We die young: Elf Notizen über den Tod

Der Tod ist ein unergründbares Geheimnis: Ein Text über Unfälle, Todesangst, Todesneurose und den unzureichenden Trost, Humus zu werden.

„I survived/ That´s good enough for now“
Wilco

1.

Wenige Meter vom Grab meiner Großmutter entfernt liegen die Opfer eines Wohnhausbrandes begraben, eine Frau und drei Kinder. Die Kinder sind neun und fünf Jahre alt geworden, das jüngste Kind ist Säugling von wenigen Monaten. Gestorben zwei Tage vor Heiligabend, von den Flammen im Schlaf überrascht.
Vor dem Grab steht manchmal ein Mann mittleren Alters, und es scheint mir, als spreche er mit den Toten. Wenn ich ihn sehe, dann senke ich den Blick und versuche, schnell an ihm vorbeizugehen.
Der Tod eines jungen Menschen ist die Ungerechtigkeit selbst, schreibt Carlos Fuentes.

2.

Ich weiß nicht genau, wann ich mir des Todes zum ersten Mal bewusst wurde. Als ich sechs Jahre alt war, starb meine Urgroßmutter. Sie hatte eine beträchtliche Anzahl an Gummibällen, Handpuppen und Matchboxautos angesammelt, und ich wollte mir ihre Rosinenstückchen raus picken. Ich führte auf ihrer Beerdigungsfeier in einem alten Thüringer Gasthaus mit meinem Bruder eine heftige Debatte, wer ihr Spielzeug behalten darf. Als ich acht Jahre alt war, saß ich weinend im Wohnzimmer meiner Großeltern und jammerte, das ich niemals sterben will. Oma versuchte mich zu trösten, indem sie den Tod als Zustand der Ruhe beschrieb. Sie erklärte, dass ein Toter sowieso nichts mehr spüre, denn er sei ja bereits tot. Ich weinte noch mehr.

3.

Für den Tod muss man Zeit haben, so heißt es schon bei Seneca durchaus doppeldeutig, und es ist eine der größten Absurditäten, dass vor allem die Lebenden an ihm verzweifeln, sich Zeit nehmen über sein Wesen nachzudenken, sich fürchten und nicht von ihm lassen können. Allerdings kann ich nicht vom Tod erzählen. Ich lebe ja noch, davon künden mein Puls und die halb ausgetrunkene Teetasse, die vor meinem Laptop steht.
Der Tod ist keine Erfahrung, behauptet Imre Kertesz in seinem Galeerentagebuch, und dies scheint mir so banal wie plausibel. „Was der Tod zerstört, was er mir auf radikale Weise nimmt, ist nicht meine Existenz im eigentlichen Sinne, sondern die gewohnten, bekannten und identifizierbaren Mittel, über die ich verfüge, um meine Existenz zu überprüfen“, so beschreibt es der Soziologe Jean Ziegler. Existiere ich also auch als Erdhaufen noch, obwohl ich von meiner Existenz kein Bewusstsein mehr habe? Es ist ein schwacher Trost.

4.

Ich bin ein ausgesprochener Todesneurotiker. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich rechne nicht damit, alt zu werden. Da ist häufig eine Angst, vorzeitig sterben zu müssen. Menschen zu verlieren, die mir wichtig sind. Auch entwickelte ich früh eine eigene Ikonographie des Todes. Gegenstände und Orte, die nicht direkt in Verbindung mit dem Tod stehen, die ich aber stark damit assoziiere. Da ist zum Beispiel ein starkes Unbehagen mit Abrisshäusern, im Osten gibt es reichlich davon. Sie führen mir nicht nur ihren Verfall vor Augen, sondern ihren Zustand der Unbehaustheit: die Abwesenheit von jenen Menschen, die einmal dort wohnten oder arbeiteten. Dass man kein menschliches Leben in ihnen findet, sondern nur noch einzelne Spuren davon. Diese Häuser sind im wahrsten Sinne des Wortes unbelebt, sind ohne Atem.

5.

