The sun always shines on tv

It’s my party and I cry if I want to – Marcel Reich-Ranicki ist wieder solo – The Sun Always Shines On TV

Irgendwann war das Literarische Quartett nur noch ein Solo-Programm – und dann sind die anderen drei Teilnehmer auch noch ausgestiegen. Dann gabs halt Reich-Ranicki Solo. (10. Februar 2002)

Man kennt die Situation. Anläßlich der Silbernen Hochzeit von Nachbarn ist man auf deren Feier eingeladen. Anstatt nur mit seiner eigenen Peergroup rumzuhängen, will man die Gelegenheit nutzen, um die weitläufige Familie der Nachbarn kennenzulernen. Die Gastgeber sind im Streß, die Enkelkinder flippen im Nebenraum herum, ihre Eltern ziehen mit ihren Cousinen und Cousins endlich mal wieder über die Familie her, also bleiben nur die freundlichen Senioren, die vereinzelt an den Tischen sitzen und wohlwollend auf ihre Sippschaft starren. Es regt sich das eigene soziale Gewissen, und man geht rüber zu dem alerten 80jährigen im taubengrauen Anzug, der einsam in der Mitte sitzt und von seinen Kindern, Enkelkindern und Urenkeln ignoriert wird. Interessiert setzt man sich zu ihm, um ein paar freundliche Floskeln auszutauschen und ihn am unverbindlichen Partygeschehen teilhaben zu lassen. Sehr schnell wird jedoch klar, warum seine nächsten Verwandten einen so strikten toten Winkel um ihn herum geschaffen haben. Denn kaum spricht man ihn an, sitzt man auch schon in der Falle. Spinnengleich verharrte er in der Unsichtbarkeit, um sich blitzschnell auf das unvorsichtige Opfer zu stürzen und es bei lebendigem Leib in einen dichten Kokon zu weben. Ohnmächtig und stumm muß man sich stundenlange Ausführungen über die Vergangenheit anhören, endlose Streitgespräche werden wieder abgespult, deren Partner längst verblichen sind oder die nie existiert haben, ständig wird abqualifiziert, was geworden ist, und unüberprüfbar gelobt, was gewesen ist. Man versucht zu entkommen, indem man auf andere Gäste verweist, doch vergebens, der Redeschwall ist unerbittlich. Innerhalb von vier Sätzen werden drei Themen verhandelt, die nichts miteinander zu tun haben, ohne logische Übergänge, aber auch ohne argumentativen Bruch, denn es ist ein reiner Gestus, ein jahrzehntelang einstudierter innerer Monolog, der sein Gegenüber nur als einen Katalysator begreift, um akustisch zu werden. Erschöpft flieht man schließlich aufs Klo und verabschiedet sich danach schnell von dieser Feier. Nur weg von dieser Spinne und ihrem Netz.

Lebenserfahrung bedeutet, solche Situationen kennengelernt zu haben und ihnen später aus dem Weg zu gehen. Demzufolge zeugte unser Verhalten am Dienstag Abend nicht von großer Lebenserfahrung, denn um 22:15 Uhr setzten wir uns zu dem alerten 80jährigen im ZDF, um mit ihm über dies und jenes zu plauschen. Was für ein Fehler! Denn gnadenlos begann Marcel Reich-Ranicki, so nennen wir einen Literaturkritiker in den besten Jahren, herumzuschwadronieren, ohne daß es eine innere Logik der Ausführungen gegeben hätte und ohne daß man ihre Relevanz für einen wie auch immer gearteten Zusammenhang erkennen konnte. Es fing mit dem Musikstück des Vorspanns an, das Alfred Kerr mal als „Hymne der Kritik“ bezeichnet hatte, in irgendeinem Vorwort zu einer Ausgabe seiner Kritiken irgendwo, die jetzt, wer hätte es gedacht, in einer x-bändigen Ausgabe irgendwo wieder aufgelegt werden. Schön und gut, Alfred Kerr mag brillant sein, aber das soll man uns bitte zeigen. Leidenschaft, Witz, verbale Artistik, alles das hätte man gern gehört, dann wären wir willfährige Jünger geworden und hätten an MRRs Lippen gehangen. Stattdessen nur die Lexikonformeln, daß Alfred Kerr der größte Kritiker des letzten Jahrhunderts war, daß er in der Kritik Großes geleistet hat und daß im letzten Jahrhundert kaum ein anderer so große Kritiken geschrieben hat, wie Alfred Kerr. Wenn das eine überzeugende Argumentation gewesen sein soll, dann befleißigte sie sich des raffinierten und elaborierten Stilmittels der Tautologie. Für ungeübte Ohren natürlich nicht sofort zu erschließen.

