The sun always shines on tv

The Sun Always Shines On TV: non vitae sed tv discemus – Über den Quizshow-Boom

Von 2000 bis 2002 schrieb der Medienwissenschaftler Mathias Mertens die sonntägliche Kolumne The sun always shines on TV über das Fernsehen. Heute: Teil 5 (29. Oktober 2000)

Es gab kein anderes Programmformat, das sich in den letzten zehn Jahren so expansiv gebärdete, wie das der Talkshow. Vor allem, weil ihr Preis-Leistungsverhältnis stimmt: Billig in der Produktion bei gleichzeitiger hoher Zuschauereinbindung. Mit dem neuen Jahrtausend hat sie jedoch gnadenlose Konkurrenz bekommen durch die Quizshow, bzw. die Show, die auf das Grundprinzip des Quiz, des Fragen-Beantwortens reduziert worden ist. Kaum hatte „Wer wird Millionär?“ auf RTL Erfolg, traten die Privatsender in ein gnadenloses Wettrüsten ein und boten Rateshow gegen Rateshow, Millionengewinn gegen Millionengewinn auf. Und weil nichts so förderungsbedürftig ist wie der Erfolg, bekam das RTL-Original auch folgerichtig den Fernsehpreis 2000 in der Kategorie „Beste neue Sendung“.

Man mußte schon genau zugehört haben, um zu realisieren, daß „Wer wird Millionär?“ wegen seiner Neuheit ausgezeichnet wurde. Eine Sendung, in der jemand Geld gewinnt, wenn er Fragen beantworten kann, soll neu sein? Es ist doch wohl so, daß das Gewinnen von Geld durch das Beantworten von Fragen einen der Archetypen des Fernsehens überhaupt darstellt. Zur Unterstützung dieser Behauptung könnte man gerade auf die Flut von (neuen) Plagiaten der Sendung hinweisen, die ohne Schwierigkeit auf diesen Archetyp zugreifen können.

Die Sendung ist aber nicht nur strukturell nicht neu, sie ist es auch ganz konkret in ihrer Erscheinungsform „Wer wird Millionär?“ Denn John de Mol kaufte die Lizenzrechte in England, wo die Sendung vor anderthalb Jahren „erfunden“ wurde. Wobei „Who wants to be a millionaire?“, wenn man es genau nimmt, nur eine Neuauflage von „The 64000$ Question“ oder „Twenty One“ aus dem amerikanischen Fernsehen der 50er Jahre darstellte. Aber erstens kann sich da sowieso niemand mehr dran erinnern, und zweitens sind die Shows tatsächlich alle ganz unterschiedlich, was offensichtlich wird, wenn man ihre Regeln mal aufschreibt und miteinander vergleicht. In der „Quizshow“ kann man eben nicht mehr aussteigen, wenn man die Frage bekommen hat, bei „Wer wird Millionär?“ hat man keinen Einfluß darauf, wie viel man setzt, und Joker gibt es auch nur dort. Insofern darf man lizenzrechtlich von Erfindern und schützenswerten Konzepten sprechen und damit Geld machen.

Warum aber liebt das Publikum diese Sendungen so sehr, daß das Fernsehen sie wieder liebgewonnen hat, beziehungsweise, warum lag es vor anderthalb Jahren in der Luft, einen Relaunch des Prime Time Big Money Quiz‘ zu starten? Erste Hypothese: Weil eine solche Sendung billig ist, in der Herstellung sowieso, aber auch, weil das Risiko der Gewinnausschüttung begrenzt ist, denn die Kandidaten werden sowieso entweder alles verlieren oder bei für das Fernsehen lächerlichen Beträgen unter 100.000 DM aussteigen. Die Quizshow ist somit die Talkshow im neuen Gewand, was auch den ähnlichen Expansionsdrang erklären würde.

Ein Blick auf die Sendungen bringt jedoch die überraschende Erkenntnis, daß die Kandidaten den Sendern einen Strich durch die Rechnung machen, würden diese wirklich auf ihre mangelnde Risikobereitschaft oder sogar ihre Dämlichkeit setzen. Natürlich gibt es immer wieder mal jemand, der nicht weiß, daß es David war, der gegen Goliath gekämpft hat, oder daß der Kuckuck und der Esel einen Streit hatten, aber im Allgemeinen wissen sie fast alles. Allem Kulturpessimismus zum Trotz scheinen die Menschen nicht weniger zu wissen als früher, sondern sogar mehr, und das nicht trotz, sondern wahrscheinlich wegen des Fernsehens. Kategorien wie „Rock und Pop“, „Film“ oder, noch offensichtlicher, „18:30 Nachrichten“ sind Symptome für die televisuelle Bildung, die abgefragt wird.

Nun unterscheidet sich diese televisuelle Bildung vom Reifezeugnis-Allgemeinwissen der früheren Generationen. Das klassische Allgemeinwissen war und ist immer parat, weil es ein memoriertes ist. Televisuelle Bildung manifestiert sich dagegen in der Fähigkeit des Wiedererkennens, wenn sich ein bestimmter Kontext ergeben hat. Das frühere festgefügte Wissensgerüst bot ein Fundament, auf dem man sich positionieren konnte und auf das hin sich die Welt ordnete. In einem unendlichen Informationsstrom ist es wichtiger, momentane Kontexte mit bestimmten Schlagworten verbinden zu können, wodurch ein früherer Kontext wiederhergestellt werden kann, der in Differenz mit dem momentanen Sinn ergibt. Dadurch erklärt sich die Manie der Fernsehnachrichten, alles sofort mit einem griffigen Namen zu versehen. Begriffe wie „Finaler Rettungsschuß“, „Amigo-Affäre“ oder „Vance-Owen-Plan“ dienen als Assoziationshilfe für den Zuschauer, damit sich für eine bestimmte Zeit eine Kohärenz in der Rezeption ergibt. Wenn es irgendwann nicht mehr wichtig ist, einen bestimmten Sinn zu bilden, verschwindet auch das Vermögen, die Stichworte mit Inhalt füllen zu können. Was der „Vance-Owen-Plan“ genau war, wissen heute nur noch Spezialisten.

https://www.youtube.com/watch?v=hMkL4LKb8AU

Der Grund für den Erfolg der „neuen“ Quiz-Sendungen muß man deshalb darin sehen, daß sie Schlagwörter abfragen und daß sie Wörter zur Orientierung vorgeben, also einen neuen momentanen Kontext schaffen, in dem ein früherer assoziiert werden kann. Deshalb sind nicht nur die Kandidaten erfolgreicher, sondern auch die Zuschauer begeisterter. Das Zusehen bei „Wer wird Millionär?“ bietet nicht nur eine spezielle Unterhaltungssendung, es wird zum Fernsehen schlechthin, weil sich auf Dauer die gesamte Geschichte des Fernsehkonsums im Hinterkopf aufbaut. „Twenty One“ löste damals einen der größten TV-Skandals aus, als herauskam, daß Kandidat Charles Van Doren die Antworten im Voraus zugesteckt bekommen hatte. Das verstieß gegen das Ethos des Allgemeinwissens. Die neuen Quiz-Sendungen setzen fernsehgeschichtlich später an. Sie wollen nicht Bildung belohnen, sondern sie demonstrieren, daß sich Fernsehen lohnt. Der Millionengewinn ist dabei nur eine Metapher.

Bildquellen

  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens