Merlin Schumacher Luftgitarre

Air Guitar Special: Ich habe keine Ahnung, was in den letzten 60 Sekunden passiert ist

Wenn man Luftgitarre spielt, und sich an nichts erinnern kann liegt das daran, dass 60 Sekunden auch nur ein Augenblick sind.

Wir leben ja nicht nur vor unseren Computern. Vier Zebrabutter-Redakteure fahren in diesem Jahr – wie auch schon die Jahre zuvor – zur Luftgitarrenmeisterschaft ins schöne, finnische Oulu. Für uns Grund genug, ein kleines Air Guitar Special zu bringen. In den nächsten Tagen wollen wir jeden Tag einen Text bringen, der unser eigenartiges Herzensthema etwas näher beleuchtet. Dieser Text stammt aus dem 2012 erschienenen Sammelband Air Guitar Heroes – vom Spielen der Luftgitarre

»Was mache ich hier eigentlich?« Genau das war mein Gedanke, als ich das erste Mal im Seminar Luftgitarre spielen musste. Unser Dozent Mathias Mertens hat eine fixe Idee, macht ein Seminar zur Luftgitarre, und ich mache mich zum Affen. Zum Glück machten sich 15 andere auch zum Affen.

»Was mache ich hier eigentlich?«, denke ich mir gerade wieder. Es ist gleich 21 Uhr. Ich trage Bermudashorts, ein hässliches T-Shirt und die wahrscheinlich billigste Plastik-Vokuhila-Perücke, die jemals gefertigt wurde. Ich hab noch etwa 15 Minuten bis ich auf die Bühne muss. Es ist heiß. Der Rest meiner Seminarkollegen springt durch das zum Backstage-Bereich umfunktionierte Kino des Ex’n’Pop. Außer dem Pulk von Hildesheimer Studenten gibt es noch ein paar andere Teilnehmer. Iris, eine der Veranstalterinnen, sagt, dass es zwei Runden geben wird. Nur zehn kommen weiter. Keine Ahnung, wie ich die anderen Kandidaten einschätzen soll. Ich bin froh, dass es Bier gibt. Die Kneipe ist ranziger, als ich es erwartet habe, aber es gibt eine Kiste Bier für alle. Bier ist nötig. Effe, die Schlange hat gleich seinen eigenen Jägermeister mitgebracht und seinen eigenen Fanclub. Wenn ich nicht wenigstens ein bisschen betrunken bin, falle ich auf der Bühne da um. Für Effe gilt dasselbe, nur umgekehrt: Wenn er noch betrunkener wird, fällt er auf der Bühne da um. Oder einfach runter. Die Bühne ist ziemlich schmal, aber immerhin tief. Ich nehme mir mein Handy und höre mir noch ein paar Mal meinen Song an. »Toys and Flavours« von den Hellacopters. Ein wahres Prachtstück der schwedischen Rockmusik. Dicht und laut, aber artikuliert.

Mein Bier ist leer, aber ich bin noch nicht betrunken, nur irgendwie nervös. Ich weiß, was ich hier mache. Ich schwitze und trinke Bier – mehr nicht. Diese ganze Situation ist unangenehm. Ich mag es nicht, wenn es so heiß ist. Die Hinfahrt war ätzend. Ich habe mein Sakko vergessen, und dann ist auch noch das Auto liegen geblieben. Ich habe das Gefühl, dass ich in einen warmen nassen Lappen gewickelt worden bin. Kälte ist nur noch eine blasse Erinnerung. Ich bin nicht gerade hoffnungsvoll. Meine Performance ist nicht die beste, und so richtig gut geübt habe ich sie auch nicht. Die anderen sind besser. Aber ohne Auftritt kein Schein.

Quatsch. Für den Schein bin ich natürlich nicht hier. Ich bin hier zum Spaß, auch wenn es sich gerade nicht so anfühlt. Scheiß Hitze. Iris sagt, dass es gleich losgeht. Wir stehen im Backstage-Ausgang, der gleichzeitig der Gang zum Klo ist. Mein Adrenalin-Spiegel steigt. Hab ich alles? Ich weiß nicht mehr genau, wann ich dran bin, aber immerhin nicht als Erster. Erster zu sein, ist scheiße. Erster zu sein, ist immer scheiße. Die Vorstellungsrunde beginnt. Friedericke ruft jeden Teilnehmer mit Künstlernamen auf die Bühne. Mal sehen, ob sie Lester »Lixx« Dickson sagen kann. Sie kann. Ich winke leidlich schmierig dem Publikum, das ich nicht sehen kann. Ohne meine Brille und obendrein mit der Leuchtkraft von fünf Bühnenscheinwerfern konfrontiert sehe ich nichts. Nur meine Sonnenbrille rettet noch mein Augenlicht. Wieder runter von der Bühne. Am Bühnenrand warten wir wie die Hühner auf der Stange. Wir feuern uns gegenseitig an. Effe hat Spaß auf der Bühne. Ein bisschen unkoordinierten Spaß. Sieht die Jury anders. Die Jury sieht einiges anders als ich. Aber Hildesheim räumt gut ab. Ich bin dran. Ich glaube nicht, dass es sich noch lohnt, auf die Bühne zu gehen. Es ist so verdammt warm. Friedericke kündigt mich an. Panik. Ich gehe die drei Stufen zur Bühne hoch. Die Bühne ist noch kleiner geworden. Ich komme die drei Stufen der viel zu kleinen Bühne herunter. Ich habe keine Ahnung, was in den letzten 60 Sekunden passiert ist. Ich glaube, ich habe Luftgitarre gespielt. Ich hätte ja auf das Urteil der Jury warten sollen, bevor ich die Bühne verlasse. Ich will es gar nicht wissen, aber: solide Unterkante. Dreck. War zu erwarten. Ich frage mich, ob ich mehr Punkte als der besoffene Effe habe. »Ergebnisse gibt’s gleich. Lester hat nicht genug gelickt für das strenge Gericht. Aber zwei der drei ersten Plätze sollten wir stellen«, schreibe ich Mathias per SMS. Die zweite Runde kann ich mir abschminken. Die anderen ziehen ihre Performances durch. Ich gehe nach hinten. Kein Bier mehr da. Immer noch warm. Gleich kommt der Weltmeister im Air-Drumming als Pausenfüller. Er sieht aus wie Napoleon Dynamite und trommelt wie ein Irrer in der Luft herum. Der Weltmeistertitel ist verdient. Wenn ich nur halb so gut Luftgitarre spielen würde wie er trommelt, wäre ich mindestens in der zweiten Runde. Es ist heiß und ich frage mich, was ich hier eigentlich mache.

Bildquellen

  • Merlin Schumacher Luftgitarre: Four vs. Hellfire