Darstellbarkeit und Wahrnehmbarkeit

Thomas Kaestle in einem Manifest über Ergebnisoffenheit als Bedingung für Kultur – und über die verlorene Utopie des Schlagwortes „Kultur für Alle!“

Unser Autor Thomas Kaestle wurde von Medienkünstler Jean-Robert Valentin aus Hannover um einen Text für dessen Projekt artclubhannover gebeten. „Irgendwas mit Kultur“ sollte es sein. Geworden ist daraus ein Manifest zu Bedingungen zeitgenössischer Kultur, Ergebnisoffenheit, Kulturpolitik, Kulturförderung, Kultur- und Kreativwirtschaft, „Creative Class“, „Kultur für alle“, Avantgarden und dem Undenkbaren. Jean-Robert Valentin hat eine Lesung des Textes gefilmt und samplet ihn in diversen Trailern und Filmbeiträgen für artclubhannover. Den Text in voller Länge lesen Sie zeitgleich exklusiv bei uns.

Remix und Sampling

Der Kontext entscheidet. Immer. Und dieser Kontext klingt ambitioniert. Jean-Robert Valentin, Medienkünstler in Hannover, zeigt in sechs Monaten sechs Präsentationen. Mit jeweils einem Kollegen aus Hannover. An jeweils zwei Orten, in jeweils zwei sehr unterschiedlichen Formaten. Einerseits werden die Exponate in einem Ausstellungsraum in der Stadt installiert. Digital zwar in den jeweiligen Projektionen, Video- und Fotoformaten, Rahmensetzungen und Bearbeitungen. Aber dennoch körperlich erfahrbar in einem analogen Raum. Andererseits werden die Arbeiten parallel in einem digitalen Showroom gezeigt, einem Blog mit dem altmodisch anmutenden Namen artclubhannover. (Kann eine öffentlich zugängliche Website ohne Zugangsbeschränkung ein ‚Club‘ sein? Lebt das Konzept ‚Club‘ nicht vielmehr von Selektion und Exklusivität?) Sie können dort zwangsläufig keine identische Form haben, müssen sich den räumlichen und sinnlichen Möglichkeiten des Mediums unterwerfen. Und können sich darin zugleich zu etwas Neuem entwickeln. Über die bloße Abbildung oder Wiedergabe hinaus, jenseits des Dokumentarischen. Jean-Robert Valentin, der auch als Visual Jockey mit der Verschränkung von visuellen und auditiven Ebenen arbeitet, bedient sich hier der Technik des Remix, er wählt aus, fügt hinzu, kombiniert neu, verdichtet – und erzählt. Die erste Staffel seiner Webserie, mit den ersten sechs Episoden entsprechend den ersten sechs Künstlern und Präsentationen, entwickelt eine eigenständige Narration, in der Valentin seine Rolle als Kurator schnell überwindet und zum Autor wird. Zu einem allerdings, dessen Ausgangspunkt Samples des kuratierten Materials sind.

Irgendwas mit Kultur

Hier kommt der Text ins Spiel. Mein Text. Dieser Text. Als Jean-Robert Valentin mich beauftragt, für sein Projekt zu denken und zu schreiben, gehe ich zunächst davon aus, dass er das Übliche will: Texte über die beteiligten Künstler, ihre Kunst und deren Bezüge. Assoziationsrahmen, Vermittlungsangebote, Einführungen. Katalogtexte. Eröffnungsreden. Es dauert, bis ich zunächst begreife, dass er nur einen einzigen Text braucht, den er mich vortragen lässt, um mich dabei zu filmen. Dass dieser Text ein eigenständiger Teil seiner Präsentationen sein soll, ein wenig Subtext, viel mehr aber noch Metatext. Eine übergreifende Parallelerzählung als Baukasten, Steinbruch oder Fundus für Valentins digitales Sampling. Gleichberechtigtes Material. Die eigentliche Herausforderung jedoch liegt in der Festlegung des Themas des beauftragten Textes. Oder eben vielmehr in deren fast völligem Fehlen. Größtmögliche Offenheit, Freiheit für eigene Setzungen. Nicht einmal um Medienkunst muss es gehen. Nicht einmal um zeitgenössische Kunst. Nicht einmal um Kunst. Eine Position zur Kultur solle es aber doch sein. Irgendwas mit Kultur also. Und wieder einmal die Binsenweisheit, oft genug schon mit Künstlern und Beziehungspartnerinnen erörtert: „Total freedom is like no freedom at all“. Oder als These zum Thema „irgendwas mit Kultur“ formuliert: Kultur findet statt auf dem Grat zwischen Festlegung und Beliebigkeit. Nennen wir diesen schmalen Möglichkeitsraum doch: Ergebnisoffenheit.

