Air Guitar Special: Ein Stück verdammt laute Luft

Vier Zebrabutter-Redakteure fahren zur Luftigtarrenmeisterschaft nach Oulu in Finnland. Grund genug für uns, ein kleines Air Guitar Special zu bringen.

Wir leben ja nicht nur vor unseren Computern. Vier Zebrabutter-Redakteure fahren in diesem Jahr – wie auch schon die Jahre zuvor – zur Luftgitarrenmeisterschaft ins schöne, finnische Oulu. Für uns Grund genug, ein kleines Air Guitar Special zu bringen. In den nächsten Tagen wollen wir jeden Tag einen Text bringen, der unser eigenartiges Herzensthema etwas näher beleuchtet. Den Anfang macht das Vorwort aus dem 2012 erschienenen Sammelband Air Guitar Heroes – vom Spielen der Luftgitarre

 

Am Anfang meiner Luftgitarrengeschichte war ich 14, vielleicht auch 15, und veranstaltete in der Garage meiner Eltern regelmäßig etwas, das wir damals Party nannten. Wir räumten die Harken und den ganzen anderen Gartenkrempel raus, stellten bunte Lichter in den leeren Raum, es gab Musik, es gab die ersten zarten Liebesdramen, die Jungs betranken sich, die Mädchen standen daneben und wussten nicht, was sie tun sollten. Traditionell, ganz am Ende der Partys, wenn die meisten Gäste schon längst von ihren Eltern abgeholt worden waren, und der harte Kern größtenteils auf den grünen Plastikstühlen in sich zusammengesackt war, legten mein bester Freund und ich Iron Maiden auf. Wir drehten ein letztes Mal für diesen Abend die Lautstärke auf Anschlag, wir stellten uns in die Mitte des Raumes, mein bester Freund sang Playback, und ich, ich spielte Luftgitarre. Und danach 12 oder 13 Jahre nicht mehr. Nicht mehr so, jedenfalls. Nicht mit solcher Hingabe. Nicht mit dem Kniefall bei Solo.

Bei meiner ersten Luftgitarrenmeisterschaft im Sommer 2009 dachte ich irgendwann mittendrin: „Was machst du hier eigentlich?“ . Ich war im Backstage des Lido in Berlin, stand vor dem schmalen Bühnenaufgang, den in der Woche darauf auch Franz Ferdinand hochlaufen würden, das Bier war alle. Ich wartete auf meinen Auftritt. Meine Hände zitterten und waren schweißig. Das Gel lief mir aus den Haaren. Ich wollte eigentlich nichts lieber als flüchten. Jemand, der sich „Effe, die Schlange“ nannte, reichte mir eine Flasche Jägermeister, die er in einem ansonsten leeren Gitarrenkoffer mitgebracht hatte. Ich flüchtete nicht. Ich trank. Und ging auf die Bühne.

Im Sommer 2011 lief mir dasselbe Gel aus den Haaren. Luftgitarrenweltmeisterschaft. Ich war nass von Schweiß und skandinavischem Sommerregen. Ich war in Oulu, Nordfinnland, und als ob das noch nicht absurd genug wäre, hatte ich gerade vor 7000 Menschen auf dem Ouluer Marktplatz und wer weiß wie vielen am Fernseher und im Internet Luftgitarre gespielt. Ich war voller Adrenalin, ein Filmteam vom WDR fing mich auf dem Weg von der Bühne zurück ins Backstagzelt ab, und Geeky, dieser lächerliche Loser, mit dem ich immer auf die Bühne gehe, schrie Dinge wie „War das geil! Jeder sollte das einmal im Leben tun!“ in die Kamera. Vielleicht war das auch schon wieder ich. Oder ein Übergangswesen aus Geeky und mir. Auf jeden Fall wurde es ein paar Monate später gesendet, und sorgte bei meinen Freunden für große Lacher.

Fast hätte ich meine Luftgitarre in der Garage meiner Pubertät gelassen. Am ersten Tag des Sommersemesters 2009 stand ich auf dem Hof der Domäne Marienburg, und überlegte, ob, ich statt ins Seminar zu gehen, nicht doch lieber einen Kaffee trinken sollte. Oder vielleicht besser gleich nach Hause gehen.
Die Domäne Marienburg ist ein Außenstelle der Universität Hildesheim, eine mittelalterliche Burganlage, weit draußen vor der Stadt. Es ist dort wahrscheinlicher, in eine Schafherde zu geraten, als einen Bus zum Hauptbahnhof zu erwischen. Ich hatte auf beides keine große Lust, und an dem Tag sowieso schon soviel Kaffee getrunken, dass meine Hände davon zitterten. Außerdem, dachte ich, was soll’s. Ich warf meine Zigarette auf den Boden, stellte mein Handy stumm, und marschierte in den Seminarraum.

