Mirkos Lovecouch, Foodporn Teil 1: Zungenkuss und Leberwurst

Heute auf Mirkos Lovecouch: Foodporn mal anders. Warum unser Kolumnist bei Liebe und Erotik an die deftige Thüringer Küche denken muss.

Liebe geht durch den Magen, so besagt eine Redensart, und da hat der Volksmund – wie manchmal eben – recht. Es sind keine Schmetterlinge, die da in der Bauchgegend zugegen sind, sondern, so klärt uns die Biologie auf, andere Kräfte. Liebe nämlich erzeugt bei vielen Menschen akuten Stress, der Magen reagiert mit Krämpfen, Verdauungsstörungen oder Heißhunger. Wenn es schief geht, sogar mit Durchfall. Ja, es stimmt: so manch einer hat sich vor Liebe schon in die Hosen gemacht, viele Internet-Foren geben darüber Auskunft, denn wenn Liebe durch den Magen geht – Ihr kennt den Kalauer, kommt sie als was wieder hinten raus? Es ist oft dünnflüssig und braun, es duftet nicht nach Rosen.

Bei mir jedenfalls war die Idee der Liebe schon sehr früh mit Essen verbunden, speziell mit der deftigen Thüringer Küche. Schuld war da dieses Mädchen. Vielleicht 11 Jahre alt, dunkle wuselige Locken, ein Stromerkind: so nannte man in der DDR Kinder, die sich immerzu herumtrieben und den ganzen Tag unterwegs waren, eben herumstromerten, und immer dreckige Klamotten trugen, rotzig und cool.

Ich lernte sie in den Ferien kennen. Bad Blankenburg, ein idyllischer Kurort mit viel Wald, wo ich oft die Sommer mit meinen Großeltern und meinem Bruder verbrachte. Dort also traf ich sie auf einem Spielplatz, und was sie dort sagte und tat, beschäftigte mich noch viele Jahre. Ich war ja damals auch noch nicht geschlechtsreif, vielleicht acht Lenze zählend, der erste Samenerguss in weiter Ferne. Aber dieses Mädchen prägte fortan meine Vorstellung von dem, was zwischen Frau und Mann passiert, wenn sie sich vereinigen, und ja: diese Vorstellung hatte mit Fett und Blut zu tun, mit Schweinsgedärm, Pfeffer und Kümmel, Tabasco und Senf.

Es ereignete sich nämlich Folgendes: das Mädchen kletterte die Stufen zu der alten und rostigen Rutsche hinauf. Doch bevor sie rutschte, breitete sie die Arme aus. Eine majestätische Geste, stand also oben auf der Rutsche, triumphierend auf die Welt hinunter schauend, als läge jedes Geheimnis offen vor ihr. Und dann rief sie es, rief die beiden Sätze, die fortan meine Phantasie füttern sollten, rief also diese beiden Sätze, die – ja, ich gebe es zu – überhaupt nicht zitierfähig sind. Sie sind auch nicht besonders schön. Vielleicht sogar banal und falsch. Sie rief nämlich folgendes: „Die Jungs haben eine Bratwurst und die Mädchen eine Semmel. Und die Bratwurst muss in die Semmel hinein!“

Das war auch schon alles, was das Mädchen rief. Vielleicht trug der Pathos des Vortrages dazu bei, die weit ausgebreiteten Arme und der feierliche Ton, dass mir dieses Bild bis heute nicht aus dem Kopf geht. Rückblickend muss ich auch zugeben, dass der Vergleich ein wenig schief ist, denn der Mann legt ja sein Würstchen nicht nur einmal in die Semmel der Frau, damit einer von beiden hineinbeißt oder die Geschlechtsteile gänzlich verspeist. Aber sieht so ein Penis nicht tatsächlich einer Bratwurst ähnlich, zugebeben, einer ungebratenen? Ich kann mich erinnern, mehr als einmal schon in Boulevardzeitungen die Schlagzeile „Hund beißt Mann fast den Penis ab“ gelesen zu haben. Es muss wohl auch an der Würstchenhaftigkeit des Penisses liegen, dass die Hunde genau dorthin beißen.

Leberwurstbrot

Mittlerweile bin ich darüber hinweg. Ich kann Sex haben, ohne an Bratwurst und Semmel denken zu müssen. Oder an anderes Essen. Aber das war nicht immer so. Denn auch mein erster Zungenkuss war ein deftiges Erlebnis. Ich lernte ein Mädchen aus Ziegenrück kennen, einem kleinen idyllischen Örtchen in Thüringen. Es war ein propperes, sonnengebräuntes Mädchen, eines, das immer ein bisschen nach frischem Gras roch, was ich sehr angenehm empfand. Ihre Eltern hatten eine Jugendherberge, sie schlief manchmal im Heu, doch als ich sie küsste, da hatte sie soeben ein frisches Leberwurstbrot verspeist, wie ich am Geschmack ihres Mundes erraten konnte. Und ich würde schwören, dass dieses Brot auch mit Senf eingerieben und mit Zwiebeln belegt war. Und als ich also das erste Mal eine Frau mit der Zunge küsste, da war auch dieses Bild wieder da, da sah ich das elfjährige Mädchen auf der Schaukel, das rief: „Die Jungs haben eine Bratwurst und die Mädchen eine Semmel. Und die Bratwurst muss in die Semmel hinein!“ Aber wie gesagt: ich bin darüber hinweg. Jetzt, da ich mich halbwegs vegetarisch ernähre, wäre es auch ein echtes Problem, bei jedem erotischen Kontakt an Blut und Speck denken zu müssen, an zerriebenes Hirn und Rückenmark, an Brust- und Baucheingeweide.

Liebe geht also durch den Magen, der Zusammenhang zwischen Bockwurst und Penis ist ein naheliegender, natürlich: Essen und Fortpflanzung sichern unser Überleben, und wenn wir ein saftiges Stück Fleisch verspeisen, schlägt das Belohnungszentrum im Hirn ähnlich Purzelbäume wie beim Sex. Warum sollten wir fortbestehen, wenn es uns nicht schmeckt, wenn es keine Lust bereitet? Der Kuss ist wohl die mächtigste Droge, er versetzt uns einen süchtigmachenden Cocktail aus Glücks- und Liebeshormonen. Manche der ausgeschütteten Endorphine sind 200mal stärker als Morphium. „Der Kuss“, sagt der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeld, „ist nichts anderes als die Weiterentwicklung der Nahrungsübertragung von Schnabel zu Schnabel“. Und so dienten wohl auch die ersten Küsse des Menschen dazu, Brei in den Mund eines kleinen Erdenbürgers zu träufeln, damit dieser satt werde. Die Liebe ist ein Leberwurstbrot, der Penis ist eine Bratwurst – und die muss eben in die Semmel hinein.

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