Der Film Glossary of Broken Dreams oder: Im Schlachthaus Zum Goldenen Kalb

Ein ausuferndes Gespräch mit dem Filmemacher Johannes Grenzfurthner über seinen neuen Film Glossary of Broken Dreams.

Vor etwas über zwei Jahren sprach zebrabutter-Autor Thomas Kaestle mit dem österreichischen Universalnerd und monochrom-Gründer Johannes Grenzfurthner über dessen damals brandneuen Film Traceroute. In diesem autobiografischen Road-Movie reist der Filmemacher hakenschlagend durch seine Vergangenheit als Nerd, Künstler, Aktivist und Diskursproduzent. Er pilgert assoziativ durch die USA zu heiligen Stätten seines jahrzehntelangen Erkenntnisgewinns und huldigt Göttern der Technik- und Popkultur.

Grenzfurthners neuer Film, Glossary of Broken Dreams, ist Fortsetzung und Gegenthese zugleich. Mit kleinem Budget als Monumental-Puzzle produziert, nimmt er sein Publikum mit durch eine Enzyklopädie abgenutzter, falsch verstandener und korrumpierter Begriffe und Ideen. Brisant wird das durch den Umstand, dass es sich dabei ausgerechnet um das Lieblingsvokabular aktueller Diskurse handelt, um goldene Kälber zeitgenössischer Auseinandersetzungen um Politik und Gesellschaft. Grenzfurthner führt sie lustvoll zur Schlachtbank, um in ihren Gedärmen zu wühlen und daraus eine unsichere Zukunft zu lesen.

Also sprach Thomas Kaestle wieder mit Grenzfurthner, diesmal über Begriffs- und Diskursdekonstruktion, vermeintliche Sicherheit in falsch konstruierten Zusammenhängen, gesellschaftlichen und politischen Wandel, Fragmentarisierung von gedanklichen Lagern, liebgewonnene Ideen, Loslassen, Daleks und Cthulhu.

Babylonische Kontextverwirrung

Der Film beginnt mit einem Zitat von Iain M. Banks: “The trouble with writing fiction is that it has to make sense, whereas real life doesn’t.” Nun verspricht ein Glossar ja normalerweise eher so etwas wie Sinnhaftigkeit durch Kontextualisierung. Ist das hier anders? Versuchst Du, alltäglich gewordenen Begriffen wieder Sinn zu verleihen – oder eher, ihren etablierten Sinn zu hinterfragen? Kannst Du sie mit neuem Sinn füllen? Oder bleiben sie als leere Worthülsen zurück? Anders gefragt: Kokettierst Du eher durch das Zitat oder durch das Versprechen eines Glossars?

Ich kokettiere as fuck, das gebe ich unumwunden zu. Zerplatzte Träume werden ja gemeinhin nicht stichwortartig erfasst und katalogisiert, ganz im Gegenteil. Träume in Filmen und der Literatur haben immer etwas Romantisches und Poetisches. Damit wollte ich im Titel spielen. Glossary of Broken Dreams ist ein unterhaltsam-unangenehmer Film, würde ich sagen. Er ist aus der Frustration entstanden, dass die Kultur des Politisierens (nicht nur) auf digitalen Plattformen eine radikale Fragmentierung und Fraktalisierung erfahren hat, sodass man kaum noch von Diskurs reden kann. Es ist eine babylonische Sprach- und Kontextverwirrung, die mir als Nerd zwar gefällt, aber als politisches Wesen, das auch etwas gesellschaftlich weiterbringen will, einfach überhaupt nicht.

Alle nehmen sie große Worte in den Mund. Widerstand! Privatsphäre! Aktivismus! Markt! Die Linke! Und dennoch hat niemand eine Ahnung, was sie bedeuten – oder was diese diskursiven Totschläger bringen sollen. Da habe ich einen, wenn auch verschrobenen, Volksbildungsanspruch. Ich versuche, soweit es geht, den Begriffen neues Leben einzuhauchen, aber bei manchen ist es einfach wirklich zu spät. Da hat die Leichenstarre schon eingesetzt und wir sollten uns wirklich von ihnen verabschieden. Das Anfangszitat von Iain M. Banks steckt natürlich einen Rahmen ab. Es ist der erste Hinweis darauf, dass wir es hier weder mit einer klassischen Dokumentation noch mit einem Spielfilm zu tun haben, sondern mit etwas anderem.

Da kam mir Banks sehr gelegen. Ich habe ihn wirklich wie kaum einen Schriftsteller geschätzt, denn er hat in seinem utopischen Gesellschaftsentwurf, der Culture, wunderbar herausgearbeitet, was das Problem liberaler Gesellschaftsordnungen ist – auch deswegen gebührt ihm die Ehre des ersten Satzes. Ich folge nach, definiere mich schon sehr bald als Erzählerfigur und Moderator, denunziere mich stolz als Lumpennerd, und versuche dann die für mich wichtigsten politischen Begriffe und Konzepte des frühen 21. Jahrhunderts zu erklären. Es ging mir um eine Bewertung, aber wo notwendig auch um eine Opferung. Weg mit den goldenen Kälbern! Nur die dümmsten wählen ihre Vergolder selbst!

Ein Trümmerhaufen mit Potential

In Deinem letzten Film Traceroute gestehst Du den inneren Drang ein, in jedem Deiner Filme Pachelbels Kanon in D-Dur verwenden zu müssen. Hier taucht er in einer Art Hip-Hop-Version auf. Ist er Dein Anker in die Populärkultur? Steht er stellvertretend für viele andere Bezüge, Kontexte und Klischees, die Deine Sozialisation geprägt haben?