Zur ersten Sitzung des Seminares „Medienästhetische Überlegungen zur Luftgitarre“ kam der über zwei Meter große Dr. Mathias Mertens in in einem Black-Sabbath-Tshirt. Nicht die alten Black Sabbath, nicht Ozzy Osbourne, sondern Ronnie James Dio. Das Seminar, und die dazugehörige praktische Übung waren schon vor Semesterbeginn Gesprächsthema in den WG-Küchen der Stadt gewesen. Ein Spaßseminar, eines ohne ernste Arbeit, so hörte es sich an. Für manche hörte es sich an wie ein Witz. Ich weiß noch, dass dem Seminar aus der Studentenschaft und auch von anderer Seite viel Misstrauen, später in verschiedenen Internetforen sogar purer Hass entgegenschlug, und auch immer noch schlägt. „Warum gibt es das?“ schrieb Mertens zwei Jahre später in der Tageszeitung Der Freitag, „Warum machen Menschen das? Warum schauen andere Menschen dabei zu? Kurz: Wie funktioniert das? Fürs Theater und für die Literatur haben wir die Antworten gelernt, beim Eiskunstlauf und beim Formel 1 glauben wir, dass es darauf Antworten geben könnte. Luftgitarrenspiel zu erklären, scheint dagegen unmöglich zu sein, und deshalb probieren wir es gar nicht erst.“ Damals begann Mertens, einen Text von Susan Sontag auszuteilen. „Wir wollen in diesem Seminar“, sagte er, „eine Theorie der Luftgitarre entwickeln.“

Die Vorrunde der deutschen Luftgitarrenmeisterschaft 2009 fand in einem ranzigen Rockschuppen statt, da, wo die Welt sich anfühlt als sei sie zu Ende: Das Ex’n’Pop in Berlin- Schöneberg. Wir liefen zu siebt auf, die Teilnehmer von Mertens‘ Praxisseminar, oder – der Name, unter dem wir dort bekannt wurden – die „Hildesheimer Reisegruppe“. Das Backstage des Ex ’n‘ Pop ist ein altes Kino. Wir warfen unsere Taschen mit den Kostümen auf die abgesessenen roten Plüschsessel, wir legten unsere Bühnenoutfits an. Wir fotografierten, lachten, übten. Eine Frau, die früher einmal ein Mann war, kam vorbei und stellt sich uns als Friederike, die Vorsitzende der German Air Guitar Federation vor. Sie würde, sagte sie, den Abend moderieren.
Ich, wir alle, wir wussten noch gar nichts damals, wir wussten nicht, worauf wir uns eingelassen hatten. Wir wussten nicht, dass wir eine Chance hatten, dass wir gerade tatsächlich den ersten Schritt taten, diese kleine, eigenartige Szene für immer zu ändern. Wir wussten nur, dass wir das alles zum ersten Mal machten, und dass der Gewinner in den vergangenen Jahren immer ein Typ mit dem Namen Heart Buckboard gewesen war. Ob wir ihn schlagen konnten, wussten wir nicht.

Sicher waren wir uns in der Theorie: Nach ein paar Sitzungen warfen wir damit verschwenderisch um uns. Luftgitarrespielen sei die Reproduktion des Auratischen des Originalkunstwerks, auf jeden Fall sei es aber auch Camp, bzw. vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall aber würde beim Luftgitarrespielen nicht keine Gitarre gespielt, sondern jede Gitarre, die Idee der Gitarre, vorhanden sei sie auf jeden Fall, in einem Prozess der Transsubstantation materialisiere sie sich. Undsoweiter. Seminardiskussionen. Mertens entwickelte ein Schaubild, das mit jeder Sitzung komplexer wurde: Pop, Musik, Performance, Theater, Tanz, alles war irgendwie mit dabei, in welchem Verhältnis der Körper des Gitarristen, der Körper der Musik und der Körper der Gitarre stehen – siehe hierzu Roland Barthes – wurde Gegenstand heißer Debatten, Debatten, in denen niemand dem anderen auch nur einen Millimeter an Boden schenkte. Auf jeden Fall, bemerkten wir, war das alles größer als gedacht. Größer als ein Witz. Mehr als nur So-tun-als-ob.

„Was machst du hier eigentlich?“, das erste Mal dachte ich das auf einem der roten Plüschsessel im Ex’n’Pop. Als die Startplätze ausgelost wurden, als das alles plötzlich real wurde und meine Freigetränkemarken alle waren, wollte ich einfach nur nach Hause. Ich hörte aus dem Backstage der Moderatorin, diejenige, die früher mal ein Moderator gewesen war, zu. „Jeder Teilnehmer“, sagte sie, „hat 60 Sekunden Zeit um seine geprobte Performance zu einem von ihm gewählten Lied vorzuführen. Es gibt drei Jurymitglieder, bewertet wird wie beim Eislaufen: 4.0 ist das schlechteste, 6.0 das beste. Die zehn Bestplatzierten der Vorrunde kommen in die Endrunde.“ Später, ich weiß nicht mehr, wie viel später, sagte sie: „Und als nächstes: Geeky Gisbert“. Das ist mein Bühnenname. Das bin ich. Oder nicht ich. Egal. Ich tat zum ersten Mal, was ich in den folgenden Jahren noch oft tun sollte: Ich ging auf die Bühne. Ich taumelte wieder runter. Ich bekam meine Wertung nicht mit. Nur den Applaus.

Mertens rotierte im Praxisseminar mit den Armen, ich erinnere mich noch an den Luftzug im Raum. Mertens, Flügelspannweite lockere 2,30 Meter, führte Pete Townshends „Windmill“ vor. Wir machten es ihm nach. Die Windmill ist ein Standard-Luftgitarren-Move, genau wie bestimmte Sprünge, bestimmte Arten, breitbeinig zu sehen – der Power Stance – und sowohl die Chuck-Berry-Variante des Duckwalks, sowie die von Angus Young.
Erst die Gitarre umhängen. Von da aus dann zu den Standard-Moves, zu einem eigenen Bewegungsrepertoire, aus dem eine Bühnenperson entstand, und daraus dann eine Choregraphie. Meine Bühnenperson ist Geeky Gisbert, geboren aus meinem Unvermögen, zu tanzen. Ein bebrillter, mittelbescheitelter Loser, der in diese ganze Sache reingeraten ist, und ganz bestimmt nicht elegant wieder rauskommt. Dessen Luftgitarrespiel aus hilflosen Zuckungen besteht, die magischerweise zu aufgesetzt uneleganten Variaten von Standardmoves werden. Ich habe mir eigene Namen dafür ausgedacht: Der Geekwalk. Die Geekwurst. Sowas. Natürlich ist das ein gemeiner Trick: Ich will die Sympathien der Menschen. Geeky ist in allen seinen Einzelheiten darauf ausgerichtet, mein Nicht-Können aufzufangen, und gute Wertungen zu verwandeln.

Heart Buckboard tauchte 2009 als letzter im Backstage des Lido auf. Das Bier war schon fast alle, neues, meinte einer der Organisatoren, könne man erst zur zweiten Runde verantworten. Dreizehn Luftgitarristen teilten sich den Raum:Der letztjährige Gewinner, Heart Buckboard eben, dazu noch die Landesmeister aus Bremen und Schleswig-Holstein, und die zehn besten der Vorrunde. Im Gegensatz zur Vorrunde besteht das Finale immer aus zwei Teilen: Einmal die geübte Choreographie, und, für die besten zehn, und eine Improvisationsrunde zu einem unbekannten Song.

Ich weiß noch, wie der Backstage schwirrte, und wie nervös alle waren. Ich war noch nicht umgezogen, ich war noch nicht Geeky Gisbert, und das Lido platze aus allen Nähten. Kein ranziger Rockschuppen wie das Ex’n’Pop. Ich rauchte. Ich trank Bier. Ich ließ mich von Fotografen fotografieren, und von RTL filmen. Ein paar Tage danach rief mich jemand an und sagte, ich sei gerade auf N24 kurz mal zu sehen gewesen. Egal.
Ich stand am Bühneneingang, irgendwann, ich weiß nicht mehr wann, das Bier war alle, und ich war umgezogen, plötzlich, ich erinnerte mich nicht, und, dachte: „Was machst du hier eigentlich?“ Ich hörte Geekys Namen. Geeky ging auf die Bühne. In dem Jahr wurde er dritter.

Die Geschichte der Luftgitarre ist immer eine Geschichte von Zufällen, und dann erst die von harter Arbeit. Kein Mensch träumt sein Leben lang davon, ein berühmter Luftgitarrist zu sein, kein Mensch ist dazu berufen. Kein Mensch entwickelt ein Talent dafür, so, wie er ein Talent zum Zeichnen oder Schreiben oder Musikmachen entwickeln könnte, mit all dem Brimborium, was dazu gehört: Aufgeregte Eltern, die ihren Nachwuchs unterstützen, spezielle Ausbildungen, Förderungen. In die Luftgitarre rutscht man einfach rein, weil man abends mal nichts besseres zu tun hat.

