Onlinedating: Jedem Topf sein Deckel

Unser Autor will endlich ein anständiges Leben führen. Einen Job finden und eine Familie gründen. Bei letzterem soll ihm Onlinedating helfen. Ein ganz bestimmt wirklich wahrer Erfahrungsbericht ohne satirischen Unterton!

Man mag es kaum für möglich halten, aber ich bin dieses 30 Jahre alt geworden. 30! In Worten: d-r-e-i-ß-i-g. Damit beginnt wohl oder übel der Ernst des Lebens. Das Studium ist unwiderruflich vorbei. Ich habe drei Fünftel meines Lebens in der Schule oder in der Uni verbracht. Nun muss sich die jahrelange Bildung im wahrsten Sinne des Wortes endlich auszahlen. Ein Job muss her! Schließlich möchte ich beweisen, als Erwerbstätiger ein anständiges Mitglied unserer Gesellschaft zu sein. Im Idealfall eine Festanstellung in Vollzeit. Ein sauberer Bürojob, jeden Tag von neun bis fünf bei 2.500 Euro brutto im Monat – bis zur Rente oder bis zum Tod. Bloß nicht so etwas hoffnungslos idealistisches wie freier Autor oder dergleichen werden. Das wäre brotlose Kunst ohne festes Einkommen!
Und wenn wir schon dabei sind: Strenggenommen wird es auch endlich Zeit, sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen. Haus bauen, Kind zeugen, Baum pflanzen. Schließlich bin ich im „heiratsfähigen Alter“ – was immer das auch heißen mag. In anderen Kulturkreisen sind Frauen bereits mit zwölf Jahren im heiratsfähigen Alter.
Um einen Job zu finden, gibt es Jobbörsen. Um einen Partner zu finden, gibt es Partnerbörsen. Dank einer aggressiven Werbekampagne, die allein dieses Jahr im TV und im öffentlichen Raum gefahren wurde, dürfte wohl jeder wissen, welche Online-Partnervermittlung die einzig wahre ist. Wo sonst verliebt sich ein Single alle elf Minuten? Solange es wenigsten nicht immer derselbe Single ist, der sich dort verliebt.

Der Marktführer der Partnervermittlung

Vor allem in den Fernsehspots sieht man zahlreiche schöne und intelligente Menschen – zumeist Frauen – im heiratsfähigen Alter. Heiratsfähig im Sinne unseres Kulturkreises, natürlich. Gerade ein Buch lesend oder vom Sport kommend erzählen sie, wie gerne sie die wahre Liebe finden möchten. Sie scheinen mich regelrecht einladen zu wollen, es doch auch bei dieser Partnerbörse zu versuchen. Vielleicht bin ich ja der, den sie suchen.
Sagt es eigentlich irgendetwas über die Erfolgsquote dieser Datingplattform aus, wenn dieselbe Frau einen Tag, eine Woche oder einen Monat später immer noch nach der wahren Liebe sucht?
Mir blieb vor allem eine attraktive, sportliche Blondine in Erinnerung, die enge Radlerhosen und eine bauchfreies Top trug. Sie nahm ein Erfrischungsgetränk aus dem Kühlschrank und ließ breit grinsend verlauten: „Ist doch egal, wie ich den Richtigen finde. Hauptsache ich finde ihn.“

Vertrauen statt Zynismus

Noch vor wenigen Jahren, als zynischer Mittzwanziger, hätte ich mir gedacht: 1. Mädchen, du bist verzweifelt. 2. Warum willst du überhaupt „den Richtigen“ finden?
Seinerzeit wäre ich der Überzeugung gewesen, dass Monogamie lediglich ein gesellschaftliches Konzept wider die menschlichen Triebe und Liebe nichts weiter als ein biochemischer Prozess im Gehirn ist. Aber so denke ich heute natürlich nicht mehr. Mit mittlerweile 30 bin ich bestrebt, endlich ein gutbürgerliches Leben zu führen. Also habe ich mich auf der führenden Singlebörse registriert und den Fragebogen gewissenhaft beantwortet. Die Algorithmen benötigen schließlich Daten, um den perfekten Partner zu finden.
Nach nur 22 Minuten erhielt ich zwei Treffer mit über neunzigprozentiger Übereinstimmung. Ich entschied, beide persönlich kennenzulernen. Die jeweiligen Profile wollte ich mir zuvor nicht allzu genau anzusehen, um den Reiz des Unbekannten ein wenig aufrechtzuerhalten. Ich vertraute den Algorithmen voll und ganz.

