Tocotronic at Dockville festival

Alter allein ist kein Verdienst

Yvonne Franke schreibt darüber, warum unsere Rolling Stones Tocotronic heißen.

Wenn man, so wie ich, noch nie länger als drei Jahre bei einer Sache geblieben ist, empfindet man schon Respekt für Leute wie die Rolling Stones, die diese Rockstarsache jetzt seit 53 Jahren durchziehen. Die Jungs gehen inzwischen mit Riesenschritten auf die 80 zu und sind gerade mal wieder auf Nordamerikatour. Allerdings nicht, wie zum Beispiel Bryan Ferry, mit Swingklassikern im Gepäck, sondern noch immer auf Unterwäschejagd mit Honky-Tonk-Hüftschwung.
Will das noch jemand sehen? Und wenn ja – warum?
Weil die Kerle nun mal Legenden sind?
Weil man die Beatles leider verpasst hat?
Weil es die letzte Chance sein könnte und man später mal sagen kann: die habe ich noch live gesehen?
Versuchen diese älteren Herren nicht ein Lebensgefühl zu vermitteln, dass sie selbst längst nicht mehr empfinden?
Ist das alles nicht für unsere Elterngeneration besser nachvollziehbar?
Alles Fragen, die sich ein Mensch meines Alters (wahnsinnig jugendliche 35 Jahre) nur beantworten kann, indem er ein Tocotronic-Konzert besucht und sich dabei genau beobachtet.
Da steht also dieser Dirk von Lowtzow auf der Bühne, im Longsleeve und mit geballter Faust, wie früher. Nur die Haare sind jetzt eben grau, aber das sieht ziemlich gut aus. Ich bin begeistert.
Die Band formiert sich auf engstem Raum in der Mitte einer ansonsten leeren Bühne des Zenith in München. Das wirkt, als hätte man ein Rockkonzert für die Theaterbühne inszeniert, unwirklich in den Raum gestellt. Das Klischeebild eines Tocotronic-Konzerts, wie ich es im Kopf hatte, wenn ich mit 17 eine ihrer Platten hörte. Da ist er also schon: der Startschuss für einen Nostalgietrip. Und das noch bevor eine einzige Note gespielt wurde.
Die Jungs sind jetzt über vierzig und noch immer ziemlich erfolgreich. Ich glaube ihnen, dass sie ihre innere Rebellion, die vor zwanzig Jahren zu Texten und Kompositionen führte, noch klar vor Augen haben, doch langsam verklärt sich die Empörung aus einer bequemeren Position heraus zu einer lieb gewonnenen Erinnerung. Nun versuchen sie den Begriff Erwachsensein (Bäh!) neu zu definieren. Er soll nichts mehr mit einem Lebensalter zu tun haben, sondern nur noch mit einer Lebenseinstellung. Die Erwachsenen sind die Spießer. Die die streng mit sich, aber vor allen Dingen mit Anderen sind. Die grauen Herren also, die jeder Zeit den Profit und die Pflicht dem Spaß vorziehen. Gegen die kann man auch mit 42 noch rebellieren. Dieser Definition zufolge kann man, auch längst ergraut, noch singen:

„Wir sind Babys.
Sie erziehen uns nicht.
Wir sind Babys.
Wir spucken ihnen ins Gesicht.“

Worte übrigens, die nicht bereits 20 Jahre alt sind, sondern von der aktuellen Tocotronic-Platte „Das Rote Album“ stammen, das in diesem Jahr erschien.
Im Publikum (Altersdurchschnitt ungefähr 35. Überraschung.) wird der Song gefeiert wie ein Klassiker.
Und auch mich kriegen sie damit. Ich tanze und ich singe mit – inbrünstiger, als ich es mit 17 getan hätte.
Nach dem Konzert bin ich glücklich. Wie schön. Es ist alles noch da. Sie sind noch da, ich bin noch da. Wir haben uns bloß außen herum verändert. Und nicht einmal unbedingt zum Nachteil.
Es dauert vier Tage, bis ich beginne, mich zu fühlen wie ein grauer Herr, der mit überschlagenen Beinen auf dem Wohnzimmersofa sitzt und alle Barry-Gibb-Songtexte auswendig mitsingt.
Hoffentlich spuckt mir niemand ins Gesicht.