Morbide Geschichten von Sterbenden bekam ich schon als Kind zu hören, und ich weiß nicht immer, ob sie wahr sind. In meinem Heimatort, einer Kleinstadt im Osten Thüringens, ist es jedenfalls unmöglich, nicht mit dem Tod konfrontiert zu werden. Eine ältere Frau zeigte mir zum Beispiel eine Stelle, bei der Kinder angeblich eine Angelschnur über den Feldweg spannten, so dass ein Motorradfahrer geköpft wurde. In einer nahen Scheune kam ein Junge zu Tode, weil seine Freunde das Cowboy- und Indianer-Spiel etwas zu genau nahmen. Sie hängten ihn einfach auf.
Ich habe eine Landkarte des Todes im Kopf. Ich kenne die Orte, an denen die Menschen zu Schaden kamen, kenne den Tratsch und die Gerüchte. In der Kleinstadt scheint die mündliche Überlieferung noch halbwegs intakt, und wenn jemand aus der Region frühzeitig verstirbt, möglichst auf recht brutale Weise, wird das Thema bei Zusammenkünften jeder Art dankbar ausgeschlachtet. Nicht selten werden derartige Episoden mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken vorgetragen, vergleichbar etwa mit Geistergeschichten, die man sich früher am Lagerfeuer erzählte, und so hat ein früh verstorbener Mensch gute Chancen, durch seinen Tod zu einer lokalen Berühmtheit aufzusteigen.
Diese Todesorte flößten mir als Kind Angst ein, ich ging ich immer wieder hin und stellte mir vor, wie sich die Ereignisse zugetragen haben könnten, versuchte jede Sekunde genau zu rekonstruieren. Dann lag der blutige Kopf des Motorradfahrers wieder im Gras. Da zappelten die Beine des Jungen im Todeskampf. Manchmal projizierte ich mich sogar in die Position des Opfers hinein, um den Schrecken besser nachempfinden zu können. Natürlich erzählte ich auch den anderen Kindern von den Todesfällen. Die Tat- und Unfallstellen wurden uns zu Spiel- und Pilgerstätten.

6.

Einmal knallte ich wütend die Autotür zu und ging wütend zum Bahnübergang. Ich war wieder einmal spät dran und verließ das Auto nur deshalb, weil ich irgendeinen Menschen wegen der Vollsperrung anpflaumen wollte. Als ich am Bahnübergang ankam, wurde ein Mädchen auf einer Bahre davongetragen, das ich aus der Schule kannte. Sie war 18. Sie befand sich auf dem Weg zur Abiturfeier. Ich erfuhr später, dass sie ihre Hände noch schützend vor das Gesicht gehalten hatte, und dass sie um Jahre gealtert schien, die Haut fahl und bleich wie Papier, wahrscheinlich aufgrund eines Schocks, als der Zug sie erfasste. Als ich mich wieder ans Steuer setzte, zitterten meine Hände, und ich hatte einen rußigen Geschmack in meinem Mund. Ich verursachte beinahe selbst einen Unfall, weil ich ein Auto nicht bemerkte, das mich überholen wollte.

7.

Ein Bekannter versuchte vor einigen Jahren, mir den Tod zu versüßen. Als ich das Thema wieder einmal zum Anlass nahm, mich schlecht zu fühlen, erklärte er mir mit einer Mischung aus Physik und Metaphysik, warum der Tod nicht das Ende bedeute. Denn Energie, so dozierte er, ginge im All niemals verloren, so dass jede Materie irgendwie belebt sei. Wenn ich also Humus würde, sei ich folglich immer noch voller Energie, und vielleicht würde ich sogar als Nährstoff für eine Pflanze dienen, so dass auf mir eine schöne Blume gedeihen könne. Die Menschen würden an mir vorübergehen und sich freuen. Als Ersatz für mein jetziges Leben schien mir die zukünftige Existenz als Humus unzureichend.

8.

