Mathias Mertens Luftgitarre

Air Guitar Special: Medienästhetische Überlegungen zur Luftgitarre – 1. Teil

Warum spielen Menschen Luftgitarre? Und warum wird die Luftgitarre oftmals oberflächlich als ein Nichts missverstanden, obwohl sie Ausdruck von der Teilhabe an Rockkultur ist? Teil 1 von Mathias Mertens Text über die Luftgitarre.

1.

Wenn man als gemeiner Kulturkritiker einen Begriff braucht, um den seit Jahrtausenden andauernden Bildungsabbau und Selbstentmündigungsprozess des Menschen zu bezeichnen, dann greift man auf sie zurück: die Luftgitarre. Wenn es darum geht, dass die Leute nichts mehr können, aber alles wollen, dann hilft die Luftgitarre, anschaulich zu machen, dass nur so getan wird und nichts dahinter ist. Jemanden des Luftgitarrenspielens zu überführen ist die zeitgemäße Variante von Des Kaisers neue Kleider.

Zwei der meistzitierten Artikel zur Regierungszeit Schröders bedienen sich der Metapher: Cordt Schnibbens Text im Spiegel aus dem Jahr 1998, in dem er dem Kanzlerkandidaten bescheinigt, dass er »virtuos an der Luftgitarre« (Schnibben 1998) sei. Und Ulf Poschardts 2005er Bilanz der Schröder-Ära in der ZEIT, in der es heißt, dass der Kanzler zwar »in den Medien als Popstar brilliert, im Kabinett wie in der SPD [aber] zum Spielen der Luftgitarre verdammt« (Poschardt 2005) sei. Der Dämon des Uneigentlichen war nie sinnfälliger verkörpert als in der Person, die Gitarrengriffe macht, ohne je einen Ton zu erzeugen.

2.

So verstanden ist die Metapher allerdings aus der Luft gegriffen (vom dazugehörigen Argument ganz zu schweigen), denn die Luftgitarre ist weder auf nichts bezogen, noch steht sie für sich allein. Der Kulturkritiker sieht nur die Oberfläche des Ergebnisses und ignoriert vollständig die Umstände, aus denen diese ästhetische Praxis hervorgegangen ist. Die Luftgitarre ist als Reaktion auf kollektiv erfahrbare Musik entstanden, sie ist Ausdruck von Teilhabe an der Rock-Kultur und sie funktioniert nur als Feedback in einem Regelkreis von ästhetischer Produktion und Rezeption, als ein »vervielfältigtes menschliches Echo des Gitarristen auf der Bühne« (Bentz van den Berg 1999, 8), wie es Roel Bentz van den Berg emphatisch formuliert hat, als ein Widerhallen eines Lieds »zwischen den Außenmauern der Welt und den Innenmauern der eigenen Seele, […] so lange, bis das Echo, das sich mit all dem füllt, wogegen es unterwegs stößt, wie in einem Spiegel aus Schall ein menschliches Antlitz angenommen hat, das einem bekannt vorkommt« (ebd., 8f.). Nur weil man gesehen hat, wie andere Luftgitarre spielen, spielt man sie auch selbst, wodurch die anderen sehen, dass Luftgitarre gespielt wird und sich bestätigt fühlen. Wenn die Luftgitarre überhaupt als Metapher dient, dann nur für populäre Musik. Denn die hat so schon immer funktioniert: als sich selbst bestätigende und dadurch hervorbringende ästhetische Praxis, die von einem Kollektiv von Individuen betrieben wird.

3.

Im Stadion hat populäre Musik in den 1980er Jahren zu sich gefunden (sie hat sich dabei wohl auch aufgezehrt, aber das ist eine andere Geschichte und soll den Kulturkritikern zur Erzählung überlassen bleiben). Populäre Musik ist hierbei nicht gleichzusetzen mit Popmusik: zwar ist sehr viel Popmusik auch populäre Musik, aber es gibt auch Popmusik, die nicht populär ist, weil sie gerade nicht in Stadien funktionieren kann und auch geflissentlich gegen diese Stadiontauglichkeit von Produzenten und Rezipienten als statusgenerierende Differenzqualität kultiviert wird. Zudem gibt es noch andere Musik, die populäre Musik ist, Rock beispielsweise und Heavy Metal – die natürlich auch ihre elitären Ausprägungen besitzen: Independent Rock (manchmal), oder Death und Black Metal (außerhalb von Norwegen).

Wie auch immer: Stadionhaftigkeit ist Telos populärer Musik, und zwar weil sie die größtmögliche leibliche Kopräsenz von Musikproduzenten und Musikrezipienten darstellt, um dieses theaterwissenschaftliche Minimalsystem zu bemühen. Im Unterschied zum Theater ist die Aufführung hier aber nicht das fetischisierte Original, sondern die Feier des bereits verkündeten Evangeliums, die Eucharistie. Man geht nicht ins Stadion, um einer Band dabei zuzuhören, wie sie Musik macht – das ist bei der zur Beschallung von 50.000 Menschen nötigen dazwischengeschalteten Technik ohnehin nicht möglich. Man geht ins Stadion, um dabei zu sein, wie diejenigen, die für die Aufnahmen, die man zuhause gehört hat, verantwortlich sind, als Oblaten dienen für die Evokation der gemeinschaftlichen Körperschaft der populären Musik. Religiös sind Rock und Pop nie deshalb gewesen, weil sie einer Gottheit gehuldigt hätten, ein Moralsystem installieren wollten oder die Fragen nach den ersten und letzten Dingen klären konnten, religiös waren sie immer nur in dieser gegenwärtigen Feier der Gemeinde, dieser Kommunion mit den Exegeten, dieser Konfirmation des Glaubens an den unzählige Male auf dem heimischen Plattenspieler oder im Rundfunk gehörten Text.

4.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts brauchte es diese Stadionhaftigkeit nicht. Es brauchte sie nicht, weil sie technisch überhaupt nicht möglich war. Musik fand entweder in einem perfekt ausgearbeiteten Apparat statt, der ein genau austariertes Verhältnis von Instrumenten, Instrumentalisten und Zuhörern besaß, und für den seit vielen Jahrzehnten Menschen immer wieder Stücke schrieben. Oder sie fand ad hoc für eine kleine Gruppe von Menschen statt, die viel öfter selbst beteiligt waren, als dass sie bloße Zuhörer gewesen wären. Das waren die beiden Ausprägungen höfische Musik/später klassische Musik und Volksmusik.

Die sogenannte klassische Musik unterscheidet sich von anderer Musik nicht wegen eines bestimmten Habitus oder bestimmter kultureller Ansprüche (das sind alles Sekundärphänomene, die heutzutage gepflegt werden, weil sonst nichts mehr übrig geblieben ist) sondern wegen ihrer immensen Abhängigkeit von einer bestimmten technischen Anordnung. Wenn man laute wie leise Passagen produzieren, wenn man sowohl Melodien wie differenzierte Begleitung, Bässe, Mitten und Höhen haben, wenn man zudem noch ein Publikum damit beglücken wollte, dann führte kein Weg an den großen Streichergruppen und den gewieft ausgetüftelten Holz- und Blechbläsersektionen vorbei. Anders war so ein Sound überhaupt nicht zu erzeugen, der bestimmte Räume füllen konnte. Und wenn man an dieses Orchester gebunden war, dann forderte es auch einen bestimmten Stil heraus, denn die vorhandenen Instrumente in ihren entsprechenden Stärken wollten auch eingesetzt werden. An der Fantasie, dass Beethoven, hätte er die instrumentalen Möglichkeiten des späten 20. Jahrhunderts gehabt, Heavy Metal-Musiker geworden wäre, der unter anderem der Film Bill & Teds verrückte Reise durch die Zeit (USA 1988, Stephen Herek) frönt, ist in diesem medienpragmatischen Sinn sicher etwas dran; es erscheint zumindest nicht unplausibel.

Volksmusik – und hier darf man natürlich nicht Volksmusik mit Volksmusik oder Folkmusic verwechseln, beides auf bestimmte Images und musikalische Parameter verdichtete Markenwaren, die zu einer bestimmten Zeit sehr gut multimedial zu vermarkten waren – Volksmusik dagegen zeichnete sich durch die komplette Autarkie aus, die Unabhängigkeit von jeglichem Apparat. Volksmusik musste stattfinden können, wann immer und wo auch immer Menschen Musik machen wollten, was nicht ausschloss, dass auch sie Instrumente, Inszenierungen und Ideologien benutzte, was aber nur Handhabungen waren und nicht Grundbedingungen. Als immer und überall stattfinden könnende Praxis zeichnete sich Volksmusik durch zwei Merkmale aus: 1. die Reduktion auf einprägsame, einstimmige und leicht zu singende Tonfolgen, Melodien, und 2. die Kultivierung von Rhythmen. Melodien waren und sind Gefühlsträger, Rhythmen waren und sind Körperphänomene. ›Alle stimmen ein‹, das bezeichnet sehr gut, wie Volksmusik zur Herausbildung von Körperschaften wie Gemeinden funktionieren konnte.

5.

Was Volksmusik allerdings nachhaltig veränderte, war die elektrische Revolution, die im 20. Jahrhundert einsetzte und die eine Fülle von leicht zugänglichen und leicht zu benutzenden Apparaten mit sich brachte. Mikrophon, Grammophon und Radio konnten einmalig produzierte Melodien konservieren und verbreiten, ohne dass sie sich erst durch permanente Reproduktion durch viele singende Menschen fortsetzen und ins kulturelle Gedächtnis einschreiben mussten. Elektrisches Licht, Verstärker und Lautsprecher machten es möglich, dass in den durch Industriearbeiter gewachsenen Städten Tanzvergnügen an den Abenden nach den Arbeitsschichten in sonst dunklen Kellerräumen und nicht mehr nur Sonntag mittags in Konzertmuscheln stattfinden konnten, zudem durch eine kostengünstige kleine Instrumentalgruppe. Schließlich kam es zur Herausbildung spezieller elektrifizierter Musikinstrumente. Die kulturelle Zusammenschaltung dieser sich massenhaft verbreitenden Apparate erzeugte den großen, Produktion und Rezeption mitkoppelnden Resonanzraum, den Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (Horkheimer/Adorno 1947) richtig, aber einseitig als »Kulturindustrie« bezeichnet haben, der aber alle Aspekte berücksichtigend besser als ›Populärkultur‹ bezeichnet werden sollte.

Volksmusik beziehungsweise ihre Modifikation populäre Musik unterscheidet sich von sogenannter ›Klassischer Musik‹ immer noch durch die Unabhängigkeit von speziellen Apparaten, denn die totale Elektrifizierung der Gesellschaft und die massenhafte Verbreitung der neuen Apparate sorgte dafür, dass eine neue Natur entstand, ein neuer Alltag, in dem Beleuchtung, Rundfunk, konservierte Musik und Gelegenheit zu Freizeitvergnügen ebenso selbstverständlich und unsichtbar wurden wie die Abhängigkeit von sauerstoffreicher Luft, Schwerkraft, Erdachsenschiefstand und Photosynthese.

6.

Als kleinere Instrumentalensembles an kleineren Orten zu Zeiten außerhalb der Arbeitszeiten mit Liedern auftreten konnten, die die Menschen bereits zuhause im Radio oder auf dem Grammophon hören konnten, entstand eine wachsende Nachfrage nach Live-Musik, die nur durch das Touren durch die Städte und die Gründung von immer mehr Bands befriedigt werden konnte. Touren war aufwändig und teuer, und je mehr Mitglieder eine Band hatte, desto aufwändiger und teurer war es; um Bands zu gründen, brauchte es Musiker, und nicht jeder war dazu geboren, ein herausragender Saxophonist, Posaunist oder Trompeter zu sein. Die Elektrifizierung eines Instruments, das bisher nur ein Schattendasein in der Rhythmussektion der Bands gespielt hatte, löste auf Dauer diese Probleme.

Denn der große Vorteil der Gitarre – dass sich nämlich sowohl rhythmische Akkorde wie auch Melodien produzieren ließen – konnte nun ausgespielt werden, weil elektrische Tonabnehmer und Verstärker ihren entscheidenden Nachteil beseitigen konnten: sie war in ihrer akustischen Fassung zu leise und zu undifferenziert, als dass sie einen Bandsound hätte tragen können. Als E-Gitarre kam sie dagegen voll zum Tragen. Hinzu kam ihr zweiter Vorteil: mit ihrer pentatonischen Stimmung ist sie ein relativ leicht zu lernendes und schnell Erfolg bringendes Instrument, das zudem noch durch eigenen Gesang ergänzt werden kann, was dafür sorgt, dass sehr viele Menschen Musiker werden, die es mit schwieriger zu spielenden und weniger zur Show geeigneten Instrumenten niemals ausgehalten hätten. Mit wichtigen Fremdwörtern ausgedrückt: die Zugänglichkeitsschwelle zu diesem Instrument ist sehr niedrig, was seine Ubiquität befördert, und durch seine Versatilität gekoppelt mit Elektrifizierung ist sein musikalischer Dominanzfaktor sehr hoch.

7.

Man kann alle Instrumente elektrifizieren, aber nur zwei davon haben sich als eigenständige Instrumente und nicht bloß als interessante Varianten durchgesetzt: Klavier und Gitarre, erstes als Synthesizer, zweites als E-Gitarre. Und dass es diese beiden sind, hat nicht nur den primären Grund, dass sie am verstärkungsbedürftigsten waren, um sich in einem Instrumentalensemble durchzusetzen, sondern auf Dauer dann den sekundären Grund, dass sie am überzeugendsten eine elektrische Ästhetik verkörpern können. Denn sehr schnell wurde klar, dass hier etwas Unerhörtes passierte. Nicht nur, dass die Töne schärfer klangen, metallischer, aggressiver, das hätte man noch unter Variation des Instruments klassifizieren können, es war mit dem simplen Akt der Elektrifizierung eine phänomenologische Schwelle überschritten worden. Töne werden bei der E-Gitarre nicht mehr durch kunstvolle Werkzeuge manipuliert, sie werden durch eine Apparatur ›abgenommen‹ und verarbeitet, sie werden entnaturalisiert und synthetisiert. Der Synthesizer verzichtet sogar auf den letzten Rest von naturalistischer Rhetorik und empfängt nur noch die Daten für Tonhöhe und Tondauer, um dann alles völlig selbstständig zu verrichten.

Immer noch, auch nach Jahrzehnten der Gewöhnung, wohnt dem Klang einer E-Gitarre eine unverständliche Fremdartigkeit inne. Wie er zustande kommt, kann man abstrakt erklären und verstehen, intuitiv begreifen kann man Elektromagnetismus allerdings nicht, nicht so wie Schwingungen eines Trommelfells, eines Resonanzbodens oder die Vibrationen eines Luftstroms in einer Röhre. Elektrizität, wenngleich ein Naturphänomen, gehört nicht zum Habitat des Homo Sapiens. Wärme, Feuchtigkeit, Luftvibration, Wellenlänge von Lichtstrahlen, Schwerkraft, Solidität, stoffliche Zusammensetzung, kurzum Thermodynamik und Biochemie, alles das sind nachvollziehbare Phänomene, weil sich die Spezies unter diesen Bedingungen entwickelt und auf sie eingestellt hat. Die klassische Elementenlehre von Erde, Feuer, Wasser und Luft ist Ausdruck dieses Verständnisses der Existenz in diesem Habitat. Elektrizität tauchte über Hunderttausende von Jahren hinweg bestenfalls als blitzschnelle atmosphärische Entladung auf, ohne dass man sie hätte fassen können, so dass sie nur als jenseitiges, als göttliches Phänomen überhaupt zu begreifen waren. Der höchste aller Götter, derjenige, der am weitesten weg von den Menschen und ihren Nöten war, der am meisten dem Göttlichen verhaftet war, musste der Blitzeschleuderer und/oder der Donnermacher sein. Denn er griff nur im äußersten Fall ein, wenn alle anderen Götter nicht mehr konnten, aber dann entlud sich sein Zorn über die Unfähigkeit und Beschränktheit der Götter und der Menschen.

Teil 1 von 3

Dieser Text erschien zuerst in:
Rolf F. Nohr, Herbert Schwaab (Hg.): Metal Matters. Heavy Metal als Kultur und Welt. Münster, 2011. S. 225-241

Literatur

Bentz van den Berg, Roel (1999) Die Luftgitarre. Bowie, Springsteen und all die anderen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Horkheimer, Max und Theodor W. Adorno (1947) Dialektik der Aufklärung. Amsterdam: Querido.
Millard, André (Hrsg.) (2004) The Electric Guitar. History of an American Icon. Baltimore: The Johns Hopkins University Press.
Millard, André (2004a) Introduction. American Icon. In: Millard 2004, S. 1-15.
Millard, André (2004b) The Guitar Hero. In: Millard 2004, S. 143-162.
Poschardt, Ulf (2005) An der Luftgitarre. In: Die ZEIT 37.
Schnibben, Cordt (1998) Virtuos an der Luftgitarre. In: Der Spiegel 32.

Filmografie

Bill & Teds verrückte Reise durch die Zeit (USA 1988, Stephen Herek)
Lockere Geschäfte (USA 1983, Paul Brickmann),
Zurück in die Zukunft (USA 1985, Robert Zemeckis)
8½ (Italien/Frankreich 1963, Federico Fellini)

Diskografie

Extreme (Extreme, A&M Records 1989)
Johnny B. Goode (Chuck Berry, Arc Music 1958)
Let There Be Rock (AC/DC, Albert Productions 1977)
Powerage (AC/DC, Atlantic Rec. 1978)
Rock Around the Clock (Bill Haley and His Comets, Decca 1954)
Stranger In Town (Bob Seger, Capitol Rec. 1979)
Van Halen (Van Halen, Warner 1978)

Bildquellen

  • Mathias Mertens Luftgitarre: Four vs. Hellfire

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