Date Nr. 1

Die erste potenzielle Partnerin, die mir vorgeschlagen wurde und mit der ich mich verabredete, hieß Anneliese. So oberflächlich es klingen mag, aber ihr Profilbild sah vielversprechend aus. Er erinnerte an die Pin-up-Bilder der 50er Jahre. Mit ihrem langen schwarzen Haar und dem Pony sah sie darauf aus wie Betty Page.
Doch ihr Profilbild sollte nicht ganz halten, was es versprach. Dass es an ein Pin-up-Bild der 50er Jahre erinnerte, lag daran, dass es tatsächlich ein Pin-up-Bild der 50er Jahre war. Denn Anneliese war bereits 79 Jahre alt.
Anneliese entschuldigte sich dafür, dass ihr Foto nicht mehr aktuell war. Aber davon wollte ich mich nicht entmutigen lassen. Online hatten wir immerhin eine Übereinstimmung von 96%. Es sollte sich zeigen, dass diese Übereinstimmung durchaus ihre Berechtigung hatte.
Wir besaßen viele Gemeinsamkeiten. Ich hörte gerne Elvis und Johnny Cash. Anneliese auch, und zwar seitdem beide Newcomer waren. Wir unterhielten uns über Adorno, den wir beide an der Uni hatten. Ich als Seminarthema und sie als Dozent. Lediglich bei Stanley Kubrick waren wir uns uneinig. Ich hielt seine Filme für klassisches Kino, wohingegen sein Werk ihrer Meinung nach zu avantgardistisch war.

In neue Regionen der Liebe eindringen

Wir unterhielten uns gut. Es war ein vergnüglicher Abend und als ich sie nachhause brachte, fragte sie mich, ob ich noch mit nach oben kommen wolle.
Bis zu jenem Tag war auch ich ein Opfer des vorherrschenden Schönheits- und Jugendwahns; des sexistischen Idealbilds der Frau in unserer phallokratischen Gesellschaft. Aber Anneliese belehrte mich eines besseren, als sie mir in ihrem Schlafzimmer nackt gegenüberstand. Als eine etwas in die Jahre gekommene Venus von Botticelli mit schneeweißem Haar und Oberweite am Bauch versprühte sie prickelnde Erotik. Ich zählte die Krampfadern an ihren formlos geschwollenen Beinen, ehe wir uns sinnlich vereinten. Wer braucht schon Models in Strapsen bei welkenden Schenkeln in Stützstrümpfen?
„Musste ich so alt werden, um dieses erleben zu dürfen, dass ein junger Mann mir so die Lust aus dem Körper saugt?“, waren ihre Worte am nächsten Morgen. Wir wollten uns wiedersehen.

Date Nr. 2

Meiner zweiten Verabredung sagte ich bereits vor dem erfolgreichen Abend mit Anneliese zu. Ich wollte ungern absagen, da sich mit kuschelbaerchen75 – so der Name meines zweiten Matchs – sogar eine Übereinstimmung in Höhe von 98% ergab.
Da das Profil ohne Foto war, musste ich darauf vertrauen, dass kuschelbaerchen75 mich bei unserer Verabredung erkennen würde. Zu meiner Überraschung hieß kuschelbaerchen75 in Wirklichkeit Manfred und war ein bierbäuchiger, 41-jähriger LKW-Fahrer.
Zunächst war ich gegenüber meiner neuesten Bekanntschaft etwas Skeptisch. Aber noch wollte ich nicht daran zweifeln, dass Onlinedating das richtige Instrument sein würde, um den perfekten Partner für ein perfektes Leben zu finden.
Nachdem das Eis gebrochen war, erkannten wir, dass wir uns beide für Fußball interessierten, dieselben Filme mochten und sogar die gleiche politische Weltanschauung teilten. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass der Rest des Abends in einem schwarzen Loch der Erinnerungslosigkeit verschwand. Wir tranken viel in dieser kleinen Bar, in der wir uns trafen.

Wo die Liebe hinfällt

Am nächsten Morgen erwachte ich in Manfreds Bett. Wir lagen nackt in Löffelchenstellung. Sein behaarter, tätowierter Körper schlang sich um mich. Sein heißer Atem streichelte meinen Nacken. Als ich allmählich die Situation vollumfänglich begriff, machten sich verschiedene Schmerzen bemerkbar. Mein Schädel brummte aufgrund der durchzechten Nacht. Zudem vernahm ich ein brennendes Gefühl im Anus und verspürte ein Stechen im rechten Oberarm. Dort befand sich ein Tattoo: „Eigentum von Manni“, eingerahmt von einem Herz.
Nachdem er mir Frühstück machte und wir den Tag miteinander verbrachten, wusste ich, dass es sich hierbei um etwas Ernstes handelte. Die 98% waren absolut gerechtfertigt. Ich wusste nicht, was es war. Vielleicht funktionierte die Beziehung mit Anneliese ausschließlich auf einer intellektuellen Ebene. Auf jeden Fall waren es diese zusätzlichen zwei Prozent, die mich zu Manfred hinzogen und Anneliese vergessen ließen.

Die Moral von der Geschicht…

Das Mädchen aus dem TV-Spot hatte recht. Es ist egal wie man den Richtigen findet, Hauptsache man findet ihn. Diesbezüglich bin ich froh, dass ich auf meinem Weg in ein gutbürgerliches, sesshaftes Leben Big Data vertraut habe. Generell sollten wir die Verantwortung, unser Leben selbstbestimmt zu gestalten, endlich abgeben. Vielleicht kennen die Algorithmen uns sogar besser als wir uns selbst.
In diesem Sinne möchte ich abschließend an die Worte eines großen Philosophen des 20. Jahrhunderts erinnern:

„You can’t always get what you want
But if you try sometimes you might find
You get what you need”

https://www.youtube.com/watch?v=yPS9MpRLCd0

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