The sun always shines on tv

Die Letzten würden die Ersten sein – Mit dem ZDF im virtuellen Gelben Trikot – The Sun always shines on TV

Vor 15 Jahren saß Mathias Mertens vorm Fernsehen und schaute auf ein virtuelles Gelbes Trikot. Wer darin steckte? Das ZDF! # 33 (29. Juli 2001)

Virtuell. Zauberwort. Weil unwirklich, schlummernd, scheinbar, nur gedacht. Aber auch dem Vermögen, der Möglichkeit nach vorhanden. Dennoch nicht real. Aber mal ehrlich, das Virtuelle ist doch heutzutage das, was zählt, das, was die meisten Auswirkungen auf unser Denken und Leben in der Zukunft haben wird. Virtuell und real schließen sich zusammen zur Virtuellen Realität, wobei das Reale nur das Grundmaterial liefert und das Virtuelle die Gestaltung übernehmen darf, wie man an der Wortbildung erkennen kann. Das Reale ist also das Virtuelle, während das Virtuelle real wird, sich manifestiert, zu dem wird, was man Schwarz auf Weiß besitzt und getrost nach Hause tragen kann. Beziehungsweise Schwarz auf Gelb, denn die schwarze Schrift des Sponsors Credit Lyonnaise befindet sich bei der Tour de France auf gelbem Stoff, dem des Trikots der Gesamtführung nämlich. Am Ende jeder Etappe wird ermittelt, wer es nach Hause tragen darf. Wobei dieser Nachhauseweg so lang ist, daß man dieses Trikot unter Umständen wieder abgeben muß. Das ist dann bittere Realität, wenn man in der Ebene 35 Minuten vor den anderen herausgefahren hat, und sie dann in den Bergen alle an einem vorbeiziehen sieht. Nicht nur scheinbar, sondern ganz konkret erfahrbar, visuell, auditiv, manchmal auch taktil, wenn sich zum Beispiel Lance Armstrong vorbeischiebt und sich mit einer Armgeste Platz schafft. Auch die Eroberung eines Trikots erlebt am eigenen Leibe, wenn man es auf dem Siegertreppchen übergestreift bekommt, einen Stofflöwen und einen Blumenstrauß hochrecken muß und sogar die Wangen zweier gelbberockter Mädels abküssen darf.

Alles ganz konkret also. Was soll daran virtuell sein? Nun, es ist nicht virtuell, sondern virtuell real. Es ist das Realgewordensein des Virtuellen. Zumindest wenn man dem ZDF Glauben schenkt. Denn in diesem Jahr hat man dort das „virtuelle Gelbe Trikot“ entdeckt, in dem Leute wie Jens Voigt, François Simon oder Lance Armstrong gefahren sind. Das „virtuelle Gelbe Trikot“ trugen sie immer dann, wenn sie während einer Etappe einen Zeitvorsprung vor den anderen hatten, der, wenn sie ihn auch noch im Ziel haben würden, den ersten Platz im Gesamtklassement bedeuten würde, der vor dieser Etappe von jemand anderem besetzt war. Was sehr kompliziert klingt und auch nichts bedeutet, denn jeder Radsportfan weiß, wie oft Ausreißer noch kurz vor Schluß vom Peloton geschluckt werden und schließlich unter Ferner liefen ins Ziel kommen. Diesen ganzen Konjunktivwust samt taktischer Einschränkung kann man allerdings elegant in der Formel „Jetzt fährt er im virtuellen Gelben Trikot!“ unterbringen. Und aus der drögen beckmesserischen Spekulation wird eine spannende Tatsache. Die auch ganz konkret in der rechten oberen Bildhälfte erscheint: ein kleines gelbes Hemdchen mit dem Namen des Fahrers.

Das Tolle am virtuellen Gelben Trikot ist, daß es einen viel größeren Ereignischarakter als das reale Gelbe Trikot hat. Denn letzteres hat durch sein Real-Sein kein Entwicklungspotential zum Guten oder Schlechten mehr. Wenn man es nach Ende der Etappe übergestreift bekommt, dann ist man eben Sieger, Punkt, Schluß. Daran könnte höchstens eine positive Dopingprobe noch etwas ändern, aber selbst das ist unwahrscheinlich. Ein Gelbes Trikot ist also ein Gelbes Trikot ist ein Gelbes Trikot. Gähn. Wie spannend dagegen, wenn jemand mittendrin in der Etappe im virtuellen Gelben Trikot fährt. Zu diesem Zeitpunkt ist nämlich noch alles möglich. Er kann es bravourös verteidigen. Er kann es aber auch verlieren. Am besten ganz kurz vor Etappenende. Das hätte dann Tragödienausmaße. 186 Kilometer lang fuhr er im virtuellen Gelben Trikot und erst auf den letzten 400 Metern wurde er eingeholt und mußte es wieder abgeben. Wie fühlt man sich, wenn man wußte, man fuhr schon beinahe im Gelben Trikot, um es dann doch nicht zu bekommen? Laurent Jalabert mußte diese Frage beantworten, auch Jens Voigt. Wie uninteressant ist es dagegen, Lance Armstrong zu fragen, wie er sich im realen Gelben Trikot fühlt. Das kennen wir doch nun schon seit drei Jahren! Was soll daran noch besonders sein! Da müssen schon andere Themen her, Doping vielleicht, seine schwangere Frau, sein Sohn Luke. Oder, noch besser, ob er nächstes Jahr noch einmal die Tour fahren wird. Das ist so schön spekulativ, da kann noch viel passieren, da kann man Absichtserklärungen später mit Schicksalsschlägen zusammenschneiden, die wieder eine Tragödie ergeben. Oder andersherum. Jedenfalls ist das wieder ein Ereignis.

Wenn wir ehrlich sind – wobei „wir“ hauptsächlich die „Teletubbies“ von ARD und ZDF meint, wie Marcel Wüst es ausdrücken würde -, dann ist der eigentliche Sieger, weil Träger des virtuellen Gesamtwertungssiegertrikots, Jan Ullrich. Denn, wie es Jürgen Emig, Rudi Cerne et al. nicht müde wurden zu betonen, wäre Lance Armstrong nicht in der Form seines Lebens gewesen, dann hätte ein Jan Ullrich, der so stark und so gut vorbereitet wie noch nie war, diese Tour überlegen gewonnen. Das klingt überzeugend und versöhnlich, ist im Grunde genommen jedoch nur die banale Feststellung, daß ohne den Ersten der Zweite der Erste wäre. Mehr nicht. In der Ereignisdiktion des Fernsehens klingt es aber keineswegs banal, sondern erhaben. Jan Ullrich ist der virtuelle Tour-Sieger. Hat er nicht einen spektakulären Sturz weggesteckt und ist wieder herangefahren? Hat er nicht ein wahnsinniges Tempo bei den Bergetappen vorgelegt, die Lance Armstrong überhaupt erst zu seiner Leistung provoziert hat? Hat er nicht sogar auch für Erik Zabel gearbeitet, um diesem drei Etappensiege zu ermöglichen? Wenn so kein Sieger aussieht, wie dann?

Vielleicht wird es dazu kommen, daß auch die Minuten im virtuellen Gelben Trikot bald in den Statistiken auftauchen werden. Wie fade von den 15 Tagen Dietrich Thuraus, den 18 Tagen Rudi Altigs, oder gar den 3 Tagen bzw. 1 Tag von Karl-Heinz Kunde respektive Kurt Stöpels im Gelben Trikot zu hören, wenn man von insgesamt 383 Minuten im virtuellen Trikot eines deutschen Fahrers bei insgesamt fünf Tour-Teilnahmen berichten kann. Nie gewonnen, nie den Lohn für die Anstrengungen bekommen, aber so grandios gekämpft und so sympathisch verloren. Solche Geschichten schreibt nur der Radsport. So wie die jedes Jahr wieder aufgewärmte Story von Eugène Christophe auf dem Tourmalet (bitte nachlesen oder nächstes Jahr die Tour gucken, nochmal muß die hier nicht erzählt werden). Oder die von Raymond Poulidor, der in den sechziger Jahren „ewiger Zweiter“ hinter Jacques Anquetil war. Nichts gegen die fünf Tour-Siege von Anquetil, aber die waren nur besonders, solange sie noch keine fünf waren, danach waren sie eine feststehende Tatsache. Was für eine Leistung dagegen, immer als Zweiter ins Ziel zu kommen. Wie oft war wohl Poulidor im virtuellen Gelben Trikot? Wir haben leider keine Statistiken darüber.

Das Denken in virtuellen Realitäten muß aber nicht auf den Radsport begrenzt bleiben. Auch andere Sportarten hätten es verdient, eine solche Ereignisstatistik zu bekommen. Fußball zum Beispiel. Zur Veranschaulichung dient der Spieler Alexander Zickler, seines Zeichens Einwechselstürmer beim FC Bayern München. Er hat es nie zum Stammspieler gebracht, weil er trotz seiner beeindruckenden Schnelligkeit große Schwäche im Abschluß hatte, also den Ball vorm Tor nicht rein kriegte. Vizepräsident Karl-Heinz Rummenigge nannte ihn deshalb in einem Interview „Chancentod“, und seine Rolle als Reservist war für die nächsten Jahre festgeschrieben. Was für eine ignorante Feststellung! Alexander Zickler ist kein „Chancentod“, sondern wahrscheinlich der beeindruckendste virtuelle Torschützenkönig, den die Bundesliga jemals hatte. Wenn man mal überlegt, wie viele Tore er auf dem Fuß hatte, die hätten fallen können, dann kann man nur staunen angesichts dieser Leistung. O.K., Preetz hat 1999 23 Tore geschossen, Rummenigge 29 im Jahr 1981, Gerd Müller sogar 40 im Jahr 1972, aber wieviele Tore war Alexander Zickler virtueller Torschützenkönig? 25? 35? Sogar 50? Grandios. Wenn man mal überlegt, wie überlegen er hätte gewinnen können. Unfaßbar. Was für ein Ereignis.

Wenn man sich ein paar Mal um etwas bemüht, dann gilt man als Versager. Kathrina and the Waves z. B. hatten einen Riesenhit mit Walking on Sunshine, danach allerdings hörte man nie wieder von ihnen. Sie schafften es einfach nicht, sich nach einem Anfangserfolg mit weiteren Leistungen als Superstars zu etablieren. Wenn man allerdings nie etwas bekommt und trotzdem jedesmal als potentieller Sieger gehandelt wurde, dann baut man auf Dauer eine Reputation, einen Nimbus auf. Gertrud Höhler, eine Literaturwissenschaftlerin oder ähnliches an irgendeiner Privatuni oder Vergleichbarem, schaffte es beispielsweise in den achtziger und frühen neunziger Jahren zu einer absoluten Autorität in dieser unserer Republik zu werden, weil sie bei jeder Kabinettsumbildung als nächste Ministerin für irgendwas gehandelt wurde und es dann doch nicht war. Als virtuelle Ministerin genoß sie höchstes Ansehen und durfte krude Bücher über Gesellschaft und so verfassen. Als reale Ministerin hätte sie nur verlieren können. Jan Ullrich hätte eine langfristigere Karriereplanung machen sollen und sich 1997 gegen einen Tour-Sieg entscheiden müssen. Vielleicht mit einem spektakulären Sturz auf der letzten Etappe nach Paris. Denn dann wäre aus dem Versager, der niemals an seine Anfangsleistung anschließen konnte, eine Legende geworden, ein immerwährender potentieller Tour-Sieger, ein Dauergast im virtuellen Gelben Trikot.

Bildquellen

  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens