Sag alles ab! – Keine Rezension

Martin Spieß hat sich in der Anthologie „Sag alles ab!“ derart wiedererkannt, dass er beschloss, keine klassische Rezension zu schreiben. Sondern zu versuchen, den kapitalismuskritischen Sammelband mittels eines essayistischen Beitrags, wie er vielleicht auch im Buch stehen könnte, zu rezensieren. Ein Versuch.

Anfang August dieses Jahres bin ich nach über vier Jahren aus meinem Comedy-Duo ausgestiegen. Nach meinem Abschluss an einer niedersächsischen Universität im Jahr 2008 fand ich mit Ausnahme eines Jobs, der mich schwer belastete, zweieinhalb Jahre lang keine Arbeit: ich war auf Hartz-IV, ging Kellnern und Barkeepen, arbeitete in einem Pub und einem Café. Im Sommer 2010 dann kam plötzlich die Möglichkeit, mit dem damals nur Spaßprojekt seienden Comedy-Duo Geld zu verdienen: von April bis Oktober auf Festivals zu spielen, pro Jahr ein neues Album (Studio oder live) rauszubringen – das Geld reichte zum (Über-) Leben.

Als ich Freunden und Bekannten meinen Ausstieg verkündete, tauchten neben Verständnis und Unterstützung immer wieder dieselben Sätze auf: ob ich mir das gut überlegt habe. Wovon ich denn jetzt leben wolle.

Ziemlich genau in der Zeit, in der wir die letzten beiden Auftritte vor meinem Ausstieg spielten, bekam ich ein Rezensionsexemplar von der Edition Nautilus.

I would prefer not to

Sag alles ab! steht in bronzefarbenen Lettern auf mattem Anthrazit – und der schmale Band versammelt, so der Untertitel, „Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik“. Herausgegeben wird es vom Haus Bartleby: Karriereverweigerer, die sich unter dem Credo „I would prefer not to“ von Hermann Melvilles Figur aus Bartleby der Schreiber versammelt haben.

28 Autorinnen und Autoren – darunter Yanis Varoufakis, David Graeber, Deichkind und Dirk von Lowtzow – berichten in Sag alles ab! von ihrer Abkehr von klassischen Karrieren und dem Aufstieg im Arbeitsleben, schreiben dem Erfolg ein Epitaph. Wenn Geldsorgen Schlaflosigkeit verursachen und Schlaf als Rettung und Flucht vor dem dräuenden Arbeitsalltag bezeichnet wird (wie von Antonia Baum in „Deswegen schlafen“), wenn Wachstum grenzenlos wuchert und Metastasen bildet, wenn arm immer ärmer und die Armen immer mehr werden, wenn reich immer reicher wird und der Reichtum immer weniger Menschen gehört, dann fragen sich die Autorinnen und Autoren zurecht: ist das richtig so? Muss das so sein? Gibt es keine Alternative? „Liegt der Sinn unseres endlichen Lebens tatsächlich in unendlicher Arbeit?“, fragt Patrick Spät in seinem Beitrag und konkludiert: „[Wir] bekommen Prügel, wenn wir aus dem Hamsterrad ausbrechen wollen – und erst recht, wenn wir es anzuhalten versuchen.“

Nicht alles immer weiter wachsen

Glatte, geradlinige Lebensläufe, das huldvolle Opfern des eigenen Lebens auf dem Altar der Arbeit – davon haben sich die Autorinnen und Autoren verabschiedet. Sie träumen eine andere Welt, eine gerechtere, eine, in der Arbeit nicht mehr Sinn und Mittelpunkt des Lebens ist. Eine Welt der Alternativen, in der nicht alles immer weiter wachsen muss.

Am Tag, nachdem ich aus dem Hamsterrad ausstieg, um freiberuflicher Künstler zu werden, ließ ich mir meine ersten zwei Tätowierungen stechen. Rückblickend betrachtet kommt es mir so vor, als wollte ich damit auch meinen Ausstieg aus der nine-to-five-Welt zementieren. Mittlerweile habe ich aufgehört zu zählen, wie viele Tätowierungen ich habe. Und es ist auch egal: mit tätowierten Händen ist die Rückkehr ins Hamsterrad unmöglich.

Abgesehen davon habe ich gar nicht vor, zurückzukehren. Zusammen mit den Herausgebern und den Autorinnen und Autoren von Sag alles ab! hoffe ich auf und arbeite ich für eine andere Arbeitswelt. Eine, in der Arbeit nicht nur Selbstzweck und Lebenserhaltung bedeutet, sondern einen Zweck erfüllt. Oder um es mit dem Beitrag von Tapete, dem Berliner Rapper, zu sagen: „Ich häng die Arbeit an den Haken / nach all den Jahren werd’ ich flüchten / ab jetzt ess’ ich Gemüse aus dem Garten / und betrink’ mich mit vergorenen Früchten“
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Sag alles ab! Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik
Edition Nautilus
160 Seiten, broschiert
14,90 Euro

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