Stell Dir vor, es ist WrestleMania und keiner geht hin

Warum Professional Wrestling ohne Publikum zur momentan bizarrsten Form des Entertainments mutiert.

Ich hätte dort sein sollen. Dort, ganz, ganz weit hinten links, im Oberrang, zwischen 65.000 johlenden Fans. Dort, im Raymond James Stadium, in Tampa, Florida. In meinem Undertaker-Fan-Shirt, zusammen mit meiner Freundin, mit der ich einen Kurzfilm über das popkulturelle Spektakel drehen wollte: WrestleMania 36, der gigantomanische Höhepunkt der Professional Wrestling Saison.

Aber dann kam alles anders. Das neuartige Coronavirus hat in wenigen Monaten alles verändert. Wie wir uns bewegen, wie wir denken, wie wir arbeiten, wie wir konsumieren, wie wir uns unterhalten. Das zeigt sich eindrücklich in den leeren Sitzreihen der Arenen und Stadien. Das Wegfallen des Live-Publikums führt besonders im US-amerikanischen Show-Sport Professional Wrestling zu dem aktuell vielleicht bizarrsten Format der Pop-Kultur.

Einbindung des Publikums

En paar Worte zu dem Phänomen Professional Wrestling: Offiziell als „Sports Entertainment“ etikettiert, lässt sich Professional Wrestling zwischen Theater, athletischer Performance und Show ansiedeln. In den Darbietungen treffen die Performer*innen in einem vermeintlich ergebnisoffenen Kampf aufeinander, um sich offenbar mit brachialer Gewalt auf die Matte zu werfen. Dabei geriert sich der Showdown im Ring, dem sogenannten ‚squared circle‘, im Rahmen eines offenen Geheimnisses: Statt einem sportiven Wettkampf folgen die Akteur*innen einem Plot, bei dem die Rollen klar verteilt sind und die Sieger*in von Anfang an feststeht. Der handfeste Schlagabtausch ist choreografiert, inszeniert und Teil einer hochathletischen Performance. Dazu gehört auch die Rollenverteilung: Die Performer*innen treten in ihren jeweiligen Ring-Charakteren auf, entweder als ‚heel‘, Bösewicht, oder als ‚face‘, die zumeist siegreiche Held*in. Worum geht es aber in einem Kampf, dessen Sieger*in von Anfang an festgelegt ist? Worin besteht der Reiz, der wöchentlich Tausende Zuschauer*innen in die Stadien, vor die Bildschirme holt und der immerhin eine millionenschwere Industrie etabliert hat?

Die Antwort liegt in der spezifischen Einbindung des Publikums. Denn im Professional Wrestling gibt es nur eine Währung: Die Reaktionen der Zuschauer*innen. Ziel der Performer*innen ist es, diese zu provozieren, im Fachjargon: „to create heat“. Das Gebrüll, der Jubel der Massen in den Arenen ist fester Bestandteil der Show und wird auch in den medialen Übertragungen immer wieder gezeigt. Was aber passiert, wenn, aufgrund einer weltweiten Pandemie das Live-Publikum wegfällt? Wenn der röhrende Applaus, das anfeuernde Geschrei ausbleibt?

Seit dem 13. März 2020 lässt sich genau dies beobachten, denn auch die größte Pro Wrestling Liga, die WWE, hat ihre Shows vor Publikum eingestellt. Stattdessen werden die Kämpfe im sogenannten Performance Center, der Trainings- und Ausbildungsstätte, aufgezeichnet. In einem eher kleinen Raum, vor einer Vielzahl leerer, roter Plastikstühle. Die Shows, ansonsten Massenveranstaltungen mit Musik, Jumbotron und Feuerwerk gerinnen zu einer seltsam ernsthaften Performance, die, wie es das Online-Magazin Vulture schreibt, eher an ein absurdes Beckett-Stück erinnert als an ein Pop-Spektakel. Trotzdem wurde entschieden, die wöchentlichen Live-Shows sowie WrestleMania zu übertragen, allerdings auf einem geschlossenen Set und aufgezeichnet – zum ersten Mal seit 1992.

Die Stille ist ein Schock

Zurück zur Nacht der Nächte, in der Karrieren gemacht und Legenden geschrieben werden. Es ist Samstag, beziehungsweise Sonntagabend um ein Uhr nachts deutscher Zeit, ich sitze vor dem Laptop und schaue die Show, die in diesem Jahr laut der Ankündigungen „just too big for one night“ sein soll . Der einstündige Countdown und auch der Trailer, der die WWE-Performer*innen in ur-heroischen Heldenposen zeigt, trägt dazu bei, dass sich eine gewisse Spannung breit macht. Dies ändert sich allerdings schlagartig, als die Halle, der Ring ins Bild kommt. Gerade nach den Massen jubelnder Fans, die im Intro gezeigt wurden, ist die Leere, die Stille in diesem Raum ein regelrechter Schock. Anwesend sind nur die Ring-Kommentator*innen, das Kamera-Team und die jeweilige Schiedsrichter*in. Die ersten Kämpfe beginnen und es ist – ja, auf eine gewisse Weise einzigartig.

Nach jedem Auftritt, nach jedem Schlagabtausch entsteht eine wahrnehmbare Pause, die normalerweise von der Reaktion der Menge gefüllt wird. Und jetzt? Stille. Der vernichtende Schlag verliert an Eindruck, wenn er nicht vom „ohhh“ der Menge verstärkt wird, die Siegerpose, an den leeren Raum gerichtet, verliert ihren triumphalen Gestus. Mehr noch, diese Pause wirkt seltsam enthüllend, denn sie zeigt, wie Pro Wrestling funktioniert: als eine Abfolge von Posen, die explizit auf ein Live-Publikum ausgerichtet sind. Was ich am Laptop sehe, ist das „make-believe“, das „Als-ob“, dieses spezifische Show-Formats. Gleichzeitig wird die Rolle des Publikums klar, welches nicht nur als emotionaler Resonanzboden fungiert. Es ist das Publikum, das mit seinem Applaus seine Teilhabe an dem Spektakel ausdrückt. Jeder Ausruf zeigt, dass ich mich auf die Inszenierung einlasse. Jeder Ausruf zeigt die Bereitschaft, das Geschehen im Ring für den Moment als real zu akzeptieren. Es ist diese kollektive Übereinkunft, die Pro Wrestling zu eben jenem besonderen Erlebnis macht, irgendwo zwischen Sport, Pop und Performance.

Leckerbissen für die Fans

Trotzdem: Nach circa zehn Stunden Pro Wrestling zu nachtschlafender Zeit, nachdem ich fassungslos, gelangweilt oder hysterisch kichernd einem Show-Format zugeschaut habe, dem das Absurde eh stets eingeschrieben ist, kann ich nicht sagen, dass es nicht funktioniert hat. Ich konnte beobachten, wie geschickt die Performer*innen mit der Situation umgehen. Wie sie stoisch ihre heroischen Posen in einem leeren, kleinen Raum exerzierten. Ich konnte die physische Virtuosität der Athlet*innen beobachten, die es schaffen, unverletzt von (hohen) Leitern zu fallen. Die wieder aufstehen und weitermachen, nachdem dem sie mit einem Klappstuhl niedergestreckt oder durch einen Tisch geworfen wurden. Und natürlich gab es angesichts der besonderen Situation ein paar Leckerbissen für die Fans vor den heimischen Bildschirmen: So etwa das „Boneyard Match“ bei dem der Undertaker seinen Herausforderer AJ Styles auf einem (Studio-)Friedhof konfrontierte und „lebendig“ beerdigte. Es gab das legendäre Comeback-Match des „Rated-R Superstars“ Edge, der nach neun Jahren Pause auf Randy Orton traf, um ihn quer durch das gesamte Trainings-Center zu prügeln. Es gab das erste „Firefly Funhouse Match“ bei dem der „all-american-hero“ John Cena Bray Wyatt konfrontierte, den psychopathischen Moderator einer gruseligen Kindershow, in dessen „Fun House“ der Kampf dann auch stattfand – Alptraum-Handpuppen inklusive.

WrestleMania 36 ohne Publikum zeigt Professional Wrestling auf seine bizarr-absurde Grundform reduziert: zwei Menschen, die, wenn auch gekonnt, so tun, als würden sie einander wehtun. Die gegeneinander antreten und wissen, wer am Ende gewinnen wird. Dieses Mal im Ausnahmemodus, ganz ohne die Unterstützung durch kreischende Fans in riesigen Arenen, ohne Feuerwerk und Glitzer. Und wie fast immer, wenn sich etwas zeigt, wie es ist, ist es etwas unbeholfen, ein bisschen unangenehm und unfreiwillig komisch – aber eben auch berührend.

Wer Lust bekommen hat – WWE Monday Night Raw und WWE SmackDown laufen jeweils am Mittwoch- und Samstagabend auf ProSieben MAXX.