Die Ergebnisoffenheit der anderen

Ein Allgemeinplatz? Ergebnisoffenheit als längst von allen erkannte, akzeptierte und umgesetzte Bedingung für das Zustandekommen von anschlussfähiger Kultur? Von kulturellen Projekten und Prozessen mit Konsequenz und Konsequenzen? Wer den Begriff ‚Ergebnisoffenheit‘ in Googles Suchfeld eingibt, stößt tatsächlich auf sehr wenig Kultur. Vielmehr scheint sich das Konzept in anderen Bereichen fest etabliert zu haben. Im Management: zentral. In der Bildung: zumindest als zental behauptet. Wo Bildung und Kultur sich begegnen, in ästhetischer und kultureller Bildung, in Vermittlungsprojekten: wesentlicher Begriff einer Jahrzehnte langen Wandlung. Hin zu gleichberechtigten Bedeutungskonstruktionen. Weg von wissenschaftlich vorgedachten Wahrheiten. Weg vom potentiell abwertenden und ausschließenden Wahr/Falsch und hin zu einer wachsenden Bedeutung des Passens. Der Rezipient hat deutlich an Bedeutung gewonnen, seit Wolfgang Kemp im didaktischen Begleitbuch zur documenta X über eine erstarkende „Viewer Liberation Front“ spottete (und ich mir vornahm, mir irgendwann den fiktiven Mitgliedsstempel dieser VLF auf mein Handgelenk tätowieren zu lassen). In der Peripherie der Kultur hat sich die Ergebnisoffenheit etabliert, mal als anstrebenswertes Ideal, mal als notwendige Grundlage des Erfolgs. Doch wie sieht es damit aus in Kulturpolitik, Kulturverwaltung oder Kulturförderung?

Wenn es passt

Während in den beiden Übergangsjahrzehnten zwischen 1990 und 2010 kulturelle Labore und experimentelle Situationen aufblühten, Grenzerweiterungen, Perspektivverschiebungen und ein Hinterfragen etablierter Begrifflichkeiten in die plötzlich pluralen Mittelpunkte rückten, entwickelte sich eine Praxis der Künstlerförderung jenseits von Erwartbarkeiten. Die Euphorie über die scheinbar vollkommene theoretische wie praktische Freiheit, die bei vielen Akteuren – ob nun zu Recht oder nicht – zuvor durch die populäreren Thesen postmoderner Diskurse aufgekommen war, hatte sich bereits wieder relativiert. Bereits im Jahr 1987 hatte Ernst von Glasersfeld, Protagonist radikal konstruktivistischen Denkens, dies auf den Punkt gebracht, indem er Paul Feyerabends vermeintliche Zauberformel „anything goes“ ergänzt hatte: „Anything goes – if it works.“ Dass sich in von Glasersfelds Biographie Natur- und Geisteswissenschaften durchdrangen, war dabei kein Zufall. So ist es zum Beispiel in der Physik üblich, mit unbewiesenen Thesen weiterzuarbeiten – und daraus belastbare neue Ergebnisse zu entwickeln. Im Rahmen des Diskurses des Radikalen Konstruktivismus prägte von Glasersfeld schließlich den Begriff der ‚Viabilität‚, der nichts anderes meint, als die oben erwähnte Auflösung absoluter Kategorien wie wahr/unwahr oder richtig/falsch zugunsten des Kriteriums des Passens oder Funktionierens. Die absolute Freiheit hatte einen flexiblen Rahmen erhalten. Nicht nur in den Theorien jener Zeit, sondern analog auch in der kulturellen – und sogar der kulturpolitischen – Praxis.