Ich war immer wieder mit Todesangst konfrontiert. Das letzte Mal vor etwa sieben Jahren. Als ich auf einem Rockkonzert in der Nähe von Jena beobachtete, wie zwei Girls im Nazi-Look den Kopfs eines Mädchens gegen eine Betonwand schlugen, wollte ich nicht tatenlos zusehen. Ich ging dazwischen und warf eine der Angreiferinnen zu Boden. Die Männer, die die Szene beobachteten, schienen dazuzugehören, es waren ungefähr zehn Mann. Ich lag schnell auf dem Boden, während ich mit Stiefeln bearbeitet wurde. Man zog mich hoch, während sich ein großer, blasser Mann mit einer Bierflasche vor mich hinstellte und fragte, wie ich es denn fände, wenn er mir die Flasche auf dem Kopf zerdeppert. Ich sagte nichts. Er schlug das untere Ende der Flasche an einer Mauer kaputt und führte die scharfen Kanten wie ein Messer gegen meinen Hals. Dann kündigte er an, dass er das Schwein, also mich, jetzt abschlachten werde. Ich kam jedoch frei, weil es jemandem aus der Gruppe wohl zu viel wurde und er jenen Typen wegzog, der mich von hinten festhielt. Ich stürzte und lief in die Konzerthalle, wo man mir unter der Bedingung Hilfe anbot, dass ich keine Polizei rufe. Man fürchtete schlechte Presse. Was mit dem Mädchen passierte, weiß ich nicht.
Noch Monate später saß ich in meinem Zimmer, starrte die Wand an und versuchte zu verstehen, was vorgefallen war. In solchen Momenten kam auch die Angst zurück. Ich hatte keine Chance, mich zu wehren. Mein Leben hing vom Wohlwollen einiger betrunkener Schläger ab.

9.

Die Angst vor dem Tod verschafft sich oft in abgeschwächter Form Geltung, zum Beispiel durch ein dauerhaftes Empfinden von Zeitknappheit. So sieht die Philosophin Marianne Gronemeyer in der Gewissheit des Todes eine wichtige Triebkraft zeitgenössischen Handelns: Da dem Menschen wenig Lebenszeit bleibt, da morgen bereits alles vorbei sein könnte, ist er immerzu bestrebt, Zeit zu gewinnen und Entfernungen einzuebnen. Er will sofort alles erleben und würde sich liebend gerne an mehreren Orten gleichzeitig aufhalten. Zeitknappheit ist ein prägendes Lebensgefühl unserer westlichen Industriegesellschaften. Das Leben als letzte Gelegenheit nennt sich Gronemeyers Studie, und es drängt sich der Eindruck auf, als habe das Leben immerzu Endspielcharakter. Nur leider ist es halt ein Abstiegsduell, denn alles was man gewinnen kann, ist zusätzliche Zeit, um noch etwas länger verbleiben zu dürfen.

10.

Auf einer Zugstrecke wurde ein Mitschüler von einem Zug erfasst, als er mit seiner Mutter von einer Familie nach Hause fuhr. Beide überlebten schwer verletzt. Dennoch hatte dieses Unglück für den Jungen etwas Gutes: Er war, nachdem er wieder zur Schule gehen konnte, der unumstrittende Mittelpunkt. Alle wollten von ihm erfahren, wie es ist, von einem Zug erfasst zu werden. Zu seinem Ruhm trug zusätzlich bei, dass ein weiterer Mitschüler bei der Feuerwehr arbeitete und von den verzweifelten Schreien berichtete, die das Opfer von sich gegeben hatte, als er aus dem Auto geschnitten werden musste. Wie zum Zeichen seines Triumphes über den Tod trug der Junge einige Narben im Gesicht.

11.

Es erscheint mir sinnvoll, die Betreuung der Hinterbliebenen eher in die Hände eines Geistlichen zu geben, als einen nüchtern atheistischen Menschen damit zu beauftragen. Als Jugendlicher erlebte ich zwei Grabreden, die unterschiedlicher kaum hätten sein können. Während der erste Redner zwar ein guter Rhetoriker war, jedoch den Trauernden immerzu kleine existentialistische Tiefschläge in die Magengegend verabreichte („Sind wir nicht alle nur ein Staubkorn im Universum? Werden wir nicht alle irgendwann einen weinenden Sohn, eine weinende Tochter, ein weinendes Enkelkind zurücklassen…“), konnte mir ein katholischer Pfarrer, obwohl er meinem Weltbild stärker entgegen stand, weitaus mehr Trost spenden. Er versuchte, den Tod aus seinem Glauben heraus mit einem Sinn zu versehen. Und behauptete nicht, dass der Tod das Ende sei. Denn eigentlich will man doch hören, dass es dem Verstorbenen selbst im Tode noch gut ergeht. Vielleicht unterhält sich auch deshalb der Mann am Grab mit seiner Frau und den verstorbenen Kindern: Er will sie fragen, ob sie wohlauf sind.

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