Jacqueline Stangl (Tätowiererin)

Interviewreihe “Davon leben” – Interview mit Jacqueline Stangl (Tätowiererin)

Die Tätowiererin Jacqueline Stangl erzählt im Interview davon wie man beim Stechen eines Tattoos locker bleibt, wo Dienstleistung und Kunst sich unterscheiden und wie sie von Bayern über Bielefeld nach Tirol gelangte.

Kunst machen – klar. Aber davon leben? Für Davon leben trifft Martin Spieß sich mit Künstlerinnen und Künstlern an der Peripherie des ganz großen Erfolgs. Dort, wo es wenig Geld, aber viel Leidenschaft gibt. Heute im Gespräch: Jacqueline Stangl, 29, eine bayerische Tätowiererin. Sie lebt in Wörgl in Tirol, wo sie das Tattoostudio Satya Ink betreibt.

Wann und wo bist du geboren?

Am 04. September 1987 in Zwiesel, im bayerischen Wald.

Du bist gebürtige Deutsche? Bist du dort auch aufgewachsen?

Bin ich, aber das Herz schlägt doppelseitig. Tirol und Bayern sind sehr ähnlich, aufgewachsen bin ich in Regen, das ist auch Provinz. Mit 18 Jahren stand meine Entscheidung fest, wegzuziehen.

Nach der Schule?

Blöd gesagt: Nach dem Führerschein. Da ich keine Zukunft in meinem Heimatort sah, zog ich mit meinem damaligen Freund erst nach Bielefeld, das aber leider nur für ein paar Monate.

Und was waren deine Gründe, nach Österreich zu ziehen?

Nach Österreich kamen wir durch Zufall. Wir hatten eine große Landkarte an der Wand hängen und ich tippte blind irgendwo drauf. Getroffen hatte ich Innsbruck, und zufälligerweise hatte mein Freund dort seine Ausbildung gemacht. Und nach ein paar Anrufen konnten wir bei einem Kollegen unterkommen. Zu der Zeit hatte ich unter anderem einen Job als Piercing-Assistentin.

Hattest du zu der Zeit nur deinen Schulabschluss oder auch noch eine weitere Ausbildung?

Mein Schulabschluss war ein besserer Hauptschulabschluss. Und meine Lehre als Floristin hatte ich abgebrochen. Ich habe erst in Österreich eine Ausbildung gemacht: Im Landestheater Innsbruck als Herrenschneiderin.

Du gingst also der Liebe wegen mit, ohne zu wissen, wo es beruflich für dich hingehen würde.

Ich hatte nichts zu verlieren. Ich wollte „es“ einfach wissen, meine Grenzen austesten. In den ersten Tagen in unserer Wohnung schliefen wir auf Koffern. Das waren alles Erfahrungswerte.

Wie kamst du zur Ausbildung zur Herrenschneiderin?

Nach der Trennung von meinem damaligen Freund zog ich für kurze Zeit wieder zu meinem Vater nach Bayern. Aber ich hatte Sehnsucht nach meinen Freunden in Österreich, suchte also dort nach einer Lehrstelle. Zufällig suchten sie im Landestheater einen Lehrling und luden mich für ein paar Tage ein, um mich umzusehen. Und ich bekam die Stelle.

Du hast also nicht direkt nach einer Stelle als Schneiderin gesucht, sondern nach einer Lehrstelle allgemein. Und dann hast du genommen, was sich anbot.

Ich bin nicht zimperlich, was arbeiten angeht. Ich versuche alles.

Wie alt warst du, als du die Ausbildung anfingst? Und in welchem Jahr war das?

Meine Lehre habe ich 2009 angefangen, da war ich 21 Jahre alt.

Wie lange hast du in dem Beruf gearbeitet? Und wie hat es dich dann zum Tätowieren verschlagen?

Nach meiner Ausbildung hätte ich zu wenig verdient, um mir die Wohnung in Innsbruck weiterhin leisten zu können. Also zog ich ins Tiroler Unterland und arbeitete als Tapeziererin und schneiderte. Der Gedanke ans Tätowieren war schon lange da, nur hatte ich keine Ahnung, wie ich es angehen sollte, da es kein wirklicher Lehrberuf ist. Viele Freunde aber machten mir damals Mut, da ich wirklich Talent dazu hatte. Ich glaube, ich klapperte jedes Tattoo-Studio ab und fragte überall nach einem Platz. Da es aber leider nur Absagen gab, entschied ich mich, mich selbst darum zu kümmern. In der Zeit machte ich dann verschiedene Jobs im Gartenbau, am Skilift und als Schneiderin bei einer Modedesignerin, damit ich mir alle Kurse und Prüfungen leisten konnte.

Kurse und Prüfungen?