Vorkuratierte Inhalte

Was geschah seither? Die Tendenz zur Rahmung, die etwa zwei Jahrzehnte lang ein viables, also halbwegs brauchbares, Gleichgewicht der Ergebnisoffenheit geschaffen hatte, hat dieses langsam in Richtung Festlegung kippen lassen. Nicht mehr nur geförderte Institutionen oder Initiativen beschäftigen Kuratoren als Rahmenbauer zwischen künstlerischen Einzelpositionen und alltäglichen oder gesellschaftlichen Kontexten. Zunehmend etablieren sich kuratorische Positionen und Rollen auch bei den strukturellen Ermöglichern von Kultur: eben in Kulturpolitik, Kulturverwaltung und Kulturförderung. Nicht nur große Stiftungen setzen eigene inhaltliche Schwerpunkte, fördern im Rahmen festgelegter und festlegender Programme und entwickeln immer komplexere Inklusions- und Exklusionsmechanismen. Eine solche Praxis kann zweifellos zu einer kulturellen Verdichtung und damit der langfristigen Stärkung bestimmter Positionen beitragen. Eine klare Agenda kann nicht nur zu größerer Transparenz führen, sondern auch zu konsequenteren, nachhaltigeren und gewichtigeren Entwicklungen. Zugleich aber schränkt sie andere Entwicklungen ein, reduziert Bandbreite und alternative Richtungsentscheidungen. Sie hemmt Ergebnisoffenheit.

Creative Industries

Kulturpolitik, -verwaltung und -förderung scheinen unter einem wachsenden Transparenz-, Darstellungs- und Ergebnisdruck zu stehen. Und sie scheinen diesen an kulturelle Akteure weiterzugeben. Woher kommt dieser Druck? Wer zwingt die Kultur, sich stärker festzulegen? Meiner Meinung nach handelt es sich um einen folgenschweren Kollateralschaden, dessen Auslöser in den späten 1990er Jahren zu suchen ist. Im Wahlkampf von Tony Blairs britischer Labour-Regierung legte sich diese im Jahr 1997 auf die „Creative Industries“ als zu fördernde Zukunftsbranche fest. Bereits im folgenden Jahr schlug sich dies in ersten Förderkonzepten nieder. Eine wirtschaftspolitische Entscheidung hatte auf diese Weise großen Einfluss auf die Kulturpolitik. Förderentscheidungen, ob sie nun im Namen der Wirtschaft oder der Kultur getroffen werden, können niemals neutral sein. Es handelt sich immer um Richtungsentscheidungen, sie stellen immer auch inhaltliche Eingriffe dar. In der deutschen Politik wurde das Konzept einer Kultur- und Kreativwirtschaft erstmals durch die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ diskutiert, die dem Thema in ihrem Abschlussbericht im Jahr 2007 ein eigenes Kapitel widmete. Bereits im gleichen Jahr brachte es die Bundesregierung im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft in einen europäischen Diskurs ein und beauftragte das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und den Beauftragten für Kultur und Medien mit einer „Initiative Kultur- und Kreativwirtschaft“.

