Norwegische Serie SKAM: Isak + Even=♥

Wie die norwegische Jugendserie SKAM („Scham“) international für Furore sorgt. Es ist eine kleine Sensation was der Sender NRK geschaffen hat.

Norwegen ist in erster Linie bekannt für seine fantastische Natur, düstere Kinofilme mit skurrilen Charakteren und melancholische Independent Musik. Seit Herbst 2015 macht in Norwegen jedoch eine Serie Furore, die dafür sorgen könnte, dass das kleine Land im Norden Europas in Zukunft auch für die Erfindung eines sensationell innovativen und fortschrittlichen Serienkonzeptes bekannt wird. SKAM, übersetzt „SCHAM“ heißt das ursprünglich für Jugendliche konzipierte Format, dem zur Zeit 964.000 Menschen im Internet folgen, davon 769.000 in Norwegen. Der Rest verteilt sich auf ca. zwanzig weitere Länder (Besonders beliebt ist die Serie in Dänemark mit 90. 000 und Schweden mit 20.000 Fans, in den USA gibt es immerhin 17.000, in England 12.000 und in Russland 9.000 Follower. (Quelle: Aftenposten), darunter Brasilien, Australien, die Philippinen und Deutschland. Für das eher unauffällige Land im Norden Europas mit nur 5 Millionen Einwohner*innen ist dies eine kleine Sensation.

Auch Menschen weit jenseits der Zielgruppe der 15 bis 23jährigen fiebern täglich mit den Protagonist*innen mit, als wären diese Freunde oder zumindest gute Bekannte. Eine äußerst aktive internationale Fangemeinde hat sich gebildet, die nur Minuten nach der Veröffentlichung eines Videoclips für englische Übersetzungen auf Facebook oder die Untertitelung auf tumblr sorgt. Damit auch die internationalen Fans verstehen, warum Hauptdarsteller Isak (Tarjei Sandvik Moe, 17) nach der Party bei Emma völlig ausgerastet ist oder ob er sich nun endlich bei seinem besten Freund Jonas geoutet hat. Schuld an dem Hype ist ein wirklich neues, ebenso komplexes wie grandioses Serienkonzept, dass dazu führt, dass das fiktive Geschehen tief in den eigenen Alltag eingreift und dabei auf fast unheimliche Weise real wirkt.

Aus Zuschauer*innen werden User

Wichtigstes Medium von SKAM ist eine Internetseite, die der Jugendsender des norwegischen Staatsfernsehens NRK betreibt, der die Serie auch produziert hat. Auf dieser sehr schlicht gehaltenen Seite werden quasi in Echtzeit Videoclips, aber auch Kurznachrichten, Gruppenchats und Instagram-Fotos der Protagonist*innen veröffentlicht. Wenn zum Beispiel am Montag, 14.11. um 10:35 Uhr ein Clip erscheint, dann spielt dieser auch am Montag, 14.11. um 10:35 Uhr. Meist sind diese Clips nur eine bis fünf Minuten lang, genug, um Neugier zu wecken, wie es weitergeht. Genau wie in Wirklichkeit sieht man auch in der Serie, dass die Tage kälter werden, Halloween gefeiert und Weihnachtsgeschenke eingekauft werden. Jeder Clip und jede Kurznachricht geben einen kleinen Hinweis auf das weitere Geschehen und die sich verändernden Beziehungen der Darsteller*innen und führen dazu, dass man mit besonders tiefer Empathie für die Darsteller*innen den Ereignissen folgt: “…the distribution of content is unpredictable and the users never know when a new clip is posted on the website. This seems to create a deeper engagement and empathy in the users for the characters.” (Producing feminist teen television, Gry Cecilie Rustad, Notre Dame University, 16.6.2016). Auch wenn ein ca. zwanzigminütiger Zusammenschnitt aller Videoclips jeden Freitag im Fernsehen gezeigt wird, bleibt die Internetseite das wichtigere Medium, um das Geschehen eben auch in Echtzeit verfolgen zu können.

Die meisten User – denn User und nicht etwa Zuschauer*innen nennt die Regisseurin und Autorin Julie Andem ihre Zielgruppe – werden die Serie auf ihrem Smartphone verfolgen; viele Nahaufnahmen tragen dem Rechnung, und auch Chatnachrichten und Instagram-Fotos der Protagonist*innen wirken auf dem Smartphone umso realer. Fast jeder Charakter hat ein eigenes – natürlich fiktives – Facebook und/oder Instagram-Profil, dem man – real – folgen kann.
Seit Oktober läuft die dritte und bisher erfolgreichste Staffel der Serie, in deren Fokus jeweils eine Jugendliche oder ein Jugendlicher der Hartvig-Nissen Skole in Oslo steht. Diese Schule gibt es wirklich und die Serie wird auch zum großen Teil dort gedreht. In der aktuellen dritten Staffel geht es um den Coming-Out Prozess des 17jährigen Isak, der auf gar keinen Fall ein „typischer“ Homosexueller sein möchte und deshalb seine Liebe zum zwei Jahre älteren Even (Henrik Holm) leugnet.

Isak: „Ich bin nicht homo! Jedenfalls nicht homo-homo!“

Metaebenen, Subtexte und Metaphern

SKAM ist auch das Ergebnis intensiver Recherche. Für die Serie wurden ausführliche Interviews mit über 50 Jugendlichen in ganz Norwegen geführt. SKAM wird radikal aus der Perspektive der jugendlichen Hauptperson gedreht. Wir erfahren nicht mehr als das, was die Hauptperson auch sieht und erlebt. In der ersten Staffel ging es um die 16jährige Eva (Lisa Teige) und ihre komplizierte Beziehung zu Jonas. In der zweiten Staffel um die intellektuelle Feministin Noora (Josefine Frida Petersson, 20), die sich lange dagegen wehrt, dass sie sich zu dem unreflektierten Schulcasanova William hingezogen fühlt. Natürlich geht es um Gefühle, um erste Verliebtheit und ersten Sex. Doch es geht um noch viel mehr. Alles, was geschieht, geschieht auf der Oberfläche darunter liegender Diskurse, es gibt einander überlagernde Metaebenen, Subtexte sowie zahlreiche liebevoll versteckte Referenzen und Metaphern.

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Vilde: „Warum sagst du eigentlich immer, dass wir Looser sind?“
Sana: „Hallo? Ich bin ein muslimisches Mädchen in diesem weißen gottlosen Land. Ich bin die größte Looserin von allen!“

So gibt es Referenzen auf Romeo und Julia, in der zweiten Staffel fanden Fans gar den großen norwegischen Autor Henrik Ibsen zitiert. Eine wunderbare Coming-out Metapher, bei der Isak ständig mit dem Öffnen seines defekten Spinds kämpft, zieht sich durch jede Episode der jetzigen Staffel. Neben der Suche nach der eigenen sexuellen Identität geht es aktuell aber auch um Islamfeindlichkeit und Rassismus, um psychische Krankheiten, Klischees und stereotype Geschlechterrollen. Bei so vielen Themenfeldern könnte SKAM auch überladen wirken, doch Julie Andem gelingt es, diese Themen so alltäglich in die Lebenswelt der Jugendlichen zu integrieren, dass SKAM einfach nur unvergleichlich realistisch wirkt.

In wunderbar authentischen Dialogen und mit einer meisterhaften schauspielerischen Leistung der jungen Darsteller*innen schafft die Serie eine unvergleichliche Nähe und Intensität zum Publikum. Durch die häppchenweise Veröffentlichung der Clips und Nachrichten in Echtzeit fühlt man ständig mit den Charakteren mit. Wenn Isak seit Freitag immer noch keine Antwort von Even auf seine SMS bekommen hat, wartet man das ganze Wochenende mit ihm darauf, dass Even endlich antwortet. Endlich eine neue Veröffentlichung auf der Homepage um 16:34 Uhr! Aber gezeigt wird nur ein kurzes und ernüchterndes Gespräch zwischen Isak und seinem Mitbewohner Eskil. Warum antwortet Even nicht? Und warum hat er überhaupt ein ganzes Jahr in der Schule gefehlt? Wir schlurfen ebenso ratlos und verzweifelt wie Isak durch das Wochenende. Und da wir nie wissen, wann ein neuer Clip, eine neue Message kommen wird, aktualisieren wir entsprechend oft die Homepage. Montag morgens müssten die beiden sich ja in der Schule begegnen. Kein neuer Clip. Aber vielleicht treffen sie sich nachmittags im Bus? In der Regel werden höchstens ein oder zwei Nachrichten bzw. Clips am Tag publiziert. Manchmal auch gar nichts. So willkürlich wie im echten Leben verläuft auch die Kommunikation und das Erleben der Seriencharaktere. Manchmal passiert eben auch mal nichts oder das Leben besteht nur aus Warten.

Magnus: „Die ganze Schule denkt, dass ihr euch geprügelt habt, weil Mahdi Muslim und Isak schwul ist? Ist das nicht zum Piepen?“
Mahdi:“ Ich bin aber gar kein Muslim.“
Magnus: „Genau. Das ist ja so witzig!“
Mahdi: „Was soll daran witzig sein, dass die Leute mich für homophob halten?“
Magnus: „Ok, ist vielleicht nicht so witzig. Aber dass alles denken, Isak ist schwul – das ist doch urkomisch!“

Pause.

Isak: „Äh, Jungs… Erinnert ihr euch an den Typ letztens? Also… wir…. hatten was am Laufen…“
Magnus: „Scheiße, bist du homo?“
Isak: „Nein, ich bin nicht homo! Naja… vielleicht ein bisschen homo. Aber nicht soo homo, also ich lauf nicht rum und bin scharf auf alle Jungs, oder so.“

Wer sind die Schauspieler*innen?

Der Hype um die Serie ist vielleicht auch deshalb besonders groß, weil es fast keine Informationen über die Schauspieler*innen gibt. Alle sind nur wenig älter als ihre Rollen und haben zuvor keine oder nur wenig Schauspielerfahrung gemacht. Von der Hauptdarstellerin der Noora aus der zweiten Staffel weiß man nur, dass sie noch zur Schule geht und nebenbei im Telefonmarketing arbeitet. Zwei kurze Fernsehauftritte gab es, bei denen man hinterher auch nicht schlauer war als zuvor. Die Macher*innen der Serie argumentieren, dass sie die jungen Schauspieler*innen schützen wollen. Sie sollen ihre normalen Leben soweit wie möglich weiterleben können und nicht mit einem Ansturm von Presseanfragen und Fanhype überfordert werden. Tatsächlich trägt diese Geheimniskrämerei erheblich zum Hype um die Serie bei.

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Die schauspielerische Leistung der jungen Darsteller*innen ist indes überragend. Wie sich eine ganze Palette von Gefühlen in Isaks Gesicht spiegelt, als seine Kumpels diskutieren, ob Isak nun homo-, bi- oder panphil sei, ist so umwerfend und authentisch, dass man kurz vergisst, dass es sich nur um eine Rolle handelt. SKAM hat in Norwegen viel Lob dafür erhalten, dass die Lebens- und Gefühlswelt von Jugendlichen so realistisch gespiegelt wird. Dazu gehört auch, dass nahezu jedes Wochenende reichlich Alkohol und Marihuana konsumiert wird. Eine Darstellung, die dazu führte, dass viele ausländische Produktionsfirmen die Adaptierung der in Norwegen mehrfach ausgezeichneten Serie für ihr Land ablehnten. Die Serie könnte ja schlechten Einfluss auf Jugendliche haben. In Schweden und besonders Dänemark hat SKAM hingegen bereits voll eingeschlagen.

Erwachsene kommen in der Serie übrigens praktisch gar nicht vor. Manchmal schicken Eltern tendenziell lästige Textnachrichten, die mit vagen Beschwichtigungen beantwortet werden („Bin mit meinen Freundinnen weggefahren“ – von wegen!). Wenn sie für den Verlauf der Geschichte wichtig sind, werden Erwachsene gern mal ohne Kopf oder auch überzogen, fast karikiert dargestellt. Eben so, wie Jugendliche Erwachsene oft wahrnehmen: Als Menschen, die dir zwar hin und wieder nervige Ansagen machen, aber ansonsten nichts weiter mit deinem Leben zu tun haben sollten.

Da die Serie im werbefreien staatlichen Fernsehen gezeigt wird, stand kein kommerzielles Interesse hinter der Produktion. Auch auf der Homepage gibt es keine Werbung. Zudem werden die Videoclips extrem zeitnah, nämlich nur ca. zwei Wochen im Voraus produziert. Julie Andem behauptet sogar, sie lese ständig die Kommentare der Fans und würde ihr Drehbuch kontinuierlich den Debatten und Wünschen der Fans anpassen.

Um die Serie hat sich im Laufe der letzten Monate ein ganz eigenes Universum aus Nebenschauplätzen auf Sozialen Netzwerken, in Podcasts und Diskussionsgruppen gesponnen. Einziger Zweck: Die Analyse der vergangenen und der Versuch der Vorhersage der kommenden Ereignisse. Ist Even vielleicht bipolar oder depressiv? Was hatte der Song zu bedeuten, der in der letzten Szene gespielt wurde? Warum hatte Even ein „Jesus“-T-Shirt an? Zahlreiche kleine Hinweise in jeder Szene bieten reichlich Stoff für Spekulationen. Es gibt auch eine internationale Fangruppe auf Facebook (SKAM International Fangroup), auf der engagierte Fans englische Untertitel und Übersetzungen der Textnachrichten veröffentlichen. Sogar eine Onlinepetition auf change.org wurde gestartet, in dem der staatliche Sender NRK aufgefordert wird, endlich eine Version mit englischen Untertiteln zu veröffentlichen.
Und die ersten internationalen Fans lernen bereits norwegisch.
Kleines Land. Ganz großes Kino.

Weiterführende Links:

SKAM Website mit allen Videoclips, Textnachrichten, Instagramposts etc: www.p3.no/skam

Alle Folgen der dritten Staffel mit englischen Untertiteln: Ja, es gibt sie. Irgendwo da draußen. Minutenschnell von Fans hochgeladen, immer neu eröffnet und bald wieder geschlossen, denn legal ist das natürlich nicht. Wer bei Youtube oder Tumblr „SKAM“ oder „ISAK & Even“ eingibt, wird zahlreiche untertitelte Clips finden.

Die besten Linktipps zu Clips und Folgen mit englischen Untertiteln gibt es in der Facebook Gruppe SKAM – International Fangroup.

Alle Videoclips vereint zu ca. 20minütigen Episoden gibt es in der Mediathek des staatlichen Senders NRK. Da NRK für Hörgeschädigte alles immer auch norwegisch untertitelt, behelfen sich viele Fans mit Google Translator.  Ansonsten hilft die Autorin auch gern beim Übersetzen: https://tv.nrk.no/serie/skam

„Producing feminist teen television“ Lesenswerte Analyse von Gry Cecilie Rustad: https://www.academia.edu/26377035/Producing_feminist_teen_television

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