Interviewreihe „Davon leben“ – Interview mit Jörg Merlin Noack (Fotograf)

In unserer Interviewreihe Davon leben spricht heute der Fotograf Jörg Merlin Noack über den Unterschied zwischen Kunst und Dienstleistung, einen modernen Zeus und seine Dorfjugend.

Kunst machen – klar. Aber davon leben? Für Davon leben trifft Martin Spieß sich mit Künstlerinnen und Künstlern an der Peripherie des ganz großen Erfolgs. Dort, wo es wenig Geld, aber viel Leidenschaft gibt. Heute im Gespräch: Jörg Merlin Noack, 37, ein deutscher Fotograf und Grafiker. 2010 gründete er Noack – Fotografik und produzierte damit etliche freie und kommerzielle Fotostrecken, Reportagen und mehrere Musikvideos und Kurzfilme. Seit dem Frühjahr 2016 ist er als Fotograf und freier Mitarbeiter beim Lingerie Label TightLaced tätig. Er arbeitet aktuell an seinem ersten Bildband und einer Ausstellung zur Vielgestaltigkeit von Menschen.

 

Wann bist du wo geboren?

Am 3. Dezember 1979 in Braunschweig.

Ein fellow Niedersachse! Und bist du da auch aufgewachsen und zur Schule gegangen?

Ich habe bis zu meinem dritten Lebensjahr in Braunschweigs Innenstadt gelebt. Dann sind meine Eltern nach Apelnstedt, ein kleines Dorf südlich von Braunschweig, gezogen. Dort habe ich bis zu meinem 16. Lebensjahr gelebt, bin im Nachbarort und in Wolfenbüttel zur Schule gegangen.

Das heißt, du hattest ne klassische Dorfjugend?

Ich denke das kann man so nennen. Zuckerrüben, so weit das Auge sehen kann, ein Geheimversteck unter den Büschen und ein Schulbus, zu dem ich jeden Tag gerannt bin.

Was war in dem Geheimversteck? Konspirative Treffen mit der Bande, deren Anführer du warst?

Eine Bande war es nicht, aber zumindest Treffpunkt der Kinder meiner Straße.

Und mit 16 ging es dann wohin?

Meine Eltern trennten sich und ich bin für etwas mehr als ein Jahr zu mit meiner Mutter nach Wolfenbüttel, bevor ich mich dann direkt mit dem Abschluss meiner Ausbildung aus Niedersachsen verabschiedet habe.

Ausbildung?

Ich habe eine Ausbildung zum Technischen Assistenten für Informatik gemacht.

Weswegen du heute nicht nur Fotografie, sondern auch Webdesign machst?

Ja, da liegt der Grundstein meiner Arbeit. Ich konnte schon immer ganz gut mit Computern umgehen und habe damals gedacht, ich könnte das Hobby zum Beruf machen. Aber die Arbeit eines Informatikers ist dann doch was anderes, als ich mir vorgestellt hatte.

Inwiefern anders? Was dachtest du, was es sein würde, und was war es dann tatsächlich?

Ich stellte während meiner Ausbildung fest, dass Programmierer mit Bildern und Design nicht viel am Hut hatten und es dort nur um die Funktionalität der Programme ging. Mich zog es jedoch schon damals – wir schreiben das Jahr 1998, also quasi noch vor dem Internet – zum Design. Ich bin dann mit knapp über 18 nach Halle an der Saale gezogen. Motiviert durch eine Mischung aus Liebe und Fernweh bezog ich mit meiner damaligen Freundin eine Wohnung in der Innenstadt, verbrachte meine Zeit damit, als Grafiker und Webentwickler in einer Immobilienfirma zu arbeiten und bei ihr mit in den Industriedesign Vorlesungen zu sitzen. Das war 1999 und 2000, das Internet also steckte immer noch in den Kinderschuhen.

Und das war dann, wie du es dir vorgestellt hast?

Ich fühlte mich ganz wohl mit meiner Situation und den Jobs, habe nebenbei angefangen, auch mehr zu fotografieren, wurde dann aber vom Zivildienst unterbrochen und habe dreizehn Monate im Altenheim gearbeitet. Nach dem Zivildienst stand ich etwas ratlos da und habe dann erst einmal im Einzelhandel und als DJ und Veranstalter gearbeitet.

Du sprachst vorhin von Computer als deinem Hobby und sagtest eben, du hättest nebenbei angefangen, mehr zu fotografieren: Kam die Fotografie später als der PC?

In meiner Familie gab es nur einen einzigen Fotoapparat, eine alte Minolta meines Vaters, absolut nichts besonderes, aber er hat immer ein riesiges Mysterium darum gemacht. Ich habe in meiner Jugend so gut wie nicht fotografiert und dann erst mit meinem Auszug damit begonnen.

Auszug gleich der Trennung deiner Eltern?

Umzug nach Wolfenbüttel gleich Trennung meiner Eltern. Meine erste Wohnung kam dann kurz danach.

Wäre es allzu küchentischpsychologisch, wenn ich sagte, dass das Fotografieren dein Versuch war, an deinem Vater festzuhalten? Vorausgesetzt du hattest ein gutes Verhältnis zu ihm.

Mein Vater hat nie viel fotografiert: Niemals künstlerisch und sonst nur im Urlaub. Ich habe zu der Zeit mit meinem Vater sehr wenig Kontakt und wollte auch keinen haben. Die Fotografie ist gänzlich aus mir selbst gekommen.

Warum wolltest du keinen Kontakt haben? Weil du ihn für die Trennung verantwortlich gemacht hast oder er es sogar war?

Mein Vater hat das mit dem Familiegründen und Kinderkriegen, glaube ich, immer mehr aus Prestigegründen auf sich genommen. In seiner Welt war es sehr wichtig Frau, Haus und Kinder vorweisen zu können, aber er war an und für sich nicht der Mensch für solche Bürden. Er hat sich viel in Überstunden, Gartenarbeit und Bastelei geworfen, um nicht zu viel Kontakt mit uns zu haben. Und das hat er mir zur Trennung meiner Eltern vor die Füße geworfen. Mit dem Wissen musste ich erst lernen umzugehen.

Wie hast du das gemacht?

Ich habe gelernt, mich abzugrenzen und sein Verhalten von außen zu betrachten. Zu sehen, dass er es nicht böse meinte, sondern einfach nicht der Mensch für so ein Leben war.
Das hat mir auch für mich und mein Leben geholfen. Ich bin schließlich auch nicht der Mensch für ein solches Leben geworden und musste mich auch mehr als einmal daran erinnern.

Man könnte jetzt argumentieren, dass du deines Vaters wegen der Mensch wurdest, der du bist. Zumindest was Partnerschaft angeht.

Man könnte auch argumentieren, dass mich die Rebellion gegen den Mittelstand und seine Wertmaßstäbe sehr geprägt hat. Ich habe viele Jahre versucht, immer genau das Gegenteil von dem zu tun, was „gut“ und „richtig“ war. Also haben im weitesten Sinne schon meine Eltern und das Leben im niedersächsischen Dorf mein späteres Leben geprägt.

Wenn du späteres Leben sagst: Wie lange hast du im Einzelhandel und als DJ gearbeitet?

Ich habe etwa eineinhalb Jahre im Einzelhandel gearbeitet und in Clubs etwas länger. Dann bin ich zum Studieren nach Berlin gezogen. Medieninformatik, das war die Schnittmenge aus meiner Ausbildung und allem, was ich danach gemacht habe.

Und wie kamst du zurück zur Fotografie?

Die schwamm immer mit. Ich hatte mir sehr früh eine digitale Kamera organisiert und immer nebenbei fotografiert. Im Hauptstudium konnte ich dann auch in der Universität mehr und projektbezogener fotografieren.

Du stelltest also im Studium fest, dass du Fotograf sein willst? Oder hattest du diese Erkenntnis schon früher?

Die Idee, mit der Fotografie professionell Geld zu verdienen, kam erst nach meinem Studium. Meine erste Anstellung war als Layouter im technischen Buchsatz. Als die Firma umzog, behielt ich mit einem Kollegen zusammen den alten Raum als Studio. Damit war der erste Schritt zum professionellen Arbeiten getan.

Es ging mir mit der Frage nicht primär ums Geldverdienen. Ich meinte, wann du gesagt hast: „Das ist es! Ich will Fotograf sein!“

Das war während meines Grundstudiums, als ich begonnen hatte, die ersten Serien zu fotografieren. Also mehr als einen Tag an einer Fotoidee arbeitete.

Was waren dann deine ersten fotografischen Arbeiten?

Nachdem ich neben meinen Porträts immer wieder unsortiert Pflanzen, Zootiere und Landschaften fotografiert hatte, begann ich sehr schnell, Konzepte in meine Bilder zu bringen. Ich habe einige Serien über Bewegung im öffentlichen Raum und viele Experimente mit Licht und Belichtung gemacht.

Das war dann auch der Moment, in dem du deine Arbeit als Kunst zu verstehen begannst?

Ja, das war der Punkt, an dem ich begann, nicht nur abzubilden, sondern es mit Sinn und Hintergrund zu versehen.

Kannst du das etwas ausführen? Was fügst du dem reinen Bild hinzu, was tust du, dass es über das bloße Abbilden hinausgeht?

Der Unterschied zwischen dem Abbilden und Kunst liegt im Detail, in der Form und Sprache der Darstellung. Ein Teil in der Inszenierung, ein Teil in der Wahrnehmung der Realität. Der Blick ist gerichteter, das Bild mit einem Ziel, einer Nachricht versehen.

Was ist dieses Ziel, was diese Nachricht in deinem Fall?

Das ist von Serie zu Serie sehr unterschiedlich. Zum Einen spielen bei mir immer wieder der Gedanke des „Großen im Kleinen“ und der Blick auf das Unscheinbare eine wichtige Rolle, zum Anderen habe ich immer wieder spezielle Themen und Motive, die ich verfolge.

Zum Beispiel?

Ich habe zum Beispiel vor zwei Jahren eine Fotoserie zur Medienzensur in Sozialen Netzwerken, in diesem Fall Facebook, gemacht: Ich habe immer vor dem gleichen Hintergrund einen Mann und eine Frau mit freiem Oberkörper und in der gleichen Pose fotografiert und dann den Brustkorb des Mannes auf den der Frau montiert und damit ihre Brüste verdeckt.

Deine Arbeit ist aber nicht immer politisch, oder?

Nein, oft genug ist meine Arbeit auch trivialer und eher emotional als politisch.

Hast du auch dafür Beispiele?

Ich hatte 2016 mit dem Künstlerkollektiv Mitternachtsgesellschaft ein langfristiges Projekt über Götter und Mythen im modernen Gewand. Nicht moderne Götzen, sondern die Ausformung von Archetypen in der heutigen Zeit. Mit Fragen wie: Wie würde Zeus aussehen wenn wir ihn heute anbeten würden? Ich denke, er würde einen Designeranzug tragen und ein gewinnendes Lächeln aufsetzten. Götter haben sich gewandelt, Wunder auch.

Im Designer-Anzug? „Der leg dich nicht mit mir an oder du kriegst nen Blitz in den Arsch-Zeus“? Um mal den dritten Teil von Die Hard zu zitieren.

Ja, Politiker und Mediengestalt mit Starallüren.

Du meinst nicht, dass ein allmächtiger Blitzeschleuderer immer noch Eindruck machen würde? Oder lässt dein Ansatz eher darauf schließen, welche Art fotografischer Inszenierung du bevorzugst?

Möglicherweise würde ein Blitzeschleuderer auch heute noch Eindruck machen, aber vermutlich würde er sofort festgenommen werden. Die Idole und Leitbilder haben sich geändert. Macht hat sich, zumindest aus meiner Perspektive, verschoben.

Vielleicht gucke ich zu viele Marvel-Filme, aber: Blitzeschleuderer legen die Cops, die sie verhaften wollen, zumeist um. Außerdem fotografierst du doch oft (zumeist weibliche) Models in archaischen Kostümen und mit Hörnern auf dem Kopf. Das ist doch eher näher am ursprünglichen Götter- oder Götzenbild dran.

Die archaischen Damen sind, ebenso wie Hochzeiten und Veranstaltungen, Auftragsarbeiten und entsprechen nicht zwingend meinen Vorstellungen.

Stört es dich, dass du „gelegentlich Hochzeiten und Veranstaltungen“ fotografieren musst oder nimmst du das als Notwendigkeit zur Sicherung deines Lebensunterhalts hin?

Eventfotografie stört mich nicht, es ist eine gute Art, mit der Kamera Geld zu verdienen. Ich arbeite gern mit Menschen zusammen und empfinde da auch Feiern nicht als störendes Arbeitsumfeld.

Erübrigt sich dann die Frage, ob dich deine Arbeitsumstände stören? Also noch auf Auftragsarbeiten angewiesen und (noch) kein bekannter Fotograf zu sein? Oder strebst du das gar nicht an, sondern bist vielmehr zufrieden mit dem Status quo?

Auch als bekannter Fotograf bin ich doch auf Auftragsarbeiten angewiesen. Reine „Kunstfotografie“ ohne Auftraggeber würde ich auch nicht immer wollen. Ich mag den Austausch nach außen.

Der würde ja aber auch zustande kommen, wenn du regelmäßig Ausstellungen hättest.

Vielleicht bin ich da noch zu sehr Dienstleister im Kopf.

Deine Kunst aber ist frei vom Dienstleistungsgedanken?

Völlig. Da unterscheide ich sehr.

Die Frage dennoch bleibt: Bist du zufrieden mit dem Status quo oder wärst du gerne erfolgreich(er)? Würdest lieber mehr Geld mit der Kunst verdienen, um dann weniger Dienstleistung machen zu müssen?

Ich würde gern freier arbeiten, mehr meine Visionen ausbauen und damit mein Geld verdienen. Also nicht so stark vom Geld abhängig zu sein, nicht immer die Kunst hinter die Notwendigkeiten stellen zu müssen. Immer das zu machen, was Geld bringt, nur um die notwendigen Rechnungen zahlen zu können.

Wie sehr setzt es dich unter Druck, dass das (noch) nicht so ist?

Das ist sehr tages- und projektabhängig. Meine Auftragsarbeiten sind sehr unterschiedlich. Aber insgesamt setzt es mich schon sehr unter Druck. Ich habe stetig das Gefühl, mehr tun zu müssen. Vielleicht ist das auch ein Stück meines Traumas als Kind der Arbeitergesellschaft. Meine Eltern haben, mein ganzes Umfeld eigentlich hat niemals etwas nur so getan und ist damit dann erfolgreich geworden. Ich bin der erste und einzige in meiner Familie, der jemals künstlerisch gearbeitet hat.

Was haben deine Eltern beruflich gemacht?

Mein Vater ist Handwerker und meine Mutter Technische Zeichnerin.

Wie gehst du mit diesem Druck um? Und wie findet es deine Familie, dass du Künstler geworden bist?

Meine Familie lebt damit. Meine Mutter hat inzwischen Respekt vor meiner Arbeit, mein Vater findet es noch immer sehr seltsam. Und den Druck mache ich mir selbst. Meine Eltern haben nie von mir erwartet, bürgerlich zu sein, sie haben nur immer gehofft, dass ich meinen Platz finde.

Wenn das ihre einzige Hoffnung war: Wieso findet dein Vater das seltsam? Und warum machst du dir diesen Druck? Du weißt doch, dass das nur der Neoliberalismus ist, der dir einredet, mehr zu tun, mehr zu verdienen.

Natürlich ist es der Neoliberalismus, aber ich gerate durch meine Umwelt gelegentlich ins Zweifeln. Und was meine Eltern betrifft: Für meinen Vater war der Platz, an dem er mich gesehen hätte, glaube ich immer etwas gefestigter, als ich es erfüllen konnte.

Ich bin durch meine Arbeit als Künstler auch immer wieder heftig durch den Vergleich mit anderen ins Zweifeln geraten, und mittlerweile ist eines meiner Lieblingszitate eins von Mark Twain: „Comparison is the death of joy.“ Letztlich geht es doch nur darum, Kunst zu machen. Was die Welt daraus macht, wie deine Arbeit wahrgenommen wird, darauf hat man keinen oder nur bedingt Einfluss. Mir zumindest geht es, seit ich das Vergleichen sein gelassen oder zumindest reduziert habe, sehr viel besser.

Das versuche ich zurzeit auch. Ich sehe den Vergleich auch als größten Feind der Kunst. Und in der Web-2.0-Welt hat Vergleich auch noch einmal eine neue Dimension eingenommen. Wir können alle alles sehen, und sehen nicht mehr den einzelnen Künstler. Versuchen, uns in ein Ranking zu stellen, ohne Hintergründe zu kennen.

Was tust du dagegen, diesem Reflex zum Opfer zu fallen?

Kunst machen, keinen Maßstäben folgen und versuchen, mich nicht verwirren zu lassen. Also ganz bewusst Kunst machen und nicht arbeiten beziehungsweise mehr tun, um dem entgegenzuwirken. Den Projekten folgen, ohne auf eine Verwertbarkeit im kapitalistischen Sinn zu denken.

Und wenn das nicht klappt? Wenn der Druck steigt?

Gute Frage, ich versuche es momentan mit Luftholen, Sport und Abstand von Kunst und Arbeit. Den Horizont erweitern und dann weiter machen.

Du postest bei Facebook immer mal wieder Fotos, die dich beim Wandern zeigen. So etwas?

Ja, ich gehe wandern und klettern.

Und das bringt dich runter?

Natur und Bewegung gleichen den Druck aus, ja.

Geht mir auch so. Und ich finde es außerdem inspirierend.

Ich finde es klärend. Die Inspiration sortierend.

Dein Leben ist also letzten Endes okay so, wie es ist? Oder ist eher Warten auf Besserung und Aushalten?

Mein Leben ist eine ewige Baustelle. Ich bin stetig auf der Suche nach Erfüllung und bin immer unterwegs. Aber ich bin Optimist. Und die Besserung kommt mit jedem Schritt.

Mehr über Jörg Merlin Noack

Bildquellen

  • Jörg Merlin Noack_Fotocredit Sabrina Dortmund: Sabrina Dortmund

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