Pferd und Bumerang

Das alles war gut gemeint. Die Mitglieder der Enquete-Kommission, größtenteils selbst kulturelle Akteure, hatten sich zum Ziel gesetzt, fachfremden Entscheidern aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft ein für alle mal die Bedeutung von Kultur für die Gesellschaft zu verdeutlichen. Dafür schien es notwendig, diesen neu formulierten Wirtschaftssektor als so groß und produktiv wie möglich darzustellen. Herausgekommen ist eine – von der Wirtschaftsministerkonferenz im Jahr 2009 in dieser Zusammensetzung empfohlene – Chimäre aus: Musikwirtschaft, Buchmarkt, Kunstmarkt, Filmwirtschaft, Rundfunkwirtschaft, Darstellenden Künsten, Architekturmarkt, Designwirtschaft, Pressemarkt, Werbemarkt und Software/Spiele-Industrie. Das ließ zwar zu, damit zu beeindrucken, dass dieses Konstrukt in seiner kollektiven Bruttowertschöpfung fast an die der Automobilindustrie heranreichte. Zugleich ist jedoch der behauptete Zusammenhang so unscharf, dass es nicht verwundert, dass fast niemand aus der Zielgruppe fachfremder Entscheider noch zu differenzieren vermag, worum es eigentlich geht. So wurde in den vergangenen Jahren zunehmend Kultur gleichgesetzt mit Kulturwirtschaft. Dabei werden die einzelnen Branchen in der Kultur- und Kreativwirtschaft nicht zufällig mit den Wortendungen „-wirtschaft“ oder „-markt“ bezeichnet. (Außer bei den Darstellenden Künsten, die sich offenbar auch begrifflich hartnäckig genug einer Indienstnahme verweigern.) Der Kunstmarkt zum Beispiel hat jedoch mit der Kunst bestenfalls Schnittmengen. In der Systemtheorie von Niklas Luhmann betrachtet, gehört er – wie das gesamte Konzept der Kultur- und Kreativwirtschaft – dem Wirtschaftssystem an, nicht dem Kunstsystem, das mit eigenen Kriterien nach eigenen Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Was als Trojanisches Pferd konstruiert war, um Politik und Wirtschaft mehr Wertschätzung für Kultur unterzujubeln, endete als Kleinholz in Bumerangform: Es führte dazu, dass Politik und Wirtschaft der Kultur etwas unterjubeln konnten – nämlich eine kommerzielle Verwertbarkeit als oberstes Bewertungskriterium.

Statistical Turn

Viele neue Förderempfänger aus den Kulturszenen haben ihre Begeisterung über den Geldsegen noch nicht hinterfragt oder gar abgelegt. Sie haben Strategien entwickelt, die Förderwelle zu surfen, sich an neue Kriterien und Engführungen anzupassen, vom Ökonomen Richard Florida zu Beginn des neuen Jahrtausends zusätzlich als „Creative Class“ geadelt und für unverzichtbar erklärt. Bei anderen zeigt sich nach einigen Jahren inzwischen Ernüchterung, wenn sie bemerken, dass es zunehmend schwieriger wird, mit ergebnisoffenen Projekten bei Entscheidern auf Interesse zu stoßen. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen: Ich halte die Entwicklung hin zu immer mehr Festlegung für gefährlich. Zum einen aufgrund von vorkuratierten Themen und der damit einher gehenden unmittelbaren Einschränkung inhaltlicher Diversität. Zum anderen – und hier komme ich zurück zum behaupteten Kollateralschaden – aufgrund der offenbar sehr stabil konstruierten Nähe von Kultur und Verwertbarkeit. Im schlimmsten Fall wird von Kultur inzwischen erwartet, dass sie wirtschaftlichen Nutzen bringt. Nicht als so genannter ‚weicher Standortfaktor‘ oder aufgrund von Umwegrentabilitäten. Sondern ganz direkt, nach Abschluss jedes Projektes nachweisbar. Zumindest aber gilt es zunehmend als Mindeststandard, dass Kultur darstellbar wird, sich zahlenmäßig erfassen und in Statistiken verwandeln lässt. (Tatsächlich könnte man hier entsprechend der Mode, Kultur in ‚Turns‘ zu denken, von einem ‚Statistical Turn‘ sprechen.) Dieser Umstand überträgt sich zudem von geförderter Kultur, wo Darstellbarkeit und Nachvollziehbarkeit direkt eingefordert werden können, auf jede Art von Kultur. Es geht dabei um Wahrnehmbarkeit, die etwas anderes ist als Darstellbarkeit. Um die Bereitschaft und Fähigkeit, auch jene Kultur wahrnehmen zu können (und zunächst zu wollen), die nicht leicht kategorisierbar ist, nicht erwartbar oder kalkulierbar. Die sich in Szenen prozessual oder intuitiv entwickelt, die aus den richtigen Konstellationen und Situationen erwächst und ungeplant Wichtiges und Neues hervorbringt. Solche Kultur ist es meiner Meinung nach, aus der sich fast die gesamte Kultur- und Kreativwirtschaft notwendigerweise speist. Je später die Verantwortlichen die Konsequenzen ernst nehmen, desto mehr kulturelle Basis wird bereits verschwunden sein.

