die sporadischen Konzerte in kleineren Schuppen in der Umgebung, wir lauschten angestrengt in ihre Singstimme hinein. Aber die Marijne unserer Fernsehträume konnten wir dort nicht mehr finden.

Einem besonders tragischen Fall kann man gelegentlich im Werbefernsehen begegnen. Da steht ein Mann mit ziemlich grau gewordenen Stoppeln und preist eine dieser CD-Kompilationen an, die es nicht im Handel zu kaufen gibt, sondern das man nur unter dieser Telephonnummer bestellen kann. Eine Liste von Bands der Achtziger Jahre mit ihrem jeweiligen Hit läuft ab, während dazu kurze Ausschnitte von Videos laufen, Duran Duran etwa mit Wild Boys, Kajagogo mit Too shy oder Tina Turner mit Private Dancer. Dazwischen läuft dann auch ein Ausschnitt von Love and Pride der Gruppe King, die angestrengt vor einer Felsenkulisse herumtanzt. Der Sänger kommt einem eigentümlich bekannt vor. Man sieht ihn plötzlich wieder vor sich, wie er kluge Geschichten zu Klassikern der Popmusik erzählt und uns dann so präpariert in die Videovorführung entläßt. Es ist Paul King, der Greatest Hits moderiert. Der Kulturwissenschaftler von MTV, der uns mit all dem Rüstzeug versorgt hat, um heute die 125.000 DM Frage bei Wer wird Millionär zu bestehen, in der nach der einzigen Hitsingle von Katrina and the Waves gefragt wird. Greatest Hits war das Schulfernsehen des MTV-Kosmos. Bei VH-1 gab oder gibt es etwas ähnliches, dort werden die Geschichten allerdings als innerer Monolog eines Marlowe-Verschnitts in einem Film-Noir-Büro präsentiert. Viel zu artifiziell. Der Frontalunterricht von Paul King war viel effektiver. Und je länger man sich jetzt während dieses Werbespots an Paul King erinnert, desto seltsamer mutet einen dieser Grauhaarige in der Werbung an. Bis man endlich erkennt, daß es sich auch bei dieser Figur um eben jenen Paul King handelt. Vom Sänger einer Popgruppe zum Lehrer der MTV-Generation zum Rentner im Werbefernsehen, was für ein Werdegang.

Mit Beavis and Butthead wurde das Musikfernsehen sich seiner selbst bewußt. Ähnlich wie bei Marijne kam es auch hier nicht auf die inhaltsorientierten Passagen an (Sendung dort, Geschichte hier), sondern auf die narrativ völlig unverorteten Kommentierungen von Video vom Sofa aus. Das einzige Element der Sendung, das ihr Schöpfer Mike Judge noch selber zeichnete, nachdem er die Gestaltung der Geschichten an ausgebildetete Animationszeichner übertragen hatte. Bei aller gelegentlichen Kurzweil dieser Geschichten muß man doch feststellen, daß hier strukturell kein Unterschied zu jedem anderen Zeichentrickfilm bestand. Nur die Passagen auf dem Sofa überschritten die Fiktionsebene und vermischten sich mit der Ebene des übrigen MTV-Programms. Sich als Sender MTV über zwei Proleten lustig zu machen, die sich Videos auf MTV anzugucken war von nicht zu überbietender paraliptischer Brillanz. Wenn Fernsehkritiker behaupteten, solche Dauerberieselungskanäle wie MTV würden die Jugendlichen zu einer phlegmatischen Existenz auf der Couchgarnitur zwingen und sie zu blöden Glotzern machen, dann konnte MTV auf Beavis and Butthead zeigen und sagen, daß eine solche Existenz tatsächlich fürchterlich wäre und daß man die Kids mit einer solchen lustigen Aufklärung zu einer viel selbstbestimmteren Lebensweise anhalten würde. Uns Zuschauern gab es die Möglichkeit, durch das Lachen über diese Idioten und ihr beschränktes Leben, uns in der Metaversion von Beavis’ und Buttheads Leben einzurichten. Wir wußten ja wenigstens, daß wir eigentlich ganz anders könnten, unser blödes Glotzen war selbst gewählt und deshalb waren wir keine Opfer. Wenn wir die Videos in demselben Gekrächze wie Beavis kommentierten, dann konnten wir Proll sein ohne es zu sein. Dachten wir jedenfalls. Eine wunderbare Sendung, die dann leider durch tägliches Abgenudel auf verschiedenen Sendeplätzen so arbiträr wurde, daß wir sie nicht mehr rezipieren konnten.