Davon handelt dieser Text, und davon handeln auch die folgenden Texte: Davon, wie man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist, mit dem richtigen Level an Alkohol im Blut. Wie man es sich dort bequem macht, und einfach weitermacht. Wie man dann plötzlich feststellt, dass das alles mehr ist, als der Witz, den man ursprünglich hatte machen wollen. Wie der Witz sich verselbständigt, und über die ganze Welt wandert – die Videos der Siegerperformances haben auf Youtube mehrere hundertausend Views, ein kleines Werbefilmchen, dass Geeky 2011 für die Stadt Oulu drehen durfte, kommt immerhin auf mehr als 3500.
Es ist immer interessant, wie sich diese eigenartige Mischung aus Zufall, Alkohol, und der immer wieder auftauchenden Frage: „Was mache ich hier eigentlich?“, zu einem Gleichgewicht verbindet. Und wenn das Gleichgewicht richtig ist, dann fühlt es sich an wie Rock’n’Roll. Und was könnte man mehr verlangen.

Das Happy End dieser Geschichte, dieser Geschichte, die für mich auf diffuse Art in einer Garage meiner betrunkenen Pubertät begann, ist tatsächlich eines mit Tränen, die im im Backstagezelt in Oulu vergossen wurden. Es waren die Tränen eines Grüppchens übriggebliebener aus Mertens‘ Seminar – ein harter Kern von fünf Leuten, darunter auch ich. Wir alle waren durchnässt von dem Regen und den Freudentränen. Wir umarmten die gerade frisch gekürte Weltmeisterin im Luftgitarrenspielen – The Devil’s Niece – die ebenfalls eine von uns war, eine aus dem Seminar, dessen Inhalt wir alle fast schon wieder vergessen hatten.
Und obwohl ihre Performance herausragend gewesen war, und die von uns anderen nicht so sehr, waren wir in diesen Augenblick alle ein bisschen Weltmeister geworden. Glauben konnten wir es sowieso nicht so ganz, selbst, als am folgenden Tag die ersten Reporter von der BILD anriefen, während wir noch unsere schmerzenden Köpfe und Muskeln kurierten.

Die Aufmerksamkeit der Medien, stellten wir fest, ist groß, noch während wir in Oulu waren, begann das Medienkarrusell sich zu drehen, riefen Zeitungen an, wanderte eine dpa-Meldung inklusive vieler, vieler Fotos durch den Ticker.
Die Szene selbst ist nicht groß – weltweit vielleicht 30, 40 aktive Spieler, von denen regelmäßig zu hören ist, dazu noch ein kleines Grüppchen an Organisatoren, Fotografen, Filmern. Die Szenen unterscheiden sich je nach Land – die in den USA sehr groß, gut vernetzt, und bringt regelmäßig Luftgitarristen hervor, die mit ihren Performances der Szene weltweit neue Impulse geben. Die Belgier legen einen überragenden Enthusiasmus an den Tag, schneiden dann aber im internationalen Vergleich meistens nicht so gut ab. In Großbritannien finden regelmäßig Landesmeisterschaften statt, die aber, so hört man, immer einen starken Fokus auf das währenddessen stattfindende Saufgelage legen. Die französische Szene ist eher am Cabaret orientiert, aber in letzter Zeit erstarrt, weil die Mitglieder eines kleinen Grüppchens namens Airnadette zum einen überragend gut sind, und zum anderen einen Berühmtheitsgrad haben, von dem sämtliche anderen Luftgitarristen nur träumen können. Die deutsche Szene fluktuiert sehr stark, mit vielleicht 2, 3 Leuten, die immer dabei sind.

Aber das schöne an der Luftgitarre ist, dass die Nationalität dann auch irgendwann keine Rolle mehr spielt. Es ist kein Länderwettkampf. Man geht in Oulu zwar traditionell mit der Landesflagge in der Hand die Bühne, wird sie dann aber auch schnell wieder los. Während es Wettkampfs liegen die Flaggen dann meistens irgendwo rum, auf den Backstagesofas, auf den Holzbänken, und irgendjemand gießt aus Versehen finnisches Bier drüber.

Das Schöne an der Luftgitarre ist, dass man Menschen kennen lernt – professionelle Performer, begabte Möchtegernstars oder schlicht Verrückte – die einem ähnliche Geschichten erzählen können, Geschichten mit Happy End. Die zwar auch von Punkten handeln, von unfairen Wertungen, voreingenommenen Jurys und von Konkurrenz. Aber hauptsächlich von Freundschaft, von Tränen, von Blut, Bier und Schweiß. Vor allem aber von dem Glück, schwitzend im Scheinwerferlicht zu stehen, mit nichts als einem Stück verdammt lauter Luft in der Hand, und Rock’n’Roll im Kopf.

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