Alternative Leitkultur: Deutsch sein mal anders

Die Leitkultur-Debatte wird von Konservativen und Rechten bestimmt. Doch gerade die deutsche Kulturgeschichte bietet genügend Beispiele, deutsch als links und progressiv zu definieren.

„Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage ‚was ist deutsch?‘ niemals ausstirbt“, schrieb Friedrich Nietzsche 1886. Er sollte bis heute recht behalten.
Insbesondere im Vorfeld von Bundestagswahlen, wenn der rechte Rand die Volksparteien thematisch vor sich hertreibt, versucht die politische Mitte mit Themen wie innerer Sicherheit und der leidigen Leitkultur eben jene Rechtsaußen rechts zu überholen.
Zuletzt stellte Thomas De Maizière mal wieder die Frage, was deutsch ist. Zeugt es nicht eigentlich von mangelndem Selbstbewusstsein, sich ständig seiner eigenen Identität vergewissern zu müssen?

Was ist deutsch?

Deutsch ist eine Sprache, die sich erlernen lässt, und deutsch ist eine Staatsangehörigkeit, die sich im Rahmen bestimmter Gesetze erlangen lässt. Darüber hinaus ist die Beantwortung der Frage nach dem, was deutsch ist, stets willkürlich.
Leitkultur als Suche nach nationaler Identität ist der Versuch, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu konstruieren, dessen vornehmlicher Zweck der Ausschluss anderer Menschen ist – sowohl Menschen mit anderer Herkunft als auch mit anderer Weltanschauung. Dementsprechend ist die Leitkultur seit jeher ein Projekt der Konservativen, um im Wandel der Zeit ihre Illusion von Ordnung und Stabilität sowie Identifikation und homogener Gemeinschaft aufrechtzuerhalten.
Doch warum sollte dieser reaktionäre Diskurs ausschließlich von der politischen Rechten bestimmt werden? Stattdessen könnte sich die politische Linke der Leitkultur annehmen, sie von der Frage nach nationaler Identität lösen und sie anhand progressiver Ideale ausrichten. Speziell die deutsche Kulturgeschichte bietet diesbezüglich echte Alternativen für Deutschland.

Märchenhaftes Deutschland

So zum Beispiel Heinrich Heine, der kurzzeitig sein Frankreich-Exil verließ, um über Aachen, Köln und Hannover in seine Heimatstadt Hamburg zu reisen. Seine Erlebnisse und Eindrücke schilderte er in dem 1844 veröffentlichten Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen.
Schon damals bemängelte Heine die deutsche Rückwärtsgewandtheit und Spießigkeit. Auch der Nationalismus – seinerzeit eigentlich eine Emanzipationsbewegung gegen die vorherrschende Monarchie – war ihm zu wider: „Auch deine Fahne gefällt mir nicht mehr,/Die altdeutschen Narren verdarben/Mir schon in der Burschenschaft die Lust/An den schwarz-roth-goldnen Farben.“ In gewisser Weise nahm Heine sogar die Populisten vorweg: „Fatal ist mir das Lumpenpack,/Das, um die Herzen zu rühren,/Den Patriotismus trägt zur Schau/Mit allen seinen Geschwüren.“
Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass der Titel von Heines deutschlandkritischem Text für den Dokumentarfilm zur Fußball-WM 2006, die den Beginn eines neuen, fähnchenschwenkenden Hurrapatriotismus darstellte, verballhornt wurde.

Sozialkritik

Deutschland besitzt eine lange Tradition linker Sozialkritik. Heines Zeitgenosse Georg Büchner forderte: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ Überstrahlt wird jegliche sozialrevolutionäre Haltung selbstverständlich von dem einen Deutschen, der wie kein zweiter die Welt mit Hilfe seiner Schriften maßgeblich veränderte und damit den Beweis für die Kraft der Ideen und die Macht des geschriebenen Wortes lieferte: Karl Marx.
Neben ihrer politischen Wirkung beeinflusste die marxistische Lehre zudem Intellektuelle wie Walter Benjamin, Hannah Arendt oder Theodor W. Adorno und seine Frankfurter Schule. Medienwirksame Intellektuelle dieses Kalibers sucht man heutzutage vergebens.
Aber an die sozialistische oder zumindest sozialdemokratische Tradition hierzulande scheint sich derzeit niemand mehr erinnern zu können.

Nihilismus

Der vielleicht radikalste deutsche Denker war der eingangs zitierte Nietzsche; der Philosoph mit dem Hammer, der alles zertrümmert. Sein Übermensch war alles andere als ein arischer Herrenmensch. Nietzsche propagierte die absolute Anti-Autorität, nach der sich das Individuum von sämtlichen inneren und äußeren Zwängen befreien sollte, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dabei beschrieb Nietzsche mit der Umwertung aller Werte die Abkehr von sämtlichen vorgegebenen Moralvorstellungen, gesellschaftlichen Konventionen und anderen Reglements sowie ihren entsprechenden Leitinstanzen – egal ob diese sich nun Gott, Führer oder Kapital nennen.
Nietzsche war zunächst stark von Arthur Schopenhauer beeinflusst, der als einer der ersten westlichen Autoren überhaupt den Buddhismus rezipierte. Jede Leitkulturdebatte würde Schopenhauer mit der Feststellung im Keim ersticken, dass Nationalität keine Leistung ist und es daher keine Grund gibt, darauf stolz zu sein:

Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte, indem er sonst nicht zu dem greifen würde, was er mit so vielen Millionen teilt. Wer bedeutende persönliche Vorzüge besitzt, wird vielmehr die Fehler seiner eigenen Nation, da er sie beständig vor Augen hat, am deutlichsten erkennen. Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein.

Man stelle sich eine deutsche Leitkultur vor, die sich auf diese Persönlichkeiten und ihre Weltbilder beriefe. Ich wäre beinahe stolz darauf, Deutscher zu sein – nur im selben Atemzug jeglichem Patriotismus selbstbewusst eine Absage zu erteilen.

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