XTausendmal Ich – Auf den Spuren der Googlegänger Teil 1

Was verbindet uns mit Menschen, die nichts mit einem gemeinsam haben als den Namen? Jan Fischer geht in seinem großen, dreiteiligen Essay auf die Suche nach der Antwort. Teil 1 von 3.

„Apparently, some sort of transposition has taken place. I find it… extremely interesting.“
– Mr. Spock in der „Raumschiff-Enterpise“-Episode 2×04: „Mirror, Mirror“

Als ich meinen ersten Googlegänger traf, standen wir vor der Schule. Wir hatten unser Bier draußen versteckt, und als die Abifeier vorbei war, stohlen wir uns raus, durch die Flure, die ich kannte, die ich hundertmal, tausendmal entlang gelaufen war, die ich so auswendig kannte wie ich Flure niemals danach wieder auswendig kannte, und die ich – das war tatsächlich so – das letzte Mal entlang lief.
Wir standen da, ein paar beste Freunde und ich, wir tranken unser Bier, Sommernacht, Sterne, das alles, und ich wurde diesen anderen nicht los: Ich mochte ihn nicht nicht, aber er hatte ein Loch in meinen fragilen Größenwahn, in meine Selbstzufriedenheit gebohrt, die ich an dem Abend nur angelegt hatte wie meinen Anzug. Ich hatte mein Abitur, ja, ich war der tollste Mensch der Welt, ja. Aber ich hatte keinen Studienplatz, ich hatte keine Arbeit, ich hatte noch nicht einmal eine vage Idee, wie es weiter gehen sollte: Um das alles hatte ich mich noch nicht gekümmert. Ich hatte Eltern, die deswegen Druck machten, nicht viel, aber doch ein bisschen, während – vielleicht auch weil – alle Leute, die ich kannte, diejenigen Verräter, mit denen ich auf dem großen, leeren Platz vor der Schule das versteckte Bier trank, alle schon etwas hatten. Studienplätze. Arbeit. Zukunft.
Tatsächlich war es dann so, dass ich mich fast ein ganzes weiteres Jahr nicht um das alles kümmerte, gerade und obwohl der Druck von den Freunden, den Eltern den Verwandten immer größer wurde, so lange, bis ich irgendwann einmal den Fernseher ausmachte, von dem abgesessenen Ledersofa meiner Spätpubertät aufstand, und versuchte, irgendetwas gegen mich selbst zu tun.

Das Gefiepe des 56k-Modems

Mein Name ist Jan Fischer. Ich habe mein Abitur 2002 gemacht, und hatte mich noch nie selbst gegoogelt, es gab 2002 auch gar keinen Grund, das zu tun. Wenn ich mich richtig erinnere, tat damals kein Mensch im Internet etwas unter seinem richtigen Namen, jedenfalls nicht die Leute, die ich kannte. Zu interagieren war schwierig, schwieriger als heute: Es gab Gästebücher. Es gab Foren. Es gab rudimentäre Kommentarfunktionen. Hin und wieder spielten wir nach der Schule „Doom“ oder „Duke Nukem“-Deatchmatches. Es gab AOL-Chaträume, in einem davon lernte ich meine erste Freundin kennen. Aber das war es auch schon, und das alles tat ich nicht unter meinem richtigen Namen: Mein Benutzername fürs Real Life war Jan Fischer, mein Benutzername fürs Internet war mykhorizza. Das waren Menschen, Figuren, die völlig unterschiedliche Dinge taten, die anders kommunizierten, die anders sprachen, sich woanders bewegten. Immer streng getrennt durch die Mauer des Gefiepes und Gerausches unseres alten 56K-Modems.
Heute hat mein Name eine eigene Wikipedia-Begriffklärungsseite.
Für die meisten Menschen ist es sicher nicht ungewöhnlich, jemanden zu treffen, der den gleichen Vornamen hat. Passiert mir auch ständig, ist immer auch lustig für alle Beteiligten:
„Hallo, ich bin ich bin Jan.“
„Angenehm, ich auch.“
Und dann lachen alle.