Ja, im Intro von Traceroute gestehe ich, dass das Lied für mich schon seit den frühen 1980er Jahren sehr wichtig ist, weil ich es dort zum ersten Mal gehört habe, und zwar als Teil der Fernsehserie Unser Kosmos von Carl Sagan. Es gab im Laufe meines Lebens ein paar alles in Frage stellende Erkenntnisereignisse, meist politische, und diese TV-Serie zählte definitiv dazu. Es war mein erster Kontakt mit Empirie, mit Wissenschaft, aber auch ein Umarmen des Staunens, des Sich-wundern-Könnens, aber auch des Es-egal-finden-Könnens, wenn man mal nicht alles versteht. Denn das ist Teil des Menschseins.

Ich bin auch in einer Zeit und mit einer Zeit aufgewachsen, in der es ja nichts mehr gab jenseits der Popkultur. Selbst solche Leute wie Marcel Reich-Ranicki oder andere Propheten des schweinsledernen Bildungsbürgertums wurden mir ja durch TV-Kanäle und Fernsehhahnenkämpfe präsentiert. Wann wäre ich denn schon groß ins Theater gekommen, oder ins Museum, oder zu einem echten Konzert? Authentizität gab es nicht. Die Welt kam durch die Farbpunkte im Grundig daher. Welt war nur die Wahrnehmung von Kopien von Kopien von Kopien, und selbst das Original war schon eine Interpretation. Das ist natürlich gerade im Prozess des politischen Erwachsenwerdens schwierig. Ich war 16 als die UdSSR aufgelöst wurde. Als Kind hatte ich Angst vor dem Ostblock, aufgeheizt durch Kulturprodukte wie Rocky IV oder Red Dawn.

Und auf einmal war das weg. Die Geschichte meines Erwachsenwerdens begann sozusagen mit dem Ende der Geschichte. Mit welcher Selbstverständlichkeit war ich 1991 junger Antifaschist? Wofür lohnte es sich zu kämpfen? Einer dieser Kämpfe war zweifellos der Streit um die Diskurshoheit und die Hegemonie des Netzes. Wer würde da gewinnen? Die Libertarier*innen? Oder die Anarchos? Oder waren die nicht vielleicht sogar im gleichen Lager? Jetzt, 25 Jahre und dutzende digitale Revolutionen später, stehen wir vor den Trümmern der Möglichkeiten der Kommunikation. Auch damit beschäftigt sich mein Film. Denn dieser Trümmerhaufen hat auch jede Menge Potential.

Palimpsest aus der Zeitschleife

Ist der Film in Bezug zu Deinen bisherigen Veröffentlichungen gleich welcher Art eher Fortsetzung, Fußnote, Index, Kontext, Metaebene, Paraphrase – oder wirklich einfach Glossar?

Ich denke, dass Glossary of Broken Dreams als eine Art Fortsetzung von Traceroute gelesen werden kann. Ich halte ja beide Filme als Erzählerfigur zusammen. In Traceroute ging es mir darum, in meine eigene Geschichte einzutauchen und sie mit der Geschichte anderer Menschen, im konkreten Fall Nerds, kurzzuschließen. Traceroute war ein Road Movie zu interessanten Orten und Menschen und deren Widerständigkeit. Glossary of Broken Dreams ist eine Reise in die Tiefe von Begriffen und Konzepten. In Form von verschiedenen kurzfilmartigen Kapiteln, die auch ästhetisch sehr unterschiedlich gehalten sind, starte ich einen Vermittlungsversuch. Manchmal frage ich mich ja, ob der von Beginn an zum Scheitern verurteilt war. Aber wie ein Astronaut in einer Star-Trek’schen Zeitschleife hab ich es trotzdem gemacht.

Um auf Deine Frage zurückzukommen: Was ist der Film? Kontext, Fußnote, Metaebene? Irgendwie alles. Aber ein Ausdruck fehlt mir noch: Palimpsest.

Wie hast Du die Auswahl der Begriffe getroffen? Auf welche verzichtet? Oder bauen sie eher aufeinander auf, wie eine Erzählung? Begreifst Du den Film als Glossar zeitgenössischer Diskurse, spezifischer Kommunikation in sozialen Netzwerken, moderner westeuropäischer Gesellschaften, weltweiten Nerdtums – oder nur als persönliches Glossar von Johannes Grenzfurthner?

Es war für mich schon ein ziemlicher Kraftakt, weil ich ja eigentlich alle Kernfunktionen in der Produktion übernommen habe, aber es ist sicher nicht nur ein persönliches Glossar. Ich habe die theoretische Grundlage für den Film und auch viele der Texte ja gemeinsam mit Ishan Raval erarbeitet. Ich kann sagen, dass ich sowas wie einen intellektuellen Sparringpartner gebraucht habe, und da war Ishan genau der richtige. Er ist ja so wie ich ein richtiger Lumpennerd. Es war zudem spannend, dass Ishan zwar im Dumbfuckistan Amerikas (wie er North Carolina selber gerne nennt) zur Uni gegangen ist, aber eigentlich aus Indien stammt. Also hatten wir auch eine nicht-westliche Perspektive im Team, obwohl die Drehorte in Wien und in der Wildnis der niederösterreichischen Pampa gefunden wurden.

Viele der Begriffe standen gar nicht zur Debatte. Es war klar, dass wir mit Kapitalismus und Markt beginnen würden, dann über Freiheit und Widerstand reden wollten, von dort in den Aktivismus und die Medien, und so weiter. Wir hatten schon einen klaren Bogen vor Augen, der bei den Basics starten sollte und dann zunehmend komplexer und kontroverser werden sollte. Unsere Analyse und Zerlegung von identity politcs, zum Beispiel, ist ja nicht ohne, setzt aber schon was voraus.

Ishan und ich haben mit der wunderbaren Hilfe unseres Diskursschlächters Chris S. Sims die theoretischen Texte erarbeitet. Chris war deswegen so wichtig, weil er als Lektor bei Dungeons & Dragons einfach ein Auge für das Killen von Textbabies entwickelt hatte. Basierend auf dieser Textgrundlage habe ich dann die Charaktere und die Spielhandlung entwickelt und schnellstmöglich mit den Schauspieler*innen aufgenommen. Gleichzeitig habe ich bereits fertige Szenen geschnitten und in die entstehende Film-Timeline eingefügt. Es ging also alles parallel. Erarbeiten, schreiben, aufnehmen, schneiden. Und manchmal auch nicht einmal in dieser Reihenfolge. Es fühlte sich schon an, wie ein Puzzle zu entwickeln, das man gleichzeitig lösen will. Aber in der doch sehr schnellen Produktionszeit von ca. fünf Monaten war das auch zu machen, ohne vollkommen die Übersicht zu verlieren. Ich konnte das alles irgendwie im Kopf behalten und jonglieren.

Stafellauf mit sich selbst

Wie viele Freund*innen werden Dir auf die Schulter klopfen und sagen: “Genau Alter, so habe ich das alles auch schon immer gesehen!”? Im Film behauptest Du, er sei “a project with no measurable target audience”.

Da wir keine nennenswerten Förderungen erhalten habe, vor allem auch, weil wir gar nicht wirklich um Förderungen angesucht haben, gab es die klassische Filmförderrechtfertigungsmakulatur nicht. Wir haben einfach drauflos gearbeitet. Normalerweise geht ein Film ja durch etliche bürokratische Juryfeedbackloops, und das ist oft wirklich lähmend und elend und feilt vielen Projekten auch die Kanten ab. In meinem Fall hatte ich für einen abendfüllenden Film zwar nur 10.000 Euro Budget, aber dafür musste ich auch niemandem Rede und Antwort stehen. Klassische Produzent*innen und Filmjurys hätten mir so einen Film NIE durchgehen lassen, vor allem auch wegen der Frage: Wer will denn das sehen? Das war mir aber mehr oder weniger egal. Ich wollte einen Film machen, von dem ich der Meinung war, er sei notwendig. Und so ist er dann auch geworden.

Welche Reaktionen erwartest Du dennoch von Deinen Zuschauer*innen?

Alle, die den Film nicht schon nach einer halben Stunde wieder vergessen haben, werte ich schon als Plus. Wir leben ja in Zeiten radikaler Aufmerksamkeitsökonomie.

Die ersten Rezension sind auch schon eingetrudelt, und sie sind eigentlich alle sehr gut, aber sie sind von einer gewissen Erschlagenheit geprägt. Ich verhandle ja schon einen großen Brocken Material – lasse quasi die wichtigsten politischen Themen des frühen 21. Jahrhunderts direkt auf die Zuseher*innen los – und das bedeutet natürlich, dass die ersten Reflexionen eher welche über die Wucht sind, nicht über spezifischen Inhalte. Weiterhin erzähle ich alles natürlich unterhaltsam und witzig, aber die Inhalte sind oft nicht allzu schulterklopfeinladend. Was ich über Privatsphäre oder freedom of speech erzähle, das werden sicher nicht viele in unserer Blase wirklich hören wollen. Ich glaube, dass sich im ersten Teil des Films die klassischen Linken freuen wie wir die Liberalen bashen, aber dann kriegen auch die Linken ihr Fett weg. Im Endeffekt war es für Ishan und mich klar, dass die Linke der ultimative geplatzte Traum ist, und wir sagen das auch sehr direkt.

“Der Mensch ist ein narratives Lebewesen. Wir konstruieren emotionale Maschinen, so genannte ‚Geschichten‘, um zu kommunizieren, um Lebenswelt zu teilen und kollektiv erfahrbar zu machen. Und das können wir ziemlich gut. Seit der Urschleim sich irgendwann in Primatengehirne gemendelt hat, fliehen wir entweder vor Großkatzen oder erzählen anderen von der Flucht vor Großkatzen.” Das ist ein Zitat aus unserem gemeinsamen Interview zu Traceroute. Und zugleich einer der ersten Sätze des neuen Films. Ein persönliches Versatzstück, das schon älter ist, das Du gerne zitierst? Oder gar ein quellenloses Zitat eines anderen? Eine Paraphrase?

Das hast du richtig erkannt. Wie das oft so ist, reflektiert man erst in den Konversationen nach einem Projekt dieses Projekt so richtig. In unserem Interview über Traceroute sind mir einige wesentliche Gedanken gekommen, die eigentlich in Traceroute genannt hätten werden sollen, aber sie kamen mir eben erst im Interview darüber. Und da habe ich mir gedacht: Warum das nicht gleich als Einstiegsstatement für Glossary of Broken Dreams verwenden? Da habe ich mir sozusagen selbst die Staffel in die Hand gedrückt.

Auf den Schultern zusammengeklebter Giganten

Wie arbeitest Du in Deinem Film mit eigenen oder fremden Zitaten? Steht in Deinem Hinterkopf ein großer bunter Baukasten mit Lebensweisheiten, Erkenntnissen, Thesen, Anspielungen, abgefahrenem Zeug und schrägen Albernheiten?

Ich hab zwar ein gutes Gedächtnis, aber ich schreibe mir schon alles auf. Ich bin definitiv ein Sammlertyp. Ich führe lange To-Do-Listen auf die Zitate und Einfälle und grobe Ideen kommen – und die dann oft erst nach Jahren von der Liste runtergestrichen werden können. Für manche Ideen kommt die Verwertungszeit auch nie, aber gerade im Bereich Film kann ich schon viel verarbeiten, weil es einfach so viele Lagen an Bedeutung in einem Film geben kann. Als Beispiel: Ich liebe es ja, mir bizarre Charakternamen auszudenken: z.B. DeForest Schpeibi (Vorname des Star-Trek-Schauspielers Kelley, Nachname die österreichische Diminutivform von Kotze). Vollkommen nebensächlich, aber solche Namen habe ich wie Sand am Meer. Ich bin in Glossary of Broken Dreams eine ganze Menge davon endlich losgeworden.

Auf der visuellen Ebene wird es ja im Film sehr deutlich, wie Du Fund- und Versatzstücke als illustratives Material verwendest. Und wer mal in Eurem monochrom-Büro im Wiener Museumsquartier war (oder auch nur durch das Schaufenster hineinschaute), weiß, dass ein ordentlicher Teil dieses Materials dort collagenhaft die Wände pflastert. Was ist für Dich originales Material? Wann wird etwas zu Deinem eigenen Gedanken, zu Deiner These, Weltanschauung? Wo und wann bist Du Autor?

Ich denke, die Frage nach Original und Kopie stellt sich gar nicht. Das dürfte ich einem Anwalt zwar nicht so direkt ins Gesicht sagen, aber für mich ist es klar, dass wir alle auf den Schultern zusammengeklebter Giganten stehen. Der Mensch ist doch eine Kopiermaschine. Sowohl genetisch als auch kulturell. Wenn sich Zellen nicht mehr kopieren, dann sind die tot. Wenn Kultur sich nicht frei kopieren kann, dann geht sie auch ein. Ein Großteil meines kreativen Schaffens spielt sich ja im Niemandsland zwischen Digitalität und Realität ab. Für mich ist das Internet kein weiteres Medium, sondern ein Lebensraum, in dem ich mich bewege. Und wenn der reale Raum auf den Netzraum trifft, dann passieren spannende und wunderbare Dinge.

Aber um auf deine Frage nach Autorenschaft zurückzukommen: Das ist natürlich eine Frage nach Eigentum, daran kommt man ja in unserer Welt nicht vorbei, und das im positiven wie im negativen Sinn. Einer der teuersten Parts meines eher günstigen Films waren die Musikrechte für das Abspannlied von Inti-Illimani. Das ist schon bitter. Andere Musiknummern, zum Beispiel einige vom phänomenalen Michael Donaldson (Q-Burns Abstract Message) extra für den Film komponierte Songs, konnte ich gar nicht wirklich bezahlen. Ich bin ihm viele Gefallen schuldig. Und Christoph Burstup Weiss sollte von mir eigentlich immer noch ein Bitcoin für seinen 8bit-Song kriegen. Wann ich mir das leisten kann, steht in den Sternen.

Wiedersehen mit der Menschenkette

Das assoziative Bildmaterial taucht im Film oft in einer irren Geschwindigkeit auf. Ist es so schnell gestapelt und/oder geschnitten, um Dynamik zu erzeugen (oder zumindest zu suggerieren), um aus rechtlichen Gründen die zugelassene Länge eines Zitats nicht zu überschreiten – oder um einen visuellen Stream of Consciousness zu zeigen und im Idealfall auch zu initiieren? Entspricht die Geschwindigkeit der Deiner Gedanken beim Brainstorming? Oder ohnehin der eines durchschnittlichen Internet-Zappers?

Es gibt keine zugelassene Länge für Bildzitate. Selbst wenn ein Image nur ein Frame lang zu sehen wäre, wäre es auch schon eine Copyrightverletzung. Also das ist sicher nicht der Grund. Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass alles Material, das ich verwende, auch rechtlich in Ordnung ist. Für Stock-Footage habe ich brav bezahlt, und die Archivmaterialen (also auch alte Coca-Cola-Werbungen und so) sind aus dem Prelinger-Archiv und dort auch als Public Domain ausgewiesen. Die Entscheidung ist also sicher eine stilistische oder ästhetische. Ich denke, dass mein Film zum öfteren Anschauen einlädt, und wenn die Leute das wollen, dann habe ich ohnehin schon das Maximum erreicht. Ich bin so und so jemand, der im Medium Film gerne herausgefordert wird. Ich halte es nicht aus wenn alles drei Mal angespielt oder erklärt wird, damit auch ja alle mitbekommen DASS ES DER GÄRTNER WAR. Richtig herausfordernde Filme wie Primer sind beim ersten Mal gar nicht in ihrer Ganzheit wahrnehmbar. Gut so.

Der Film lebt als No- bis Low-Budget-Essay von Kollaborationen mit Freund*innen und Kolleg*innen, die bereit waren, sich für wenige Minuten in Deinen Gedankenkosmos saugen zu lassen. Ich erinnere mich an einen Wienbesuch, bei dem Du mir einige Zitate vorschlugst, von denen ich eines auswählte – um es dann mal eben vor dem Museumsquartier an einen Baum gelehnt in die Kamera zu sprechen. Im Nachhinein bin ich irgendwie ganz zufrieden damit, dem Schnitt zum Opfer gefallen zu sein…

Mir hat es ja sehr leidgetan, Dich killen zu müssen, vor allem weil ich dich als Richard Feynman mit einem meiner Lieblingszitate von ihm hätte auftreten lassen. Aber Du hast schon recht, vor allem dieser Film lebt natürlich sehr von den vielen unterschiedlichen filmischen Stilen in denen man wunderbare Cameoauftritte unterbringen kann. Es kommen Leute darin vor wie Stefanie Sargnagel, die ja gerade eine schräge Literaturkarriere im deutschsprachigen Raum macht, genauso wie Amber Benson, die die meisten Leute noch als eine der Hauptdarstellerinnen aus Buffy the Vampire Slayer kennen. Amber z.B. habe ich einfach angemailt, weil wir uns schon seit Jahren kennen. Ich habe sie gefragt, ob sie nicht Zeit hätte, mit meinen Kollaborateur*innen Sophia Cacciola und Michael J. Epstein in deren Home Studio in Los Angeles ein oder zwei Seiten Text für mich einzusprechen. Und das war dann auch in einer Woche erledigt. Ich bin sehr stolz darauf, was da rausgekommen ist.

Ähnlich war das auch mit Robert Stachel, der ja Teil der in Österreich weltbekannten Medienkabaretttruppe maschek ist. Ich kenne Robert schon ewig und arbeite immer wieder mit ihm zusammen, und da haben wir uns in Daniel Hasibars Soundstudio getroffen und gemeinsam den Text für das Segment über Widerstand eingesprochen. Der Film ist überhaupt eine eigenartige Mischung an Leuten. Da kommt Schlien Schürmann, eine Moderatorin des Bayrischen Rundfunks, genauso vor wie Max Grodenchik, der ja einer der wunderbaren Ferengis in Star Trek: Deep Space 9 war. Oder Katharina Stemberger. Da tanzen die six degrees of separation einen japanischen Volkstanz!

Adressdatenbank als Kunstprojekt

Wie sehr prägten die zur Verfügung stehenden Menschen und die sich ergebenden Gelegenheiten, mit ihnen zu arbeiten, die Inhalte? Hätte jeder einspringen können? Oder ist Dein menschliches Umfeld situationsabhängig Teil Deines Psychogramms – und damit der inhaltlichen Ebenen und Verwerfungen Deines Stoffes?

Nein, das Casting war schon sehr gezielt, jeder hätte das sicher nicht machen können. Ein paar Charaktere habe ich sogar geschrieben und wieder gestrichen, weil die entsprechenden Performer*innen einfach keine Zeit hatten. Da kenne ich nichts! Ich glaube aber, dass Du mit dem Psychogramm schon sehr recht hast. Ich bin ein sehr geselliger Mensch und mein Umfeld prägt meine Arbeit. Ich netzwerke ja gerne und wahrscheinlich ist mein ultimatives Kunstprojekt meine Adressdatenbank. Aber ich glaube, dass ich wegen meiner Umtriebigkeit gerne auch Filme mache. Es ist einfach auf allen Levels eine Teamarbeit, aber im Unterschied zu anderen Medien, wie Theater, kann man dann doch im Schnitt jeden Kader 100 Mal umdrehen.

Hast Du einfach nur Menschen gebraucht, die nicht Johannes Grenzfurthner sind, um nicht alles selbst sagen zu müssen? Oder haben Deine Gäste noch andere Funktionen im Film?

Es war schon einsam genug, alleine Regie zu führen, Produktionsleitung zu machen, den Schnitt zu gestalten – und auch den Text mit Ishan haben wir per transatlantischem Google Doc erarbeitet. Da sah ich oft wochenlang nur sich verändernde Zeichen am Bildschirm. Ich war also schon sehr froh, dass ich ab und an diesen Wahnsinn mit Leuten real teilen konnte. An einem verdammt heißen Sommertag mit Duscher & Gratzer durch die niederösterreichische Pampa meiner Jugend zu fahren und die Gitarrennummern einzuspielen, und dann nach getanem Tagewerk ein paar Bier zu kippen, das hat was!

Trotzdem war es wohl für die meisten Leute, wie an einer Geheimwaffe zu arbeiten, wenn niemand wirklich weiß, was der andere gerade beiträgt. Niemand hat ja wirklich die Dimensionen des Projektes gekannt. Am Ende waren manche Leute erstaunt, dass das nicht nur ein Kurzfilm wurde. Der einzige, der mich wirklich von Anfang bis Ende auch im Realraum begleitet hat, war Daniel Hasibar, mein Soundgott, der ja alle Aufnahmen mit mir im Studio oder bei den Außendrehs gemacht hat. Der war auch der einzige Mensch, von dem ich mir im Prozess Kritik gefallen ließ. Weil er einfach als Sounddesigner ab einem gewissen Punkt genau wie ich den Überblick über das ganze Ding bekam.

Problematisches Hundebaby

Du formulierst im Film eingangs Thesen wie: “a human is a political being”, “you can’t avoid being political”, “we project a certain story onto the world” oder “we communicate our views by creating narrative or conceptual shortcuts”. Zugleich kündigst Du an, goldene Kälber der Diskurse neu bewerten und vielleicht schlachten zu wollen. Und tatsächlich: Am Ende sind viele Begriffe, Zusammenhänge und Bedeutungen – zumindest in der von Dir etablierten Logik – hinterfragt, widerlegt, entlarvt, der Lächerlichkeit preisgegeben oder vaporisiert. Was bleibt also vom Politischen, wenn die etablierten Begriffe nicht mehr funktionieren?

Das ist natürlich das Grundproblem von Kritik. Aber ich bin nicht zynisch, ganz im Gegenteil. Ich fand, dass einfach sowas wie ein politischer Frühjahrsputz der Begriffe notwendig war. Weil nur wenn wir wirklich mal den Besen in die Hand nehmen und es auch wagen, Sachen zu entsorgen, verhindern wir alle, linksliberale Hoarder zu werden. Als Beispiel nehme ich ja auch den Begriff der Privatsphäre, der ja wirklich wie ein Hundebaby von allen angelächelt wird. Soviel sei verraten: Als guter alter Neulinker hab ich ein Problem mit dem doch sehr konservativen und tiefst bürgerlichen Rattenschwanz, den die Privacy-Debatte mit sich rumschleppt. Ich denke, es ist an der Zeit, hier Denkschablonen auszutauschen. Die Frage ist nämlich nicht: „Wie können wir Privatsphäre auf Teufel komm raus verteidigen?“ Sondern: „Warum ist Privatsphäre uns überhaupt so wichtig?” Kann es nicht sein, dass wir hier eher an reformistischer Symptombekämpfung interessiert sind, als an der Lösung der zugrundeliegenden Probleme?

Welche Handlungsoptionen siehst Du für ein zukunftsorientiertes Agieren in unseren westeuropäischen Gesellschaften? Du machst es Dir ja einfach, indem Du Dich (Spoileralarm!) von Cthulhu fressen lässt. Aber davon abgesehen: Was ist nach all der Kritik am Bestehenden Deine projizierte Geschichte, welche besseren oder effektiveren Begriffe schlägst Du für ein Weiterleben nach dem Zusammenbruch vertrauter Systemgrenzen vor?

Wenn ich nicht glauben würde, dass wir es besser machen können, dann würde ich so einen Film nicht machen. Vorerst muss klar sein, was ich auch im ersten Teil des Films sage, dass wir alle Teil des Problems sind. Harharhar! Aber wir sind da nicht destruktiv. Ich spreche schon einige Male Perspektiven an. Ich denke zum Beispiel, dass die Etablierung neuer Strukturen und digitaler Commons essentiell wichtig ist. Ähnlich wie die Schaffung von sozialer Infrastruktur durch und für die Arbeiter*innenklasse am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wichtig war, wird die Rückgewinnung und Besetzung von virtuellem Raum im 21. Jahrhundert sehr wichtig sein. Das Netz ist der wesentliche Knotenpunkt kapitalistischer Produktion. Hier müssen wir ansetzen.

Der Staatsfeind

Ist Kapitalismus der eigentlich zentrale Begriff des Films, der Metaeintrag im Glossar? Er scheint lange als Bezugspunkt zu tragen. Zusammen mit dem Referenzbegriff Freiheit, den Du als das Verkaufsversprechen des Kapitalismus einführst, erscheint er als definierender Teil eines Systems, dem zu entrinnen kaum möglich erscheint. Mit Deiner Parodie auf eine nur scheinbar bewusste und aufgeklärte Bürgerlichkeit zeigst Du auf, dass vermutlich alle in die Produkthaftigkeiten des Kapitalismus verstrickt sind. Siehst Du Dich selbst auch in diesen Zusammenhängen gefangen?

Natürlich. Es ist ja kein Quadratzentimeter auf unserem Planeten (und darüber hinaus) frei von Staat und Kapital. Ich kann als Person gar nicht frei davon sein. Als Bürger schon gar nicht. Ich habe ja einen Pass, ich bin wie wir alle ein Lohnsklave und mein finanzieller Puffer ist klein. Produktionsmittel hab ich auch nur bedingt: mein ThinkPad. Ich denke, wenn wir uns alle darüber klar werden, dass wir Teil des Problems sind, dann eröffnet das auch Möglichkeiten. Viele Leute glauben wirklich, nur weil sie norwegischen Death Metal hören seien sie schon Systemkritiker. Natürlich nicht. Wir alle tragen unsere komischen Vorstellungen mit uns herum, wie wir glauben, die Welt besser machen zu können. Für die einen sind es Greenpeace-Spenden, für die anderen vegane Ernährung.

Ändert trotzdem nichts daran, dass viele sofort auf den Bananentest reinfallen. Wenn man nämlich über eine Welt danach, also nach dem Kapitalismus, zu sprechen kommt, fragen sie sofort: Wo kriege ich dann meine Bananen her? Oder: Wer macht den Müll weg? Wer solche Fragen stellt, der ist sowieso noch nicht weit genug.

https://www.youtube.com/watch?v=4iaj2w7Bp58&feature=youtu.be

Kommunismus taucht nur kurz als Ideal auf, das sich aber nicht für staatliche Systeme eignet.

Oder konkreter: Jeder Staat ist der Feind.

Erst über den Umweg des Sozialismus landest Du bei einer gesellschaftlichen Utopie, die mit der Abschaffung von Wettbewerb argumentiert. Ohne Wettbewerb, so Deine These, könnte die Welt in globaler Gerechtigkeit funktionieren, könnte die Menschheit produktiver und zufriedener sein. Du nennst dazu keine Quellen. Beziehst Du Dich auf soziologische Theorien? Für wie realistisch hältst Du eine Abschaffung des Wettbewerbs? Offenbar für nicht wahrscheinlich genug, um den Film damit zu beenden…

Oh, Staatskommunismus kommt vor und wird natürlich geohrfeigt. Denn: NEIN, NEIN, DAS WAR NICHT DER KOMMUNISMUS. Aber auch die Sozialdemokratie kommt nicht gut weg. Der Teil über Wettbewerb, den du ansprichst, ist ja fast als Gleichnis zu sehen, in dem ich ressourcenverschwenderische Wettbewerbssysteme (Kapitalismus, Evolution) und ihre Pros und Cons analysiere und kollaborativen Systemen gegenüberstelle. Das ist aber auch als Denkschablone zu verstehen, nicht als direkte Aufforderung, Siedler von Catan zu boykottieren. Wie du richtig siehst, beende ich den Film nicht da. Für Ishan und mich war es aber wichtig, am Anfang des Films ein paar Stützpfeiler der bürgerlichen Ideologie (Markt, Freiheit, Wettbewerb) zu bepinkeln, bevor wir wirklich losstarten wollten.

Es hat sich doch nicht geändert, dass wir die Totalität gesellschaftlicher Verhältnisse und die Notwendigkeit ihrer Veränderung theoretisch auf den Begriff bringen müssen. Wenn Theorie in diesem Verständnis als eine Form der Praxis begriffen wird, heißt das: Mit der theoretischen Aufklärung werden die gesellschaftlichen Verhältnisse entschleiert, und mit dem neuen Blick auf sie beginnt die verändernde Praxis.

Johannes Kepler und der Punk

Das Bild der Handlungsmöglichkeiten für Kunst, Widerstand und Aktivismus, das Du die Handpuppe eines Wiener Kaffeehauskellners zeichnen lässt, ist zunächst sehr düster. Wir haben angeblich auch noch Spaß daran, uns überwachen und kontrollieren zu lassen. Und die Grenzen, die wir heute als Provokation überschreiten könnten, sind keine gesamtgesellschaftlichen mehr, weshalb wir kaum eine relevante Aufmerksamkeit erhalten würden. Die Gesellschaft sei heute auch mit Events zufrieden, lässt Du sagen – und behauptest dann als Johannes Kepler, Punk sei tot. Warum Kepler?

Kepler einfach deswegen, weil es eine schöne absurde Wendung ist. Ich zitiere ja immer wieder im Film Leute, und mit Kepler kommt der Bruch, dass das natürlich unmöglich richtig sein kann. Ich stehe in der Tradition reflexiver und performativer Dokumentationen, denn ich hinterfrage die Bedingungen objektiven Dokumentarismus. Mein Film ist eigentlich ein Essay. Ich reiche ihn auch fast zufällig bei manchen Filmfestivals als Dokumentarfilm und bei manchen als Spielfilm ein. Welch fruchtlose Kategorien das doch sind! Hach!

Die Analyse der Widerstandskultur meine ich exakt so wie das im Film formuliert ist. Auf einem Level, auf dem die Wiener Aktionisten das in den 1960ern angehen konnten, kann man heutzutage keine Aktionskunst mehr machen. Der Zug ist abgefahren. Da haben die Macher von Jackass vor 20 Jahren schon auf MTV wesentlich effizientere Provokationen gebracht und sind nebenbei Millionäre geworden. Zeigt natürlich, dass jede Art von Counterculture irgendwann vermarktbare Ware wird. Die Frage ist, wie wir damit strategisch umgehen. Wachsam bleiben und den eigenen Kontext mitbedenken!

Wo verortest Du Deinen Film, wenn nicht in Widerstand, Aktivismus, Kunst oder Punk? Ist er einfach ein weiteres kapitalistisches Produkt, dessen Konsum zur Systemerhaltung beiträgt? Oder vielleicht auch einfach gar keine Konsequenz hat?

Als alter Romantiker will ich das natürlich nicht hören, aber wenn ich ganz ehrlich bin, ist das wahrscheinlich so. Jedes kulturelle Werk ist letztlich eingebettet in ein Netz aus gesellschaftlicher Gewalt. Vielleicht bleibt uns gar nichts anderes mehr übrig als die große Geste, ABER ich finde, dass die Art und Weise der Herstellung eines Werks schon sehr wichtig ist. Das wird viel zu wenig diskutiert. Gerade im Bereich kreativen Arbeitens wird einem ja oft eine Art carte blanche ausgestellt, Arschloch sein zu dürfen. Das habe ich nie verstanden und ich habe auch immer aktiv dagegen angekämpft. Und wenn ich mal tatsächlich Arschloch war, dann habe ich immer versucht, auf Kritik zu hören und mich zu verbessern. Die furchtbarste Lüge über kreatives Arbeiten ist es, dass man nur durch das eigene Leid und das Leid anderer zu Höchstleistungen kommen kann. Was für ein menschenverachtender Dreck.

Die Käuflichkeit liberaler Werte

Die Radikalen Konstruktivisten – deren Vordenker ja allesamt emigrierte Österreicher waren – als Kronzeugen dafür heranzuziehen, dass ohnehin alle Nachrichten Fake News seien, da sie ja mit einem bestimmten Ziel für eine bestimmte Zielgruppe formuliert würden, instrumentalisiert ihre Thesen meiner Meinung nach für eine recht pauschale Desillusionierung. Wenn es – wie sie behaupten – keine objektiven Wahrheiten gibt, sondern nur individuelle Wahrnehmungskonstruktionen, relativiert sich doch vielmehr der Begriff der Fälschung. Und moralisch betrachtet, hat der einzelne viel mehr Verantwortung für seine konstruierten Wahrheiten.

Mir geht es zentral darum, vom Märchen einer aufgeklärten Öffentlichkeit und einer Utopie objektiver Nachrichten Abstand zu nehmen. Das mag vielleicht desillusionierend klingen, aber für mich geht es auch darum, endlich damit aufzuhören, zu glauben, dass uns journalistische Gatekeeper vor irgendwas retten werden. Nein, das werden sie nicht. Wer das glaubt, steht mit einem Bein in bürgerlichen Erlösungsversprechen. Für mich ist es kein weiter Weg vom faktenbasierten Journalismus zum Clickbait. Das sieht man doch gerade in den letzten Jahren sehr deutlich, auch in Qualitätsmedien. Da muss nur der ökonomische Druck steigen und schon haben die Mäuse Kirtag. Für mich ist mein (zugegeben polemisches) Statement aber keine Einladung zum postmodernen Beliebigkeits-Swingerclub, sondern eher ein Warnung davor, sich allzu sehr auf westlichen liberalen Werten auszuruhen. Die sind käuflich. Die Wirklichkeit ist nicht Habermas’ Wichsvorlage von der egalitären Kommunikation.

Ideologisch motivierte Falschinformation lässt sich in meinen Augen schwer gleichsetzen mit verantwortlich kontextualisierten Inhalten. Arbeitest Du gezielt mit solchen polemischen Verkürzungen? Zu welchem Zweck?

In einer Welt in der 4chan mehr Macht hat als die New York Times, haben sich die Wertigkeiten doch sowieso gravierend geändert. Ich gehe auf das ja auch im Segment über Politik ein. In einer Welt der Mikrogesellschaften ist es mittlerweile schwer, überhaupt von so etwas wie Bürger*innen oder Subjekten zu reden. Das, was früher einen politischen Menschen ausgezeichnet hat, ist mittlerweile ein Kampf gegen die vollkommene Fragmentierung. Ich frage mich aber, ob die durch Einforderung bürgerlicher Werte gestoppt werden kann. Die offene Gesellschaft ist eben kein Superkleber, wie alle immer gedacht haben.

Dalek vor dem Sturm

Die Politik muss im Film schließlich zur Point-and-Click-Therapeutin, weil sie in der Identitätskrise steckt und nicht mehr mit einer Einheitlichen Vox Populi sprechen kann. Eine universelle Stimme bleibt in Zeiten von globalisierten Teilöffentlichkeiten vergangenes Ideal. Durch die Szene fährt ein Dalek, in der Fernsehserie Doctor Who eine feindselige außerirdische Rasse mit kollektivem Bewusstsein und starken Expansionsgelüsten. Ein dystopischer Verweis darauf, dass Diktaturen und absolutistische Systeme in einer solchen Situation leichtes Spiel haben werden? Zudem handelst Du Demokratie eher als Opium für das Volk ab und die Sozialdemokratie als korrumpierten, wenig zielführenden Ansatz. Die Linke bezeichnest Du schließlich als „ultimate broken dream“, die Macht der Arbeiterklasse in einer digitalisierten Welt als reine Nostalgie.

Ja, den Staubsauger-Dalek, der das Therapiegespräch stört, habe ich genau deswegen eingebaut. Jetzt macht er noch brav seine Arbeit und lässt sich recht leicht wegklicken, aber was ist morgen? Totalitäre Ideologien haben tatsächlich ein leichteres Spiel. Es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis in der Spirale der Toleranz wieder mal genug Toleranz für den absolut menschenverachtenden Wahnsinn ist. Die liberale Demokratie ist das Gesicht des Kapitals, wenn es keine Angst hat. Der Faschismus ist das Gesicht des Kapitals, wenn es Angst hat. Das Besitzbürgertum vertritt in guten Zeiten gerne die Ideologie der liberalen Demokratie. Ist die Akkumulation aber durch die Krisen des Kapitalismus in Gefahr, nutzen sie den Faschismus zur Sicherung der kapitalistischen Funktionsweisen. Ich kann dem Heilsversprechen der Demokratie nicht glauben. Wollt ihr die Totale Mitte?

Mein Film versucht, alte Ideen (und dadurch natürlich auch zwangsläufig Ideologien) neu zu denken. Ich denke nicht, dass das pessimistisch ist. Ganz im Gegenteil, es ist ein aktives Zugehen auf die Situation. Im Rahmen von monochrom hatte ich ja 2005 die Idee, Menschen die Möglichkeit zu geben, sich für 15 Minuten im Sarg lebendig begraben zu lassen – auch irgendwie, weil ich mit meiner eigenen Klaustrophobie umgehen lernen wollte. Und was ist besser, als andere Menschen zu begraben, um das eigene Trauma zu verarbeiten? Es hat so etwa 275 Begräbnisse gebraucht! Ha!

Zurück zum Dalek. Wo bleibt die Tardis mit dem Doctor? Der hat in Doctor Who zwar auch keine Ideen für eine dauerhaft heile Welt, aber er beherrscht das Überleben in einem fragmentierten Universum. Und er steht für die Hoffnung im kleinen, überschaubaren Rahmen. Oder ist auch in Deiner Welt eigentlich alles gar nicht so schlimm und das Glossary of Broken Dreams ganz gut aufgehoben im Bücherregal Deiner Mutter?

Wir können uns immer in die Safe Spaces der Gegenkultur flüchten, wie das die desillusionierten Hippies in den 1970ern getan haben, und wie das gerade im Biedermeier der Identity Politics so geläufig ist. Das bringt aber auch nichts. Nehmen wir mal den derzeitigen Propagandakampf im Netz: Rechte, autoritäre Memes sind einfach zu machen und einfach zu verbreiten. Es geht ja nicht einfacher, als BUILD A WALL oder SYRER RAUS. Linke Memes tun sich da schwerer. Linke Memes sind auch 25 Seiten lang und haben Fußnoten. Das Zeug ist einfach nicht sexy, aber muss es das sein? Ich glaube Glossary of Broken Dreams ist zwischen Das große Vogelbuch und der Naturheilkunde für Hunde meiner Eltern gar nicht so schlecht aufgehoben.

Traceroute anschauen.

Vorführungstermine von Glossary of Broken Dreams sind hier zu finden (ständig aktualisiert).

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