Dann kam der Bruch. Von einem Tag auf den anderen kam MTV plötzlich aus Deutschland. Unsere Gemeinschaft löste sich auf und war wieder in aller Herren Länder verstreut. Irgendwelche Teenager sagten nun deutsche Hiphop-Acts an. Wir Alt-MTVler schalten um, versuchten uns eine Weile lang mit VH-1 und Viva2 über Wasser zu halten, stiegen aber schließlich ganz aus. Wenn wir heute zufällig mal einschalten, sind wir geschockt. Diese Woche konnte man beispielsweise die Moderatorin Anastasia ein T-Shirt tragen sehen, auf das „Sperma enthält Vitamin C“ gedruckt war. Außerdem interviewte sie eine sogenannte Rockgruppe von flaumbärtigen Fünfzehnjährigen, die sich oder ihr Lied, so genau wußte man das nicht, „Ficken“ genannt haben. Was für unmoralische Gören da unser MTV korrumpiert haben. Den größten Schock bekam man aber, als Spermatrophologin Anastasia und die musikmachenden Ficker mit ihren Fans telephonierten. Irgendwie kam man mit einem Anrufer (ca. 14 Jahre alt), auf das Thema Fremdgehen. Anastasia fragte die Ficker, ob sie denn fremdgehen würden, was alle Bandmitglieder verneinten, woraufhin sie sich dem Anrufer zuwandte und ihn todernst ermahnte auf gar keinen Fall fremdzugehen, weil das ein unverzeihliches unmoralisches Verhalten sei. Kein Widerspruch vom 14jährigen, sondern nur eine ehrliche Beteuerung, so etwas niemals zu tun. Da sitzen nun diese ganzen sexbesessenen Kinder zusammen und schmeißen mit Kraftausdrücken um sich, und dann vertreten sie eine rigide puritanische Moral? Irgendetwas kann nicht stimmen. Rockmusik war das Medium des Aufstands gegen die bürgerliche Gesellschaft, freie Liebe war die größte Waffe gegen versklavende Moral, und jetzt sind die Formen geraubt worden, um sie mit den alten Inhalten zu füllen. Wahrscheinlich ist es ihnen noch nicht einmal bewußt. Wahrscheinlich glauben sie, sie wären wirklich anti-bürgerlich. Wahrscheinlich werden sie subtil von ganz oben gesteuert und manipuliert.

Früher war alles besser. Da war das Revoluzzerhafte noch tatsächlich revolutionär. Da hatten spätere Außenminister tatsächlich noch die theoretische Möglichkeit, Molotowcocktails zu schmeißen, weshalb sie sich auch vehement dagegen aussprechen konnten. Da konnten spätere Fraktionsvorsitzende noch mit wehendem Haupthaar auf dem Mokick durchs Dorf fahren und Kneipen von Sozis säubern. Da konnten spätere Innenminister noch richtige Terroristen verteidigen und somit den Beweis liefern, daß vor dem Gesetz tatsächlich alle gleich sind. Da konnten Bundeskanzler noch durch DDR-Spione gestürzt werden, Ministerpräsidenten des Nazi-Daseins beschuldigt werden, Journalisten noch in Beugehaft genommen werden. Da wurde man erst mit 21 volljährig. Den Führerschein bekam man nicht nur auf Probe. Zivildienst waren noch 20 Monate. Früher gab es noch richtige Unmoral. Heutzutage ist selbst das Unmoralische nur Verpackung für Moral. Und MTV gibt’s auch nicht mehr.

Bildquellen

  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens