Musik mit Vokuhila im Herzen

Musik, die zu uncool ist, um uncool zu sein? Aber bitte. Mirko Wenig präsentiert eine Sammlung frisch geföhnter Vokuhila-Prunkstücke.

Einer meiner am meisten verwendten Begriffe bei Facebook? Vokuhila. Oft mit verlinkten Musikvideos. Kein Wunder: Als Altrocker ist mir ohnehin nichts zu peinlich, und als Vorgeborener der Generation Grunge habe ich die letzten Zuckungen von Hair Metal miterlebt. Bitteschön: Musik, die schon zu uncool ist, um wirklich uncool zu sein: Auch dafür braucht man ein Händchen. Willkommen zu „Best of Vokuhila Pop & Rock“ – rockt auch mit fortgeschrittenem Haarausfall ( habe ich für euch getestet).

AC/DC – Hells Bells (1980)

Man kann nicht in der Ostthüringer Provinz aufwachsen, ohne mit AC/DC konfrontiert zu werden. Es gibt unzählige Fanclubs, im Fitnesscenter läuft ständig ihre Musik – und im Bierzelt spielen Coverbands, die AB/CD, BC/DC oder AC/CC heißen. Wer einmal auf dem Bau mitgearbeitet hat, so wie ich oft in den Schulferien, der weiß ohnehin, dass man jeden Vokuhila-tragenden Bauarbeiter nachts wecken kann und er fehlerfrei die Akkorde von Hells Bells auf der Luftgitarre spielt. Und nein, dass ist nicht abwertend gemeint, denn keine Band hat so effektiv und klug den Blues massenkompatibel gemacht: die Einflüsse sind und waren Muddy Waters, Chuck Berry, Little Richard. Während AC/DC irrtümlicherweise für Mackertum stehen, gibt es auch kaum eine Band, die so sympathisch schüchtern ist, so ungern abseits der Bühne im Rampenlicht steht und Auftritte auf dem roten Teppich verachtet. Im November letzten Jahres ist Malcolm Young gestorben, ohne dessen Rhythmusgitarre AC/DC auf dem letzten Album schon nicht mehr funktioniert haben. Sollte er gemeinsam mit Bon Scott musizieren, werden im Himmel (oder so) derzeit Strom und Whiskey knapp.

The Night Flight Orchestra – Domino (2017)

Wir müssen den harten Fakten ins Auge schauen: Sahen wir jemals besser aus als mit unseren pinken Schweißbändern überm Vokuhila und den hautengen Jazzpants, während wir im Aerobic-Kurs mit Walkman auf den Ohren die High-Impact-Schritte übten? Die Antwort kann nur „nein“ lauten. Falls Ihr dieses Feeling zurück wollt, kann ich nur das Gesamtwerk von The Night Flight Orchestra empfehlen, ein Band-Projekt von – kein Scheiß! – hauptberuflichen Death-Metal-Musikern. Unter anderem ist der Sänger von Soilwork dabei und der Bassist von Arch Enemy. Aber trotzdem ist das Musik wie: Moment, ich muss mir noch fix das Brusthaar föhnen. Und wann kommt eigentlich die nächste Staffel von Miami Vice im Ersten Deutschen Fernsehen? Übrigens Night Flight Orchestra beweisen auf der Bühne, dass schicker Zwirn und Vokuhila sich nicht ausschließen.

Loverboy – Turn Me Loose (1980)

Natürlich ist Vokuhila-Rock auch Musik für überzeugte Nerds. Und die Nerd-Regel Numero 1 lautet: Für Momente spontan einsetzender Uncoolness sollte man immer einen Vokuhila zu Ankleben sowie mehrere Schweißbänder mit sich führen, damit man unbeteiligten Passanten ein authentisches Turn Me Loose entgegenschmettern kann: Inbegriff des 80er-Jahre-Stadionrock mit zugegebenermaßen sensationellem Gesang und funkigem Groove. Der eigentlich harmlose Song erlangte laut „Songfacts“ unfreiwillig Popularität in der Sado-Maso-Community, weil er angeblich unterschwellige erotische Botschaften beinhaltet: „And I was here to please/ I’m even on knees/ Making love to whoever I please/ I gotta do it my way/ Or no way at all.// And then you came around/ Tried to tie me down…“ – nichts davon war intendiert. Doch der Legende nach soll er soll besonders oft auf südkalifornischen Swinger Partys gespielt worden sein.

The Alarm – Strength (1985)

Diese Band hat die britische Musikkritik blamiert! The Alarm aus Wales hatten ihre größten Erfolge Mitte bis Ende der 80er Jahre, wurden aber spätestens seit Beginn der 90er von der britischen Musikpresse ignoriert oder als Überbleibsel einer vergangenen Epoche verspottet – nicht zuletzt, weil ihr Markenzeichen recht auffällige Vokuhila-Frisuren waren, die gern als Aufhänger für Verrisse benutzt wurden. Also brachte die Band 2004 eine Single unter einem Pseudonym „The Poppy Fields“ heraus und ließ im dazugehörigen Musikvideo 18jährige Schauspieler als Musiker auftreten. Die vermeintlich neue Band wurde in denselben Magazinen, die The Alarm normalerweise verreißen oder gar nicht erst besprechen würden, als neuer heißer Act gehypt, und prompt stieg die Single auf Platz 27 der Charts ein – die höchste Chartplatzierung seit 1987. Nach dem Charteinstieg gaben sich The Alarm als The Alarm zu erkennen und sorgten damit wiederum für Kontroversen, weil man nun der Band vorwarf, sie würden nur für den Erfolg sich als jüngere Musiker ausgeben. Ja, die Musik klang genauso, wie The Alarm nunmal eben klingen, punkiger geradliniger Rock mit leichten Folk-Einflüssen und einer ordentlichen Schlagseite U2, mit denen sie auch befreundet sind – nur hatte die Band eben ein anderes Gesicht. Wie sagt man so schön? Das Auge hört mit! Und was der Musikkritiker erstmal in seiner Schublade abgelegt hat, das holt er da so schnell auch nicht mehr raus.

Running Wild – Conquistadores (1988)

Könnt Ihr Euch noch an die Zeiten erinnern, als bei RTL die Sendung Mosh lief? Wenn Ihr Euch erinnern könnt, dann seid Ihr richtig alt, denn das muss so Ende der 80er gewesen sein, haha! Mosh war die Fönfrisur unter den Musiksendungen. Mosh war die ultimative Bad-Taste-Party, lange bevor Bad-Taste-Partys überhaupt erfunden waren. Mosh konnte man überhaupt nur dann im deutschen Fernsehen empfangen, wenn man einen Vokuhila trug und eine Jeanskutte: alle anderen sahen nur ein Testbild flimmern. Ungelogen. Mit anderen Worten: Mosh war das Dschungelcamp unter den Musiksendungen, der Bachelor mit Onanie und ohne weibliche Kandidatinnen, moderiert von Sabina Claasen und Götz Kühnemund. Aber was das bedeutet, wissen nur Eingeweihte, die den gesamten Back-Katalog von Running Wild besitzen. Und das sind die Härtesten unter den Harten. Wer den Running-Wild-Backkatalog besitzt, ist gegen alle Versuchungen der Coolness und des Hipstertums gewappnet. Der Sänger nennt sich noch heute Rock ’n’ Rolf und die Band hatte ein Piraten-Image. Verdammt: habe ich schon verraten, dass mein erstes Konzert überhaupt ein Running-Wild-Konzert gewesen ist? Im zarten Alter von 16 Jahren? Ja, lacht nur: ich halte Rock ’n’ Rolf für ein Genie. Bessere Metal-Hymnen zum Mitgrölen hat kaum einer geschrieben, die hochmelodischen Gitarren sind unverkennbar. Und apropos Piratenimage: Wer träumt nicht auch als Erwachsener noch davon, einmal Pirat zu sein?

Radiorama – Aliens (1987)

Sagt mal, gibt es eigentlich diese #Ultraromantik noch? Oder ist der Hype auch schon wieder vorbei? Ich kann mich noch erinnern, dass es vor wenigen Monaten ein ziemliches Bohei im Literaturfeuilleton um die Sache gab, angestoßen von den sogenannten „RKoL“ (Rich Kids of Literature). Weil ich aber zu den „OSPoP“ (Old School Prolls of Poetry) zähle – ich habe mit 32 Jahren meinen Abschluss mit einem Lyrikband am Literaturinstitut gemacht – und nicht mehr ganz so frisch bin, habe ich mir das Konzept der Ultraromantik immer vorgestellt wie ein Song des Italo-Disco-Song von Radiorama. Klar doch! Es soll Spaß machen, ohne „Prekariatsnörgelei“ auskommen, nur nicht zu realistisch sein, der Zukunft zugewandt, modisch, gern mit Science Fiction, irgendwie auch romantisch. So wie eben Radiorama mit ihrem Song Aliens. Voll abgespaced – und trotzdem good looking! Und nur echt mit Vokuhila! Die Dance-Moves lernt Ihr bitte alle bis zur nächsten Buchmesse. Wobei ich ja den Verdacht habe, die Ultraromantik könnte ein sehr kurzlebiges Phänomen sein. Wie ein Italo-Disco-Song, eben.

(PS: Achtet mal auf den blechernen Background-Tänzer im Hintergrund des Videos: das war der erste sprechende Mülleimer der Menschheitsgeschichte. Später erlangte er als „Siri“ und „Alex“ Berühmtheit.)

Molly Nilsson – Mona Lisas Smile (2017)

Ist diese wasserstoffblonde Frisur, die Molly Nilsson auf ihren ersten Alben trug, eigentlich schon ein Vokuhila? Egal. Der unterkühlte und minimalistische Elektro Pop der in Berlin lebenden Schwedin passt jedenfalls ganz wunderbar zur 80er-Jahre-Ästhetik der Vokuhila-Hochzeit. Bei Molly Nilsson funktioniert eine Reggae-Nummer im Grunde wie ein Kühlschrank: für ihren unterkühlten Synthie Pop braucht sie dann doch eine gewisse Wärme im Sound, die sie nach außen abgeben kann. Dass sie vor „Empowering Content“ warnt, ist auch sympathisch. Für manche eine größere Bedrohung als expliziter Content. Zur Musik fand sie angeblich eher zufällig: Als Graphikerin und Comic-Zeichnerin nach Berlin gekommen, probierte sie einfach das Keyboard ihrer Mitbewohnerin aus. Nun sind seit 2008 bereits sieben Alben entstanden. So klingt es, wenn man einen Eiswürfel vertont – natürlich einen, der in einem guten Drink schwimmt.

SVÖLK – 52 (2011)

Gerade in den nordeuropäischen Ländern gibt es aktuell ein großes Hard-Rock-Revival. Die Norweger SVÖLK haben nicht nur den Heavy-Metal-Umlaut im Namen und mit Nights under the round table das beste König-Artus-Zitat ever im Albumtitel, sondern machen auch echt tollen Vokuhila-Rock. Die Riffs hat man sich auf der Luftgitarre schnell eingeprägt. Der Sänger hat Hodenschmerzen. Pornobärte gibt es auch. Ein bisschen monoton, ansonsten alles super! Vertontes Manspreading.

Peaches – Vaginoplasty (2016)

Laut, politisch, gewollt vulgär – oder das, was der Pop-Mainstream dafür hält: Auch die Kanadierin Peaches trägt Vokuhila und ist vermutlich überhaupt unsere Lieblingsmusikerin. Ihre Bühnenshow ist eine Zitatensammlung von Rockismen und ein lustvolles Spiel mit Gender-Stereotypen, wobei sie den Machismo nicht nur bei den breitbeinig posenden Rock-Bands findet, sondern auch bei Punk und Techno. Ihre Wortspiele sind legendär (FatherfuckerImpeach my Bush), das letzte Album leider schon vier Jahre alt.

FM – Playing Tricks On Me (2018)

Früher in den 80er Jahren, als die Menschen noch so richtig Geschmack hatten (knallenge Spandex-Hosen, Fönfrisur oder Vokuhila, Aerobic in der Hüfte und Monchhichi am Gürtel), galt „AOR Rock“ (Adult Oriented Rock) schon als peinlichste Musik überhaupt: routiniert und berechnend, brav auf ein älteres Rock-Publikum zielend, aber erfolgreich in den Charts, von exzellenten Musikern und Songwritern dargeboten. Eine der Bands, die damals schon keinen Erfolg hatten, obwohl sie auch als peinlich galten, waren die Briten von FM, im Sommer 1984 gegründet. Aktuell touren sie wieder mit Saxon, ich habe sie live gesehen, und ich kenne kaum eine Band, die so lässig und abgehangen tanzbare Soul-Pop-Nummern runterjammt. Ach kommt: In einer Zeit, in der in jedem Studentenclub wieder Journey läuft (mit rappelvoller Tanzfläche) und Bands wie Night Flight Orchestra als der neueste heiße Scheiß gelten, darf man auch solche Bands wieder teilen, oder? Playing Tricks On Me ist eine neue Nummer ihres aktuellen Albums Atomic Generation.

Runrig – Hearthammer (1991)

Zum Ende noch ein echtes Fremdscham-Bonbon mit Krautwurzgeschmack. Eigentlich machten Runrig wirklich alles falsch, was man als Band nur falsch machen kann: Sie nennen ihre Band „Ackerfurche“, tragen Vokuhila-Frisuren, singen nostalgische Texte, die von grünen Wiesen und strebsamen Menschen handeln und treten als schottische Folkrocker vor Schlössern und Burgen auf. Die Songs waren gefällig produziert und nach einmaligem Hören bereits mitgrölbar. Aber so eine geballte Ladung an selbstverschuldeter Unnerdigkeit muss man erst einmal auf die Bühne bringen: Ihre Live Shows vor heimischem Publikum entwickelten sich zu Volksfesten für mehrere Generationen. Vor kurzem leider aufgelöst, der Vokuhila wurde zu Grabe getragen. Thumbs up! Thumbs down? Oder die Arme hoch und Party?

Hintergrundinformationen: Der Vokuhila, auch „vorne kurz, hinten lang“ oder Mullet genannt, ist ein vom Aussterben bedrohte Spezies von der Gattung der Haartiere, In den 60er und 70er Jahren vereinzelt gesichtet, breitete sie sich Anfang der 80er epidemieartig aus, bis sie Anfang der 90er plötzlich wieder verschwanden. Vokuhilas nisten sich im Nacken ihres Trägers ein und ernähren sich von dessen Hirn. Wer vom Vokuhila befallen wird, wird von einer tollwutartigen Krankheit befallen, deren wichtigstes Symptom eine nerdige Uncoolness ist.

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