Zeiträume

Die Forderung nach Verwertbarkeit und Darstellbarkeit entspricht natürlich auch einer zunehmenden Angst von Politik und Verwaltung, sich an den Ergebnissen ihres Tuns messen lassen zu müssen. Das ist in einer repräsentativen Demokratie zunächst richtig und wichtig. Dennoch ist hier meiner Meinung nach über die Jahre ein Gefühl für Zeiträume und langfristige Visionen verloren gegangen, die sich über Legislaturperioden hinaus erstrecken. Bürger, Medien und Politiker sind ungeduldiger geworden. Die Kultur hat hier das Pech, zwangläufig näher am nachvollziehbaren Alltag der Menschen zu sein als andere politische Prozesse (die in der Regel mit deutlich höheren Budgets arbeiten). Dass das Konzept der Kultur- und Kreativwirtschaft einigen neoliberalen und -konservativen Tendenzen der vergangenen Jahre perfekt in die Hände spielt, war von der Enquete-Kommission vermutlich nicht intendiert. Sie hätte dies jedoch vorhersehen können. Letztlich passt auch das Diktat der Vermittlung hervorragend in Verwertbarkeits- und Darstellbarkeitsforderungen. Dass Kulturvermittlung grundsätzlich an Bedeutung gewonnen hat, ist zunächst sehr begrüßenswert. Dass es jedoch einige Jahre lang gefühlt einfacher war, Fördergelder für Vermittlungsprojekte zu erhalten als für Kulturprojekte, erscheint paradox. Auch hier hat die Kulturförderung ganz eindeutig versucht, Richtungsentscheidungen zu forcieren: hin zu mehr Darstellbarkeit. Dabei erlaubte die Vermittlungsförderung zumindest in der Bildenden Kunst eine neue Form von Projekten: Plötzlich war es möglich, Personalkosten in den Vordergrund zu stellen, wo bislang Materialkosten den Schwerpunkt zu bilden hatten. Viele Kulturförderer arbeiten nämlich bis heute mit einem Kunstverständnis, welches die Entwicklungen der vergangenen hundert Jahre zu ignorieren scheint. Kunst ist Material, ist Leinwand und Farbe und Bronze und Marmor und Holz. Oder eben Kamera, Druck, Monitor und Projektor. Dass Menschen, Konzepte und Prozesse dabei im Vordergrund stehen können, dass Honorare deshalb nicht zwangsläufig ihre Entsprechung in Material und Technik finden müssen: zu neumodisch offenbar. Dass Duchamp, Beuys oder Kosuth nicht nur Exponate in Museen hinterlassen haben, sondern auch das Denken in der Kunst beeinflusst haben: zu ungreifbar. Die einschlägigen Kulturszenen passen sich allerdings recht schnell an Förderbedingungen an, lernen, diese zu nutzen, zu deuten, zu unterlaufen. Es etablieren sich Strukturen, um mit den etablierten Strukturen umgehen zu können. Das mag intern als Subversion funktionieren. Von außen betrachtet ist es die Akzeptanz von Richtungsfestlegungen.

Planung und Entwicklung

Kultur- und Planungspolitik weisen zahlreiche historische Parallelen auf. Viele Utopien wurden fast zeitgleich für stadträumliche und kulturelle Strukturen entwickelt. Dies mag auch für den Umgang mit Planung und Rahmensetzung auf der einen und Ergebnisoffenheit auf der anderen Seite gelten. Dabei hat die Stadtplanung sich bei ihrem Abschied vom Anspruch der Festlegbarkeit auch von einem namensgebenden Begriff distanziert: Der zunehmende Gebrauch des Begriffs ‚Stadtentwicklung‘ trägt der Erkenntnis Rechnung, dass das Städtische nicht planbar sei. Dass Urbanität, die sich laut dem Stadtsoziologen Hartmut Häußermann aus Heterogenitäten speist, zudem aus Unergründbarkeiten, Geheimnissen und gemeinsamen Erzählungen, sich eben bestenfalls in bestimmten Rahmensetzungen günstiger entwickelt als in anderen. Die Bau- und Gesellschaftsvisionen der 1970er Jahre wirken heute meist naiv, ihr Scheitern ist offensichtlich: Großkomplexe, homogene kleine Städte in den großen. Eine der prominentesten ist in Hannover zu besichtigen. Das Ihme-Zentrum steht bis heute auf dem größten zusammenhängenden Betonfundament Europas. Bei der Grundsteinlegung im Jahr 1971 galt der Traum, auf engstem abgeschlossenem Raum Wohnen, Arbeiten und Konsum vereinen zu können, als Zukunft städtischen Lebens. Bei der Fertigstellung nach vier Jahren hatte sich diese Perspektive bereits relativiert. Heute stehen die Verkaufsflächen fast vollständig leer, der bauliche Zustand ist bedenklich. Im Abstand von einigen Jahren finden sich Investoren, die bislang jedoch zu keiner Änderung der Situation beitragen konnten. Der festgelegte Rahmen der Gesamtkonstruktion vereint hunderte Wohnungsinhaber, wodurch Entscheidungen sehr kompliziert werden.

Das Ende der Avantgarden

Der Traum der Kulturpolitik hieß in den 1970er Jahren „Kultur für alle“. Die Zauberformel des damaligen Kulturdezernenten der Stadt Frankfurt, Hilmar Hoffmann, war ein radikales Bekenntnis, Kultur ohne Hemmschwellen und auf Augenhöhe zu ermöglichen. Anders als das Ihme-Zentrum gilt sie auch heute noch vielen nicht als gescheitert. Im Gegenteil, sie scheint immer noch Leitbild zahlreicher kommunaler Kulturpolitiker zu sein. Sicherlich: Wenn man „Kultur für alle“ nur als Plädoyer für mehr Inklusion und bessere Zugänglichkeit in der Kultur liest, lässt sich rein gar nichts dagegen einwenden. Wenn allerdings Probleme bei der Unterscheidung von Kultur und Soziokultur hinzukommen (die sich ebenfalls seit den 1970er Jahren hartnäckig halten), lassen sich schnell wieder Förderbedingungen formulieren, die einer Ergebnisoffenheit entgegenstehen. Das gilt umso mehr, wenn man sich die Mühe macht, in Hilmar Hoffmanns Originalveröffentlichung nachzuschlagen. Denn was er fordert ist unzweideutig „jede Kultur für alle“. Wenn jedoch jede Kultur für jeden zugänglich, nachvollziehbar und verständlich sein soll, wäre sie jeder Herausforderung beraubt, jeder Sperrigkeit, all ihrer Geheimnisse und Unergründlichkeiten. Also all dessen, was sie zur Kultur macht. Eine zu jeder Zeit für alle nachvollziehbare Kultur wäre kraftlos, affirmativ und letztlich bedeutungslos. Sie hätte keine Möglichkeit, der Gesellschaft voraus zu sein, ihr etwas entgegen zu setzen, das Undenkbare zu denken. Dies wäre gleichbedeutend mit dem Ende aller Avantgarden. Und damit dem Ende jeder Weiterentwicklung. Das Resultat wäre genormter Stillstand.

Undenkbar!

Selbstverständlich muss es möglich sein, Zugänge zu Kultur zu finden, teilhaben zu können, nicht kategorisch ausgeschlossen zu werden. Kultur muss Anschlussfähigkeiten und Anknüpfungspunkte für den individuellen Alltag bieten, muss immer wieder neu und anders kontextualisiert und vermittelt werden. Die Balance zwischen Beliebigkeit und Festlegung ist eine Kunst. Ist die Kunst. Kultur geschieht in Möglichkeitsräumen, die zu konstruieren eine ständige Herausforderung bleibt. Es gibt keine perfekte Lösung für den idealen Rahmen. Aber das Ziel muss eine möglichst große Ergebnisoffenheit bleiben. Und selbst wenn es in bestimmten Zusammenhängen sinnvoll sein kann, sich konsequent festzulegen und dies auch transparent zu kommunizieren: Dies darf nicht zu einer Verdrängung ergebnisoffener kultureller Situationen an anderer Stelle führen. Kultur braucht Raum für das Unerwartete, das Unberechenbare und das Undenkbare!

Nachgedanke

Eher ungeplant hat sich dieser Text im Prozess des Schreibens zu einem Manifest entwickelt. Er hat sich im dafür passenden Kontext ergebnisoffen entfaltet.

Merci, Jean-Robert.

Bildquellen

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