Ähnlich kunstvoll wurde dann übergeleitet zum 75jährigen Grass, der ein herzerfrischendes Buch geschrieben hat, das deswegen gut ist, weil der Vortragende es gut findet. Begründung: MRR hat nicht unter seinem Niveau geweint. Was zu einer schon wieder kunstvollen Überleitung führte, die im neuesten Buch von Phillip Roth mündete, der ebenfalls schon im Pensionsalter ist und ebenfalls ein gutes Buch geschrieben hat, und das, weil MRR es eben gut findet, deshalb hat Roth rückwirkend gut geschrieben. In gewohnt kunstvoller Weise wurde übergeleitet zu den Porträts des selbst in Todesjahren sich schon der Pensionsgrenze nähernden Zuckmayer. Die ebenfalls aus nun wohlbekannten Gründen gut sind. Dann ging es etwas abrupt um die Börse, was Lacher provozierte, aber nicht um den DAX, sondern wieder nur um Thomas Mann. Zum Abschluß wurde ein grandioses Fazit aus diesen atemberaubend verschachtelten Syllogismen gezogen: Die deutsche Literatur tritt in eine neue Blütephase ein. Verblüfft halten wir inne. Mit Thomas Mann, Carl Zuckmayer, Alfred Kerr, Günter Grass und, überraschenderweise, dem Amerikaner Phillip Roth hat sich die deutsche Literatur verjüngt und neue Kraft gefunden? Da braucht es schon den weiten Horizont eines Achtzigjährigen, um solche neuen Talente zu erspähen. Der historischen Einmaligkeit dieses Vorgangs entsprechend stammelte MRR minutenlang herum, aus seinem Mund drangen immer wieder die Wortfetzen „Neu“, „Blüte“, „Frühling“, die Uhr auf seinem Tischmonitor war immer noch nicht abgelaufen, er stammelte weiter. Die Uhr schien stehenzubleiben, um die Grandiosität dieses kulturgeschichtlichen Moments festzuhalten. Es blühte und blühte. Dann wurde endlich der Saft abgedreht und wir konnten uns aufs Klo absetzen.

Natürlich war MRR im Literarischen Quartett besser. Aber das wußten wir auch schon vor der Sendung. Das hätte man uns nicht noch einmal beweisen müssen. Gut am Literaturpapstdarsteller war nämlich nie das, was er sagte, sondern immer nur, daß er sich so gegenüber anderen ereiferte. Die Entrüstung über das, was die Löffler oder der Karasek gesagt hatte, war ein Schauspiel, an dem wir uns ergötzten. Das Literarische Quartett war der erste wirkliche gelungene Fernseh-Slapstick, eine rein auf das Körperliche abzielende Kunstgattung. Versucht hatte das vorher nur Didi Hallervorden, der in seinem Nonstop Nonsens allerdings den Fehler begangen hatte, sich zu bewußt zu sein, daß er Slapstick machen wollte. Slapstick funktioniert nur, wenn die Protagonisten das Gefühl vermitteln, daß ihnen tatsächlich alles unmittelbar widerfährt. Das regungslose Gesicht Buster Keatons, wenn ihm eine Hauswand auf den Kopf fällt, die tumbe Verständnislosigkeit von Stan Laurel, wenn er das Klavier die Straße hinunterrollen läßt, das war Slapstick in Perfektion. Genauso erging es MRR im Literarischen Quartett, der immer fassungslos die Beiträge der anderen erleiden mußte, um sich dann in eine comichafte Körperlichkeit zu steigern. Die Sendung funktionierte deshalb, weil der Inhalt so unwichtig und so spezialwissenbehaftet war – wir erinnern uns, es ging um Literatur –, daß man sich vollständig auf dieses Körperdrama einlassen konnte. Wie man, um Himmels Willen, auf die Idee kommen konnte, MRR dieses Slapstick-Settings zu berauben und ihn mit den Inhalten alleine zu lassen, weiß man nur in einigen Büros auf dem Mainzer Lerchenberg. Stan Laurel funktionierte auch nicht mehr, nachdem Oliver Hardy gestorben war, denn nun gab es die Umgebung nicht mehr, auf die er reagierte und einwirkte.

Na ja, vielleicht weiß man es nicht nur auf dem Lerchenberg, sondern auch hier draußen. Denn wir haben ja alle eingeschaltet. Das beste Konzept wird gekippt, wenn man keinen zweistelligen Marktanteil erreicht. Umgekehrt verharrt der größte Blödsinn, weil einige Millionen Menschen zu träge zum Umschalten sind. Obwohl – man sollte dem Blödsinn nicht Unrecht tun. Denn richtiger Blödsinn ist das Beste am Fernsehen und erhält zu Recht die meisten Zuschauer. Unerträglich ist aber Zeug, das so tut, als wäre es das Gegenteil von Blödsinn, nämlich richtig gediegene Unterhaltung mit Anspruch, und dann doch nur anbieten kann, nicht unter seinem Niveau zu weinen. Das Soloprogramm des Mit-sich-allein-Unterhalter MRR fällt genau in diese Kategorie. Man mußte sich nur das Publikum angucken, um Bescheid zu wissen. Es war wie in einem Alptraum, in dem man wieder zur Schule gehen mußte und unerklärlicherweise in der Gesamtkonferenz zwischen seinen ganzen Lehrern saß. Genauso streng, behalstucht, bebroscht, becordhost und durch 25jähriges öffentliches Beamtensein beherrscht wirkten diese Leute, die da den Ausführungen des Meisters lauschten. Nicht nur, daß auch sie nicht unter ihrem Niveau weinen würden, sie würden auch nicht lachen. Nein, nein, so etwas macht man nur bei erlesenen Bonmots eines allgemein geschätzten Fachmannes. So wie man nur im Reformhaus einkauft und nur politisch einwandfreie Baumwolle trägt, so setzt man sich zum Lachen in ein öffentlich-rechtliches Studio, in dem jahrzehntelang geprüfter Esprit ausgeschenkt wird. Aber bitte nicht zu viel. Wenn MRR sagt, daß ihn die Börse interessiert, dann kann man lachen. Das ist erfrischend ironisch. Dann ist aber auch genug. Man will schließlich nicht den Eindruck bekommen, hier müßte jemand ein Feuerwerk an Kreativität, Witz und Überraschungen abbrennen, um auf sich aufmerksam zu machen und sich endlich etablieren. Vor diesen ganzen Möchtegern-Emporkömmlingen ist man doch gerade geflohen. MRR bietet das angenehm prickelnde Gefühl, schon seit langer Zeit zum Establishment zu gehören.

Bitte, bitte, nicht mit dem Argument kommen, daß es doch bewundernswert sei, wie ein Achtzigjähriger noch so klar und so lange ein Publikum unterhalten könne. Das wäre nämlich ungerecht gegenüber MRR und er würde es zu Recht als eine Beleidigung empfinden. Denn das ist eine conditio sine qua non, um eine Fernsehsendung zu machen. Ansonsten würde es gar nicht stattfinden. Das Ganze soll ja kein Zoobesuch sein, wo man mit staunendem Finger auf die hundertjährigen Schildkröten zeigt, die sich immer noch tapfer in ihrem Terrarium halten. Also: keine Bewunderung für die Altersleistung, aus Respekt vor MRR. Warum MRR das Ganze dann aber genau dazu gemacht hat, indem er penetrant auf das Old Boys Network verwiesen hat und damit die Zukunft gestalten möchte, bleibt sein Geheimnis. Wir wollten es jedenfalls nicht. Wir wollten Slapstick, wir wollten auf unserem Niveau lachen, nicht aus Verzweiflung in Tränen ausbrechen.

Bildquellen

  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens