Theater als fünfeinhalbstündige Wanderung: Zeit muss man sich leisten können

Ein Interview mit dem freien Theaterkollektiv Fräulein Wunder AG über dessen neue Produktion Wegefreiheit, die am 13. August 2016 in Hannover Premiere hat.

Zeitgenössisches Theater will oft ausgesessen werden. Überlange Bühneninszenierungen wie bei Frank Castorf werden von vielen als Herausforderung an Geduld und Sitzfleisch betrachtet. Nun hat das freie Theaterkollektiv Fräulein Wunder AG aus Hannover für den August eine Produktion angekündigt, die ihrem Publikum fünfeinhalb Stunden abverlangt. Allerdings nicht im Sitzen. Wegefreiheit ist eine gemeinsame Zwölf-Kilometer-Wanderung quer durch Hannover. Eine Auseinandersetzung mit der Stadt, dem Gehen und der Zeit selbst. Es geht um den Wandel von Arbeit und Freizeit. Und darum, was dieser mit unseren Lebensentwürfen anstellt.

Wir haben bei zwei der Theatermacher nachgefragt. Verena Lobert gehörte vor zwölf Jahren zu den Gründerinnen der Fräulein Wunder AG. Michael Kranixfeld ist als Gast an Wegefreiheit beteiligt. Er befasst sich nicht nur mit Theater, sondern hat sich auch im Rahmen seines Zweitstudiums Urban Design an der Hafen City Universität Hamburg intensiv mit Stadträumen auseinandergesetzt.

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Sie wollen mit Ihrem Publikum in fünfeinhalb Stunden zwölf Kilometer durch die Stadt wandern. Warum sollte Ihnen jemand so lange folgen wollen?

Lobert: Wir machen eine Tour mit Zuschauern für Zuschauer. Das soll kein konsumierbares Stationentheater werden, keinem erwartbaren Ablauf folgen. Es geht uns um eine gemeinsame, außerordentliche Erfahrung. Eine Zäsur im Alltag. Das erfordert die Bereitschaft, sich einzulassen. Und Mut. Und den Einsatz von Zeit. Für uns ist das auch offen: Wer kommt da? Wer kann sich diesen Zeitwohlstand erlauben?

Mit welchen Strategien werden Sie fremde Menschen zu einer Gruppe vereinen, die eine solche Strapaze gemeinsam durchsteht?

Kranixfeld: Wir beziehen in unsere Dramaturgie auch Langeweile und Leerstellen mit ein. Versuchen Momente zu schaffen, in denen das Publikum von selbst aktiv wird, miteinander ins Gespräch kommt. Manchmal ist das angeleitet. Aber manchmal müssen sich Dinge einfach ergeben. Dafür brauchen wir viel Zeit.

Ist jede Tour also völlig anders, je nach Publikum?

Lobert: Wir arbeiten mit Modulen, die ganz kleinen Workshops entsprechen. Wir geben Impulse für Gedanken oder Bewegungen, für Beobachtungen, zu denen dann ein Austausch stattfinden kann. Wir suchen nach Erfahrungen, die der Stadtraum zu bieten hat.

Kranixfeld: Man kann zwar mit einer Gruppe nicht wirklich flanieren. Wir wollen aber Momente schaffen, in denen diese Art der kontemplativen Wahrnehmung von Raum anklingt.

Lobert: Auch die Idee des geführten Flanierens ist eigentlich paradox. Wir setzen deshalb gezielt Wahrnehmungsimpulse.

Die Fräulein Wunder AG baut ja seit Jahren in ihren Projekten unterschiedlichste Arten von Erfahrungsräumen. Ist dies der erste mobile?

Lobert: Es ist bereits der zweite Versuch, den wir mit dem Format Wanderung unternehmen. Der erste fand in Oldenburg statt, allerdings als Bürgertheaterprojekt. Wir haben dort Menschen eingeladen, sich mit ihrem jeweiligen Bezug zum Thema Arbeit in der Stadt zu verorten. Auch da haben wir schon gefragt, was es eigentlich bedeutet, zu gehen. Das ist ja Alltagspraxis und pragmatische Notwendigkeit als Zweibeiner einerseits. Andererseits gibt es uralte Auseinandersetzungen damit, ob das Gehen das Denken beeinflusst und wie es die Wahrnehmung verändert. In der heutigen Kultur kommen Überschneidungen mit Themen wie Wellness, Entspannung, Sport hinzu. Die Bewegung der Wandervögel hat Anfang des vergangenen Jahrhunderts gezeigt, was Gehen und Gesellschaftsentwürfe miteinander zu tun haben können. Wir wollen auch wieder zu einer zeitdiagnostischen Praxis zurückfinden: Was könnte Gehen in der Stadt heute für uns bedeuten? Ist das nur Arbeit an sich selbst, die einer zur Zeit so beliebten Optimierungslogik folgt? Oder Teil einer Freizeitkultur, die nach dem Anderen sucht, um aus den Nützlichkeiten auszubrechen? Dazwischen oszilliert das Gehen, weil es immer beides ist.

Wie passt die Stadt in diese Reflexion über Arbeit und Freizeit?

Kranixfeld: Wir haben in Hannover nach Räumen und Menschen gesucht, die versuchen, neue Zusammenhänge zwischen beiden Bezugspunkten herzustellen. Alternative Modelle oder auch alte Entwürfe, die vielleicht schon misslungen sind. Wir haben dazu auch Orte in der Stadt recherchiert. Und Experten für bestimmte Perspektiven auf Arbeit. Viele fragen sich heute: Warum soll ich Jahrzehnte lang nur arbeiten, um dann am Ende meines Lebens noch einen kleinen Rest Freizeit genießen zu können? Warum nicht lieber jetzt schon beides möglichst gut vereinen? In einem neuen Co-Working-Space, dem Hafven in der Nordstadt, haben wir zum Beispiel Menschen getroffen, die versuchen, gemeinsam einen anderen Umgang mit Arbeit zu finden.

Also eher aktuelle als historische Annäherungen an das Thema Arbeit?

Lobert: Wir sind immer wieder auf die Frage gestoßen, was uns als prekarisierte Kulturarbeiter mit der historischen Arbeiterbewegung zum Beispiel in Linden verbindet.

Kranixfeld: Die Freizeit spielte in den Anfängen der Arbeiterbewegung eine große Rolle. Weil sie in der Industrialisierung nicht vorgesehen war. Weil die Arbeiter sie sich erkämpfen mussten. Kleingärten, die wir heute vielleicht als spießbürgerlichen Rückzugsort wahrnehmen, könnte man in ihren Ursprüngen als eine Protestform sehen, eine Intervention in eine Gesellschaft, die nur auf Produktivität ausgerichtet war. Wir versuchen, das auf die heutige Gesellschaft zu übertragen. Welche Art von Innehalten, Rückzug oder Zweckfreiheit wäre heute notwendig und möglich? Ein Wandel der Freizeit, den der Wandel der Arbeit nach sich zieht.

Jede Produktion der Fräulein Wunder AG geht ja in irgendeiner Weise von den Biografien der Mitglieder des Kollektivs aus. Ist das auch mit der Verschmelzung von Arbeit und Freizeit so?

Lobert: Nach zehn Jahren freier Kulturarbeit fängt man an, zu hinterfragen: Diese angeblich entfremdete Arbeit hat doch vielleicht auch was für sich, bei der ich einfach zum Feierabend alles fallenlasse und dann den Kopf frei habe. Vielleicht funktioniert unser anfängliches Konzept ja nur für die Zeit von Mitte Zwanzig bis Anfang Dreißig. Dieses Durchdringen von Arbeit, Freizeit und Erholung. Wird das irgendwann zum Defizit? Kann man das mit Ende Dreißig noch genau so leben? Das hat auch mit Generationen zu tun, unsere Eltern haben das größtenteils noch ganz anders gelebt. Und dann schaut man sich in der Gesellschaft um und stellt fest, dass es da auch schon Mitte Fünfzigjährige gibt, die so ähnlich leben und das irgendwie über die magische Grenze des vierzigsten Lebensjahres hinaus entwickelt haben.

Ist der Preis für einen alternativen Umgang mit Arbeit und Freizeit am Ende immer das Prekariat? Oder sind Sie auf Menschen gestoßen, die alternative Wege gefunden haben?

Lobert: Die Gesellschaft ist mit den ersten Rentnern in größerer Zahl konfrontiert, die ihr Leben lang so gelebt und gearbeitet haben, wie sie wollten. Und jetzt von 499 Euro im Monat leben müssen. Diese Generation ist für mich am spannendsten, weil die jetzt Modelle entwickeln muss, wie das jenseits von Hartz IV gehen kann. Und da bilden sich plötzlich auch radikale Konzepte von Minimalismus aus. Werte bestehen plötzlich nicht nur aus Besitztümern, sondern vor allem aus Begegnung und Gemeinschaft.

Kranixfeld: Auch in unserer Generation findet man solche Haltungen vermehrt. Bestimmte Dinge nicht mehr zu brauchen oder zu wollen. Auf die Perspektive einer ausbleibenden Rente nicht durch lukrative Jobs und gute Anlagen zu reagieren. Sondern durch das Aufbauen von solidarischen Gemeinschaften und eines regenerativen Umfelds, das einen auch später noch tragen kann.

Ist die Produktion die egoistische Suche nach eigenen Lebensmodellen?

Lobert: Unsere Projekte sind immer auch deshalb entstanden, weil wir nicht aufhören wollten, etwas zu lernen. Auch mit dem Herausgespültwerden aus der Universität nicht, also einem Bildungssystem, das uns mit Angeboten überhäuft hat. Wir haben uns selbst eine Form geschaffen, in der wir uns projektorientiert auf Themen einlassen und all unseren Fragen freien Lauf lassen können. Dabei geht es nicht immer um Lösungen, sondern eher um Denkprozesse, die uns weiter bringen. Und andere vielleicht dann auch.

Kranixfeld: In diesem Projekt entwickelt sich der Input mit jeder Aufführung weiter. Wir bieten ein Gedankenexperiment mit verschiedenen Settings an. Und dann kommen all die Teilnehmer mit ihren individuellen Arbeits- und Freizeitbiografien. Mit kritischen Fragen zu unseren Fragen. Mit eigenen Ideen und Utopien und Wünschen. Deshalb laden wir auch zu Testaufführungen ein. Bei diesem Format sind wir mit einem völlig neuen Probenprozess konfrontiert. Wir können nur mit Publikum proben, mit fremden Perspektiven, die auf unsere Inputs reagieren.

Haben Sie im Verlauf bereits eine Lebensweise entdeckt, für die Sie sich entscheiden könnten?

Kranixfeld: Unsere Idee ist ja eher, dem Themenfeld nachzuspüren, verschiedenste Visionen zu sammeln, ohne gleich wieder etwas festzuschreiben. Unser Manifest wäre also immer nur ein vorläufiges. Wenn ich es geschrieben hätte, wüsste ich erst, ob es stimmen könnte. Und dann müsste ich es wahrscheinlich kurz darauf wieder neu schreiben.

Lobert: Ich bin biografisch gerade selbst an dem Punkt, an dem ich bald für ein weiteres Leben Verantwortung übernehmen werde. Die Frage, die mich dabei massiv umtreibt, ist: Brauche ich jetzt plötzlich mehr Besitz und mehr Wohnraum? Das habe ich in meiner Kindheit noch sehr stark vorgelebt bekommen. Und ich beobachte das auch bei den Menschen um mich herum. Muss ich einem neuen Menschen, den ich in die Welt setze, einen bestimmten Mindeststandard bieten? Worauf beruht der? Darf ich noch nomadisch leben? Muss ich mir eine Arbeit suchen, die immer am gleichen Ort stattfindet? Brauche ich einen festen Wohnsitz mit Anbindung an eine Datscha? Das alles werde ich herausfinden, aber nicht mehr in diesem Projekt.

Kann man sich von solchen etablierten Kategorien wie Wohnsitz oder Datscha denn überhaupt lösen? Oder kann man das immer nur neu zusammenpuzzlen?

Kranixfeld: Wenn der Berliner Hipster in die Datscha zieht, passiert mit diesem Ort ja bereits etwas Neues. Dann zieht eine neue Weltsicht ein. Solche Remixe finde ich gut. Wir haben im Projekt einige Orte aufgespürt, an denen Utopien entwickelt werden. Ich bewege mich gerne dazwischen und hinterfrage sie. Was funktioniert, was ist zweifelhaft, was fragil? Es gibt ja nicht die eine Antwort für alle. Jeder muss sich seine eigene herausarbeiten.

Lobert: Ich habe das Gefühl, es sind gerade sehr viele Menschen damit beschäftigt, herauszufinden, wie etwas anders ginge. Braucht es dabei eine riesengroße Vision? Oder kann man durch verschiedene soziale Strukturen flanieren und sich immer kleine Knospen von Visionskraft anschauen? Und dann sagen: Ah, interessant, so kann man das also auch machen? Wenn man die dann sammelt, kann man daraus eine künstlerisch geformte Soziale Plastik mit und für Publikum bauen. Darum geht es in unserem Projekt auch

Funktionieren solche Visionen nicht eigentlich ohnehin nur, solange sie erträumt werden oder vielleicht noch im Entstehen begriffen sind? Ist nicht jedes Ideal schon am Ende, wenn es sich realisiert? Waren zum Beispiel die großen sozialen Utopien der Geschichte in dem Augenblick gescheitert, als sie umgesetzt waren? Erstarrt eine Utopie dann nicht? Geht es nicht eigentlich um die Suche?

Kranixfeld: Eher um einen ständigen Anpassungsprozess, ein permanentes Re-design. An manchen unserer Orte wird etwas entworfen, das meiner Meinung nach in ständiger Bearbeitung bleiben wird, das nie ein Ende finden kann.

Lobert: Ich weiß nicht, ob eine Utopie nach ihrer Umsetzung endet. Aber sie bekommt eine harte Komponente zwischen die Füße geworfen. Und die heißt reales Leben. In unserer Kunst dürfen wir das schön kleinteilig ausprobieren, da geht es eher darum, einen gelungenen Nachmittag oder Abend zu organisieren. Im Modell. Danach ist der Erfahrungsraum wieder vorbei und manchmal ohne Konsequenz. Da geht es uns im Theater natürlich viel besser als den großen politischen Entwürfen, die langfristig Sinn ergeben wollen und müssen.

Werden Menschen, die schon lange in Hannover leben, mit Ihnen noch neue Orte entdecken können? Oder gehen die dann fünfeinhalb Stunden durch eine Stadt, die sie auswendig können?

Lobert: In Oldenburg war ich erstaunt, wie viel Neues man Menschen in ihrer Stadt zeigen kann.

Kranixfeld: Ich glaube, so hat man Hannover noch nie gesehen. Wir blicken ja alleine durch unsere Themensetzung anders auf bestimmte Orte. Es geht uns nicht um eine Stadtführung mit Fakten, die historisch akkurat dargestellt wären. Wir überformen die Orte, denken sie weiter, ändern Richtungen, bringen unsere fremden Blicke mit und machen dadurch Bekanntes auch anders erlebbar. Und durch die Dauer unserer Wanderung vergessen die Teilnehmer eben auch manchmal ganz, dass es um Beobachten, Begreifen oder Wissen geht. Vielleicht gelingt es eben, in kleinen Momenten den Müßiggang herzustellen. Das ist das eigentlich Ungewöhnliche und Schwierige, wenn man so etwas in einen Theaterkontext überträgt, in dem ja sonst vieles schon gesetzt ist.

Das Gehen in der Stadt in Verbindung mit dem Thema Arbeit und Produktivität hat ja ein wichtiges Vorbild in der politisch-künstlerischen Bewegung der Situationisten im Frankreich der Sechzigerjahre. Dabei wurde Erwerbsarbeit kategorisch abgelehnt. Würden Sie jemals so weit gehen?

Kranixfeld: Das könnten wir gar nicht. Das Projekt ereignet sich schließlich während unserer Arbeitszeit.

Lobert: Für uns ist Arbeit ja nichts Fremdbestimmtes, das uns in seinen Krallen hat. Die Situationisten haben aber natürlich bestimmte Formate entwickelt, die uns inspirieren. Ihre Handlungsanweisungen für das Wahrnehmen von Stadt haben eine große Kraft und sind sehr dankbares Material.

Welches Publikum wünschen Sie sich?

Lobert: Ein möglichst heterogenes was Herkunft und Alter angeht. Darüber hinaus ist Neugierde wichtig. Und die Bereitschaft, eine Wanderung zu wagen, ohne vorher schon eine Karte studiert zu haben. Kontrolle abgeben zu können.

Für die Proben-Wanderungen am 06.08. um 12 Uhr und 11.08. um 15 Uhr werden noch Teilnehmer gesucht. Kontakt unter wegefreiheit@fraeuleinwunderag.net oder 0151-56074090. Die Premiere beginnt am 13. August um 15 Uhr am Pavillon. Tickets auch für weitere Aufführungen gibt es hier.

Thomas Kaestle führte das Gespräch ursprünglich für die Hannoversche Allgemeine Zeitung, in der es am 29. Juli 2016 in gekürzter Form erschien.

Bildquellen

  • 13839940_10206914716606285_641308339_o: Verena Lobert / Fräulein Wunder AG
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