In Österreich gibt es von der Wirtschaftskammer gestellte Befähigungsprüfungen. Außerdem machte ich noch die Unternehmerprüfung, um mein Studio eröffnen zu dürfen. Es ist in Österreich gesetzlich schwieriger als in Deutschland, Tätowierer zu werden. Eine klassische Ausbildung aber gibt es leider nicht, es würde sich sowieso eher lohnen, bei einem Tätowierer im Studio zu lernen. Aktuell kannst du in drei Monaten einen Grundkurs als TätowiererIn absolvieren, doch ich finde es fraglich, ob drei Monaten reichen.

Hast du Tätowieren in so einem Kurs gelernt? Oder bei einem anderen Tätowierer?

Ich hatte das Glück, einem Tätowierer für einige Zeit über die Schulter schauen zu können. Aber das meiste brachte ich mir selber bei.

Wie bringt man sich denn Tätowieren selber bei? Hast du ganz klassisch auf Schweinehaut geübt?

Mit viel Übung – und Geduld! Natürlich habe ich vorerst auf Schweinehaut gestochen. Und wie die meisten habe ich das Stechen danach auch an mir selbst ausprobiert. Bei mir waren es die Füße, dann durfte ich mich auch an Freunde wagen.

Und? Waren sie zufrieden?

Natürlich muss ich, wenn ich die Sachen heute sehe, immer noch schmunzeln, was ich da gemacht habe. Manche sind immer noch sehr zufrieden, bei anderen habe ich schon ausgebessert. Aber irgendwie sind es trotzdem schöne Erinnerungen, auch wenn das Tattoo nicht perfekt ist. Aber die Erlebnisse mit meinen Freunden sind natürlich unbezahlbar und das drückt sich auch im Tattoo aus.

Zumal sich menschliche Haut sowohl beim Stechen als auch beim Abheilen nie gleich verhält, man also immer mit einem gewissen Grad an Abweichung rechnen muss.

Richtig. Es ist jeden Tag eine Herausforderung, da es immer wieder neue Motive sind und jede Hautstelle anders abheilt als die andere.

Ich bewundere TätowiererInnen ja, weil es eine so endgültige Kunstform ist: Eine Leinwand kannst du übermalen, eine Geschichte oder einen Song umschreiben. Du kannst im Studio einen Take wieder und wieder aufnehmen, bis er sitzt. Aber beim Tätowieren muss jede Linie sitzen, jeder Punkt, jede Schattierung. Ich glaube, ich würde pausenlos Angst haben, das Tattoo zu versauen. Wie schaffst du es, da locker zu bleiben?

Das ist echt eine gute Frage und wirklich schwer zu erklären. Ich würde sagen, man fühlt sich irgendwie in eine andere Welt versetzt. Auf alle Fälle ist höchste Konzentration gefragt. Und wie bei jedem Handwerk braucht man natürlich auch viel Leidenschaft und Präzision. Aber mit Können und viel Übung kommt das mit der Zeit von alleine. Und natürlich macht es mir echt viel Freude. Wenn ich länger nicht tätowiere, bin ich nicht vollständig. So als würde ein Teil von mir fehlen.

Heißt das, du hast einfach keine Angst, einen Fehler zu machen, oder nimmst du die Angst in Kauf, weil das Tätowieren eben ein Teil von dir ist?

Eine Angst ist immer da. Aber die muss man eben aushalten und auch zu seinen Fehlern stehen können. TätowiererInnen sind auch nur Menschen, die nicht komplett perfekt sein können. Aber gleichzeitig versuche ich es immer. Auch aus dem kleinsten Motiv will ich etwas Perfektes machen. Ich denke, dass jede Tätowiererin und jeder Tätowierer den Hang zum Perfektionismus in sich trägt.

Ist der Perfektionismus deswegen so wichtig, weil es eben keine Leinwand ist, die man im schlimmsten Fall wegschmeißen kann, sondern menschliche Haut? Spielt es für dich eine Rolle, dass die Möglichkeit, Fehler zu korrigieren, begrenzt ist?

Natürlich, da ein Tattoo fürs Leben ist, sollten keine Fehler passieren.

Klar „sollten“ keine Fehler passieren, aber die Möglichkeit besteht. Spielt das für dich eine Rolle, während du tätowierst? Was geht da genau in deinem Kopf vor? Im Moment, während du tätowierst und so ein Gedanke kommt wie: „Du darfst das nicht versauen!“

Dieser Gedanke kommt nicht mehr. Ganz am Anfang war es so. Aber das vergeht mit der Zeit. Jetzt habe ich eher das technische Tätowieren im Kopf: Farbe aufnehmen. Welche Farbe ich wo einsetze, damit es richtig wirkt. Wo ich schattiere, so dass die Tätowierung auch einzigartig wird. Und ich frage meine KundInnen, ob ich auch was verändern darf, wenn es dadurch auf der Haut besser wirkt als auf der Vorlage. Abweichungen sind, wie gesagt, immer möglich. Ich konzentriere mich eher auf das Kunstwerk als darauf, was schiefgehen könnte.

Wann war der Moment, in dem du begannst, dich als Künstlerin und deine Arbeit als Kunst zu betrachten? Und wann ist ein Tattoo für dich Kunst und wann Dienstleistung?

Ich glaube, als Künstlerin habe ich mich schon im Kindergarten betrachtet. (lacht) Wenn ich einen Stift hatte und ein Blatt Papier fühlte ich mich irgendwie frei. Ich konnte meiner Fantasie freien Lauf lassen und malen, was mir im Kopf herumschwebte. So ist es irgendwie auch noch heute. Ich denke, Kunst bei einem Tattoo ist, wenn ich mich bei jemandem auf der Haut selbst verwirklichen kann. Dienstleistung ist, wenn ich jemandem mit dem Ergebnis ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte, und er oder sie fröhlich mein Studio verlässt.

Gibt es für dich keinen Spagat zwischen künstlerischer Selbstverwirklichung und der Dienstleistung des zu erfüllenden Kundenwunschs? Wenn du tätowierst, bist du frei, so wie damals als zeichnendes Kind?

Das Tätowieren an sich ist für mich eine besondere Leidenschaft, die mir Spaß macht und ich sehe und fühle mich immer noch als zeichnendes Kind, ja. Natürlich gibt es einen Spagat zwischen Kundenwunsch und künstlerischer Selbstverwirklichung. Wenn ich mir bei einem Kundenwunsch unsicher bin, muss ich manchmal auch eine Absage erteilen, aber das macht jeden Tätowierer so einzigartig, da jeder seinen eigenen Stil, seine Stärken und Schwächen hat. Man muss sich als Tätowiererin ehrlich eingestehen können, dass manche Kundenwünsche nicht umsetzbar sind. Damit haben wir aber, glaube ich, alle täglich zu kämpfen. Außerdem können wir ja Vorschläge machen, um ein Motiv anders umzusetzen.

Du klingst, als kämst du gut klar damit, wie dein Leben ist. Damit meine ich: Du klagst nicht, nimmst Schwierigkeiten in Kauf, und am Ende lebst du deinen Traum.

Das macht doch gerade das Leben aus! Man hat jeden Tag zu kämpfen und es liegen Steine im Weg, aber warum sollte ich mich beklagen? Es sind doch eigentlich nur Aufgaben, von denen du lernen kannst, die dich nur stärker und erfahrener machen.

Und wenn die Steine zu viel oder zu groß werden? Dann holst du dir Hilfe? Oder gibt es auch mal Momente, in denen du – um es schön kitschig zu formulieren – grüblerisch und melancholisch am Fenster sitzt und in den Regen guckst?

Beides passiert. Früher fiel es mir schwer, Hilfe anzunehmen, heute sieht das anders aus. Man kann nicht alles alleine schaffen. Warum also nicht auch mal Hilfe annehmen, wenn man sie wirklich braucht? Manchmal hole ich mir Rat, manchmal besteige ich einen Berg und dann fällt mir irgendwie ein Weg ein, wie ich das Problem lösen kann.

Wandern hilft mir auch. Ich lebe zwar im flachen Norddeutschland, fahre aber ein Mal im Jahr für ein bis zwei Wochen nach Tirol. Klingt wie eine Floskel, aber die Berge rücken alles in die richtige Perspektive. Und sie sorgen manchmal auch für Inspiration. Funktioniert das für dich auch?

Auf alle Fälle. Man braucht diese Auszeit, damit man wieder andere Sichtweisen in Betracht ziehen kann. Das mit der Inspiration ist sehr verschieden. Ich nehme gerne auch mal eine Kamera mit zum Wandern, um Tiere oder Pflanzen zu fotografieren. Und ich liebe Strukturen in der Natur, zum Beispiel in Felsen. Aber auch in Großstädten bekomme ich viel Inspiration, wenn ich Architektur betrachte oder Straßenkünstlern zusehe.

Ich würde gerne – einfach, weil sie so schön bescheuert ist – mit einer Bewerbungsgesprächsfrage schließen, so du einverstanden bist.

Bin ich.

Wo siehst du dich selbst in fünf Jahren?

Die ist wirklich bescheuert. (lacht) Aber du hast es so gewollt: Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich würde sagen: Ich lasse es auf mich zukommen. Vielleicht bin oder werde ich Mutter, vielleicht bin ich am Reisen, vielleicht mache ich immer noch so weiter wie bisher. Ich lasse mich überraschen.

Bildquellen

  • Jacqueline Stangl (Tätowiererin): Privat