Farmville 2: Meine kleine Gulag – Farm

Unser Autor versuchte, Farmville 2 zu verstehen und für sich als gutes Spiel zu entdecken. Es funktionierte nicht. Notizen aus dem Arbeitslager.

1.

„Das ist kein Spiel, das ist ein Gulag!“ schreie ich, spätnachts oder frühmorgens, schon ein wenig betrunken. Wir sind auf dem Weg von einem Laden, der gerade geschlossen hat zu einem, der noch lange offen haben wird.
Ich habe vor ungefähr drei Wochen mit Farmville 2 angefangen. Und seitdem jeden Tag gespielt.

2.

Dieser Text sollte der Versuch einer Rehabilitation werden. Andere Menschen – nennen wir sie echte Gamer – blicken vielleicht etwas abschätzig auf Farmville. Auf Candy Crush. Farmheroes. Diamond Dash. Auf diese ganzen Facebook-Zeitkiller.
Mir ist diese Arroganz fern. Ich habe auf Facebook Pet Society gespielt, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich habe sogar schon einmal 69 Cent für irgendeinen Krempel bezahlt, den ich in Candy Crush brauchte. Ich habe solche Spiele immer gemocht. Weil sie mir auf langweiligen Zugfahrten zur Seite gestanden haben. Weil sie so gut gebaut sind, dass sie mich einsaugen. Weil sie manchmal genau sind, was ich brauche.
Und dann plötzlich stehe ich nachts auf einer dunklen Straße, und nehme Worte wie „Gulag“ in den Mund.

3.

Am Anfang ist da Marie. Marie trägt einen Hut, sieht cowgirlmäßig aus und zeigt mir, wie man Tomaten pflanzt und erntet. Wie man diese Tomaten verkauft oder daraus Futter für Hühner herstellt. Das ist nett, das ist harmlos. Die Tomaten brauchen eine Minute, bis sie gewachsen sind. Wenn ich sie ernte, blinkt da alles mögliche, ich bekomme irgendwelche Experience Points, die Hühner werfen Eier aus, ich verkaufe den ganzen Kram, dafür gibt es Münzen, die blinken und wackeln auch rum, wie die Tomaten, ich bekomme ständig irgendwelche Belohnungen, wofür, ist mir nicht ganz klar. Alles passiert gleichzeitig. Ich stelle den Sound ab.

4.

Anfangs muss ich an Flipper denken. Ich mag Flipper, weil sie blinken. Weil sie ruckeln. Weil sie klingeln, weil sie dengeln, weil alles an diesen Teilen mir sofort und direkt auf alles, was ich tue Feedback gibt, und zwar viel zu viel davon. Einmal den Ball gegen irgendein Lichtdings gedozt? 1 Millionen Punkte! Mindestens! Bonusspiel! Extraball! Hier hast du noch ein nerviges Sirenengeräusch dazu, das dem ganzen Laden einen Herzinfarkt verpasst. Ich finde so etwas zutiefst befriedigend. Anfangs ist Farmville die Fortführung genau dieses Flipper-Prinzips: Viel zu viel für viel zu wenig. Und es fühlt sich wunderbar an.

5.

Dann setzt der Rohstoffmangel ein. Nach einem Tag? Zwei? Kein Wasser für die Pflanzen. Kein Futter für die Tiere. Keine Baumaterialen für Ställe, Küchen, Spinnräder, für die Werkstatt. Marie sagt mir, ich solle dieses oder jenes ernten oder herstellen. Später kommt noch jemand namens Walter, und gibt mir irgendwelche Aufträge. Der Typ vom Dorfladen kommt in seinem Wagen an und verlangt Produkte, die ich noch gar nicht in der Lage bin, herzustellen, weil ich das entsprechende Gebäude noch gar nicht besitze. Manches davon muss ich unter Zeitdruck erledigen – manches davon ist schlicht unmöglich. Nichts gegen Herausforderungen. Aber wenn ein Spiel von mir etwas unmögliches verlangt, finde ich das unhöflich. Ungehörig. Unnötig.

6.

Dieser Typ, der debil lächelnd diese durch Rohstoffmangel unmöglichen Aufträge halb erledigt – dieser Typ bin übrigens ich. Das Spiel zeigt mir das, bei jeder Gelegenheit, immer, wenn ich mit dem Mauscursor über ihn fahre, steht da: „Das bist du!“, als wolle das Spiel sich lustig machen. Kuck mal, der Versager da, der nichts gebacken kriegt. Der noch nicht einmal ausreichend Krokusse ernten kann. Das bist du.

7.

Ich könnte das Problem beheben: Ich könnte 24 Stunden am Tag Farmville 2 spielen. Da sein, wenn das Spiel in seiner Gnade beschließt, mir Wasser zu gewähren und so die Deckelung von 30 Einheiten Wasser umgehen, die es vorgibt. Ich könnte da sein, wenn meine Pflanzen reif werden und sofort neue pflanzen. Das würde den Leerlauf minimieren, den ich habe, wenn ich ein paar Stunden mal nicht spiele und meine Feldfrüchte einfach nur sinnlos vor sich hin stehen. Nachts, zum Beispiel. Ich könnte meine Facebook-Freunde anbetteln. Die paar, die auch spielen, helfen mir schon, wo sie können, aber das sind nicht viele. Ich könnte auch diejenigen anbetteln, die nicht spielen: Ich könnte von ihnen Bretter verlangen, Steine, Wasser, Dünger. Ich könnte sie so lange nerven, bis sie mir geben, was ich will. Ich könnte meine ganze Timeline damit zuspammen. Sollte einer meiner Freunde dem Spiel beitreten, der nicht nicht spielt, bekomme ich sogar doppelte Rohstoffe, sagt das Spiel. Dann, vielleicht, mit kluger Planung, könnte ich es schaffen, das Spiel zu befrieden. Alle Aufträge in der vorgebenden Zeit auszuführen. Das Spiel belohnt den, der ständig anwesend ist. Es belohnt den doppelt, der andere in es hineinsaugt. Mir ist klar, dass Farmville 2 ein Social Game sein soll – aber ich möchte es bitteschön spielen können, ohne meine Freunde zu nerven. Manches kann ich noch nicht einmal bauen, wenn ich nicht öffentlich poste, dass ich noch ein paar Vogelnester oder ähnlichen Krimskrams brauche.

8.

Farmville 2 kennt zwei Währungen – Münzen und Farm Cash. Münzen habe ich so viele, dass ich meine ganzen halb fertig gebauten Gebäude damit dichtkleben könnte. Farm Cash würde mir bei meinen Rohstoffproblemen helfen – wenn ich Geld dafür ausgeben würde, echtes Geld, welches von meinem Konto. Ansonsten scheint es keine Möglichkeit zu geben, an Farm Cash zu kommen. Ich kenne das von anderen Facebook-Spielen: Dass ich für kleine Gefälligkeiten bezahlen muss. Aber Farmville 2 bietet für das Geld keine kleinen Gefälligkeiten. Ich könnte dafür alles kaufen, was ich mir sonst mühsam von Freunden zusammenkratzen muss. Entweder ich nerve die, ununterbrochen, oder ich bezahle.

9.

Ich spiele trotzdem täglich. Ich passe die unterschiedlichen Erntezyklen meinen Wach- und Spielzeiten an. Ich versuche, so wenig Leerlauf wie möglich zu haben. Ich versuche, zu unterscheiden, welche Gebäude wichtig sind und welche nicht. Ich versuche, Pläne zu entwerfen. Ich verdiene irrwitzige viele Münzen, für die ich mir nichts brauchbares kaufen kann. Und dann kommt wieder der Gemüsehändler aus dem Dorf, und möchte, wasweissich, fünfmal feine Kaninchenwolle und 20 Gemüsesuppen. Und wirft alles über den Haufen.

10.

Ich bin Frustration von Spielen gewöhnt. Ich bekomme einen Sprung nicht hin. Finde einen Gegenstand nicht. Verzweifle an einem Bosskampf. Verbringe Stunden mit mühsamem Hochleveln. Wäre es einfach, das ist mir klar, würde es keinen Spaß machen. Der Unterschied ist, dass bei den meisten anderen Spielen ich selbst etwas tun kann. Ich bin frustriert – aber ich kann daran arbeiten. Farmville 2 kann man nicht besiegen. Das ganze Spiel arbeitet gegen mich, so lange ich ihm kein Geld in den Rachen werfe. Es geht nicht nur darum, dass die Spielmechanik gegen mich ist – sie verlangt zu viel von mir, aus meinem echten Leben. Mehr Zeit, mehr Geld, mehr Freundschaften als ich investieren will. Und zwingt mich dadurch in Zwangsarbeit. Ich beackere meine kleine Farm, und Stück für Sück, Levelaufstieg für Levelaufstieg, wird der Widerstand zu groß für mich.