Alles poppt auf

Ich war zerbrechlich zu der Zeit. Einerseits fühlte ich mich, selbstverständlich, wie der tollste Mensch der Welt: Ich war 18, und hatte gerade mein Abi bekommen. Wenn es jemals eine Gelegenheit gibt, zu der Größenwahn und Selbstzufriedenheit gerechtfertigt und entschuldbar sind, dann ist das genau dann und danach vielleicht nie wieder. Andererseits wusste ich nichts, und irgendwo in meinem Hinterkopf war mir klar, dass ich nichts wusste, gar nichts, selbst die Kurvendiskussionen hatte ich schon wieder vergessen, und mir war – wenn auch verschwommen – klar, dass die Welt da draußen ab diesem Punkt nur komplizierter werden würde, und ärgerlicher.
Es gab damals keinen Grund, irgendetwas im Internet unter dem eigenen Namen zu tun. Blogs waren zwar schon ein Ding, aber eines für Profis und Insider, experimentelle Literatur wie Rainald Goetz‘ „Abfall für alle“, das nächste große Ding im Journalismus, vielleicht, aber das alles entwickelte sich noch: Vor 2001 waren, vielleicht nur in meiner Wahrnehmung, Blogs die Fanzines und Flugblätter des Internets, etwas für nerdige Subkulturen, hoffnungslose, möglicherweise halb verhungerte Avantgarde, und ein paar unverbesserliche Weltverbesserer. Der Begriff „web 2.0.“ entstand erst 2003 – in einem Artikel des CIO-Magazins über das Internet, wie der Autor es sich 2004 vorstellte – und das, was es hauptsächlich ausmachen sollte, gab es größtenteils erst später: MySpace kam 2003, Facebook 2004, YouTube 2005, Twitter 2006. Das alles poppte sehr schnell hintereinander auf, aber 2002 war das Internet eine Sache, die ich mir hauptsächlich anschaute, nicht täglich mitgestaltete, nicht so, wie alle Internetnutzer es heute tun.
Ich glaube allen, die ich kannte, ging es ähnlich. Alle, die ich kannte, benutzen das Internet unter irgendeinem ausgedachten, lustigen Namen, den sie danach noch eine Weile in ihren Mailadressen mit sich herumschleppten, so lange, bis man das einfach nicht mehr machte, bis das Spiel zu ernsthaft dafür wurde.
Ich jedenfalls begriff das Internet nicht als Verlängerung von mir, sondern als Alternative zu mir. Oder, um es mit einem Lieblingsbegriff der Kulturwissenschaften aus der Science-Fiction zu sagen: So, wie ich mich damals verstand, war ich kein Cyborg, nicht halb Mensch, halb Maschine, sondern zwei Personen, von denen eine Mensch war, und die andere Maschine.

Hallo, ich heiße wie du

Ein paar machten was im Netz, viele schauten zu. Ich schaute zu, und das musste ich nicht signieren. Es gab keinen Grund, mich selbst zu googeln. Suchbegriffe wie „vanity search“ oder „egosurfing“ werden – laut Google Trends – erst ab 2005 vermehrt gesucht und im Internet erwähnt, die Zeit nach der Blase, als wirklich alle begonnen hatten, Informationen unter ihrem echten Namen im Netz zu hinterlassen, weil das plötzlich immer mehr gefordert wurde und ja auch Sinn machte, die Zeit, als wirklich alle dort waren, und die ganze Sache kein Spielzeug mehr. Heute will ich im Netz gefunden werden, ich will, dass Menschen mich googeln, mir auf einem Social-Media-Dienst ihrer Wahl folgen, meinen Blog lesen, mir in Zeitungen und Videos hinterherschnüffeln: Ich arbeite im Internet, ich will, dass man mich dort auch sieht und findet. Ich habe lange daran gearbeitet, auffindbar zu sein, ich habe lange daran gearbeitet, dass das alles ein Teil von mir ist, mich verlängert, mich und meine Arbeit auf die eine oder andere Art repräsentiert. Ich will den Voyeuren in den Hand arbeiten.
2002 war – zumindest bei uns – Online-Zeit zu kostbar und teuer für so etwas, in den Zeiten vor Flatrates, wo ich manchmal spätnachts am Computer saß, und ein Kissen auf das Modem drückte, damit diese irrsinnige lauten Einwahlgeräusche meiner Eltern nicht aufweckten.
Und deshalb überraschte es mich, auf meiner Abiturfeier mit diesem anderen Jan Fischer konfrontiert zu sein. Mir war schlicht nie der Gedanke gekommen, dass es einen geben könnte.
Er schüttelte mir die Hand, sagte etwas wie: „Hallo, mein Name ist auch Jan Fischer, mir wäre fast die Kinnlade runtergeklappt, als ich meinen Namen gehört habe. Ich habe mein Abi doch schon.“ Ich sagte: „Na, ich jetzt auch“, wedelte mit den paar Blättern Papier vor seiner Nase herum, und lachte einmal pflichtschuldig. Er lachte zurück, und dann wussten wir nicht mehr weiter. Er hatte, stellte sich heraus, sein Abitur vor 20 Jahren an derselben Schule gemacht. Was genau er auf meiner Abiturfeier wollte, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht war er nostalgisch. Vielleicht war er zufällig in der Gegend. Vielleicht war er nie weggekommen. Mein erster Verdacht – er sei eine zukünftige Version von mir selbst, und in der Zeit zurückgereist, um mich vor schlimmen Fehlentscheidungen in der Zukunft zu bewahren – bewahrheitete sich jedenfalls nicht. Ich habe seitdem immer mal versucht, ihn wieder zu finden, einfach aus Neugier – aber bei der Häufigkeit meines Namens ist das kaum machbar. Irgendwo auf der x-hundersten Google-Ergebnissseite versteckt er sich sicherlich.

Der Junge mit den langen Haaren

Man muss dazu wissen: Zu der Zeit hatte ich noch lange Haare, spielte in einer Punkband, hatte mich nur mühsam davon überzeugen lassen, dass ich zumindest an diesem einen Abend einen Anzug tragen müsse, und fühlte mich darin dementsprechend unwohl. Der Jan Fischer, der da auf mich zukam, sah aus als trüge er seinen Anzug täglich und war mehr so der Typ Bankberater,
Ich fand die Begegnung unangenehm, und schob es darauf, dass dieser Mensch mit seinem milchigen Bankberatergesicht und seinem hellgrauen Bankberateranzug Dinge verkörperte, an die ich damals mehr oder weniger radikal nicht glaubte, oder zumindest ablehnte. Damals war ich aber auch kurzsichtig genug zu glauben, dass meine Abneigung mit dem Menschen zusammen hinge, den ich nicht kannte, und nicht mit seinem Namen. Ich dachte allerdings auch nicht besonders viel darüber nach. Es war meine Abifeier. Ich hatte besseres zu tun.
Wenn ich mich frage, was diese Begegnung bedeutet, oder bedeutete, fallen mir nur Metaphern ein, Motive: Die böse Königin, die in Schneewittchen den Spiegel versucht, dazu bringen, dass er sie als die schönste bezeichnet, und dann doch bitter enttäuscht wird. Kafkas „älterer Junggeselle“ Blumfeld, der in seiner Wohnung eines Tages zwei Plastikbälle findet, die nichts tun, als einfach immer nur hinter ihm her zu springen, und ihn damit nervös zu machen: Doppelgänger, auf eine eigenartige Art, aber eigentlich auch nicht. Fotos von Schauspielern und ihren Stuntdoubles, zwei völlig unterschiedliche Menschen, die nebeneinander stehen, dann aber doch ähnlich zurecht gemacht sind, und, soweit ich die Illusion – die Geschichte – eben akzeptieren möchte, trotzdem derselbe Mensch. Das Gefühl eines Tages in den Spiegel zu schauen und nicht sich selbst zu sehen: Gleichzeitig gruselig und unendlich interessant. Das alles sind Bilder, Metaphern, Motive, Geschichten, bei denen ich mich frage: Was ist der Unterschied zwischen mir und den anderen? Und was haben wir gemeinsam?
Stuntdoubles für ein anderes Leben, dass ich auch hätte haben können. Doppelgänger, die eigentlich keine Doppelgänger sind. Magische Spiegel, die mir nur zeigen, was ich nicht sehen will. Das sind alles bekloppte, abgegriffene Bilder, von irgendwo aus dem Repertoire aus der Romantik, aber da mitten drin steckte dieser eine, dieser erste andere, den ich kennenlernte, und dazwischen stecken auch alle diese Leute, die ich googeln kann, die ich nur vom Bildschirm kenne. Und sie erzählen mir eigenartige Geschichten über mich selbst:

„Es gibt gegenwärtig eine Vielzahl von Philosophen, Kognitionspsychologen, Soziologen und Kulturwissenschaftlern, die überzeugt sind, dass Geschichten für uns nicht nur ein Zeitvertreib sind; vielmehr sind sie in einem bestimmten Sinne konstitutiv für das, was wir sind. Wir wären nicht die Wesen, die wir sind, wenn wir keine Geschichten über uns und unser Leben erzählen würden”,

schreibt Tim Henning in „Person sein und Geschichten erzählen. Eine Studie über personale Gründe und narrative Autonomie.“

 

Zum zweiten Teil des dreteiligen Essays „XTausendmal Ich – Auf den Spuren der Googlegänger“ geht es hier.

Zum dritten und letzten Teil des dreteiligen Essays „XTausendmal Ich – Auf den Spuren der Googlegänger“ geht es hier.

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