11.

Als ich einmal einen Candy-Crush-Level beendete, für den ich besonders lange gebraucht hatte, poppte ein Fenster auf, das von mir verlangte, auf einer Skala von 1 bis 10 anzugeben, wieviel Spaß mit das Level gemacht hatte. Ich wusste nicht, was ich angeben sollte. „Spaß“ war keine Kategorie, in der ich jemals über das Spiel nachgedacht hatte, kein Wort, mit dem ich das Spielerlebnis beschrieben hätte.

12.

Mein Avatar lächelt debil vor sich hin. Walter, Marie und der Gemüsehändler bedrängen mich mit immer neuen Forderungen. Meine Tiere schreien nach Futter. Gebäuderuinen stehen halbfertig auf der Farm. Ich habe kein Wasser, keinen Dünger. Ich habe Geld, für das ich mir nicht kaufen kann, was ich brauche. Ich kann nichts daran ändern, egal, was ich versuche. Farmville 2 ist, glaube ich mittlerweile, ein Spiel über einen Farmarbeiter in einem totalitären Staat, der von Wirtschaftssanktionen und falsch geplanter Planwirtschaft geschüttelt wird. Ich warte auf Revolutionäre, die meine Farm niederbrennen. Ich möchte die Spielfiguren schütteln, sie fragen: „Seht ihr denn nicht, dass hier nichts in Ordnung ist, gar nichts? Wie könnt ihr lächeln?“

13.

Die Revolutionäre kommen nicht. Ich spiele weiter. Jeden Tag. Ich arrangiere mich mit dem Mangel. Ich liefere meine Zwiebeln ab, meine Kürbisse, meine Apfelbrötchen, meine geflochtenen Krokuskränze. Ich mache das beste aus dem, was ich habe. Wäre Farmville 2 klüger, besser konzipiert, würde ich meinen Rückzug als Metapher verstehen. So denke ich nur: Vielleicht gehe ich das Ganze zu verbissen an. Vielleicht nehme ich das alles zu ernst. Andererseits: Ich verdiene meinen Lebensunterhalt manchmal mit Spielen. Wie sollte ich sie dann nicht ernst nehmen?

14.

Irgendwann, lange, nachdem ich es wirklich gebraucht hätte, wird eines meiner Gebäude doch noch fertig. Irgendein Stall, irgendein Silo, ich weiß nicht. Meine Tiere brauchen weniger Futter, weil ich jetzt dieses Gebäude habe. Ich muss nicht mehr so viele Pflanzen anbauen, die ich nicht direkt weiter verarbeiten kann sondern die nur als Futter gedacht waren. Ich habe mehr Luft für Pflanzen die ich zur Produktion von etwas anderem brauche. Kurz gesagt: Ich muss, mit diesem Gebäude, weniger spielen als vorher. Das finde ich vielleicht noch die bizarrste Pointe von Farmville 2: Das Spiel belohnt mich damit, dass ich weniger spielen muss. Das ist das Spielziel: Es so wenig wie möglich spielen zu müssen. Viele der besten Spiele, die ich kenne machen es genau umgekehrt: Sie belohnen einen damit, dass man frei wird, sich in der Welt zu bewegen. Sie belohnen einen damit, dass man mehr spielen kann. Nicht Farmville.

15.

„Wenn das Spiel ein Gulag ist“, sagt der Freund, mit dem ich auf der Suche nach einem offenen Laden bin, in dem man uns noch Bier serviert, „warum spielst du es dann?“
„Weil ich glaube, dass ein bisschen etwas gutes darin steckt“, sage ich.
„Und?“, fragt er.
„Ich habe es noch nicht gefunden“, sage ich.
Wir wanken weiter durch die Nacht. Ich frage mich, ob mein Weizen schon reif ist.

 

Dieser Text erschien ursprünglich in der WASD Nr.05

Bildquellen

  • Fischer_Farmville_3: Screenshot Farmville 2