Besuch der Verbotenen Zone um das ehemalige Kernkraftwerk Tschernobyl

Tschernobyl – Ein deutsches Trauma

Zum dreißigsten Mal jährt sich der Reaktorunfall von Tschernobyl. Er ist nicht nur ein historisches Ereignis sondern war ein Einschnitt auch in der deutschen Geschichte. Einige unserer AutorInnen haben ihre Assoziationen zum Jahrestag des Unfalls aufgeschrieben.

Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl war bis dato einzigartig und hat viele unterschiedliche Spuren hinterlassen. In der Umwelt, in den Menschen und auch in der Politik. In Deutschland nimmt der Unfall eine besondere Rolle ein, denn er ist für die Begründung deutscher Nuklear- und Umweltpolitik verantwortlich. Die Erinnerung an den 26. April 1986 ist auch ein deutsches Trauma. Viele Deutsche haben Geschichten dazu, und viele spürten – meist glücklicherweise nur politisch und sozial – die Konsequenzen von Tschernobyl.

Jan Fischer

Ich war im Kindergarten, als in einer Ecke der Welt, von der ich keine Ahnung hatte ein Atomkraftwerk brannte.
Der Kindergarten war nahe des Stadtparks, wir gingen jeden Tag dorthin, egal, ob es regnete oder nicht.
Ich erinnere mich nicht an Nachrichten oder so etwas, nur daran, dass eine diffuse Bedrohung, die irgendwie da war, die ich schon damals verinnerlicht hatte, plötzlich konkreter wurde, man konnte sie anfassen. Sie war in der Milch, in den Pilzen, in den Haselnüssen, sie war im Regen. Das waren die Dinge, auf die ich aufpassen sollte, wurde mir gesagt.
Wir gingen danach nicht mehr so oft in den Wald, vor allem nicht, wenn es regnete. Es gab einmal jemanden der, warum auch immer, Bärenfallen im Stadtwald aufgestellt hatte, diese Dinger mit den Metallzähnen, wie im Western. Es wurde in den Zeitungen darüber berichtet, und wir mussten beim Spielen auf den Wegen bleiben. Aber der Reaktorunfall war schlimmer: Das, was gefährlich war, war überall. Man konnte nichts tun konnte als ihm aus dem Weg zu gehen, nichts außer zu flüchten. Es fühlte sich mehr wie eine Naturkatastrophe an als wie ein Unfall, es war zu groß dafür, dass es menschengemacht sein konnte.

Martin Spieß

Wenn ich gefragt werde, wo ich herkomme, sage ich: „Aus dem Wendland.“ Und weil ich weiß, dass die wenigsten etwas damit anfangen können, füge ich hinzu: „Da, wo das Atommüllzwischenlager Gorleben ist.“ In neun von zehn Fällen nicken die Leute dann wissend.

Aufgewachsen bin ich vierzehn Kilometer von besagtem Zwischenlager für radioaktiven Müll. Geboren wurde ich gut elf Jahre nach dem Entschluss, das dünn besiedelte Wendland zum Standort eines Endlagers zu machen. Diese Entscheidung war eine politische, die dazu führte, dass das Wendland sich immer mehr politisierte: Gorleben wurde zum Symbol des Widerstands gegen die Atomenergie. Es wundert mich daher heute nicht, dass, als es fünf Jahre nach meiner Geburt in Tschernobyl zum ersten Reaktorunglück kam, Betroffenheit und anschließender Protest vor allem in meiner Heimat sehr groß waren. Damals verstand ich die selbstklebenden warngelben Flyer nicht, die nach einer Demo zu Hunderten in meinem kleinen niedersächsischen Dorf herumlagen und die ich eifrig aufsammelte. Darauf stand: „Tschernobyl ist 1315 km* weit weg. Gorleben ist vor der Tür.“

Ich wusste nicht, was Tschernobyl war, und Gorleben kannte ich nur dem Ortsnamen nach. Ich wusste lediglich, was meine Eltern mir erzählten: Dass wir – wer in meiner Generation teilt diese Erinnerung nicht? – keine Pilze mehr aus dem Wald essen durften.

Der Unfall jährt sich nun zum 30. Mal und die Menschheit scheint nicht viel daraus gelernt zu haben. Vor fünf Jahren gab es mehrere Brände und Explosionen in einem AKW in Fukushima, und es wird wohl nicht der letzte Unfall dieser Art gewesen sein.

Mittlerweile lebe ich wieder in meiner Heimat, in meinem Geburtsort Dannenberg. Dort findet regelmäßig montags eine Mahnwache statt, um an die Gefahren der Atomenergie zu erinnern und einen raschen Ausstieg zu fordern. Mal sind die Gruppen kleiner, mal größer, mal stehen auch ein, zwei Traktoren dabei. Aber egal wie viele Menschen zusammenkommen: Das Thema sowie der Protest reißen nicht ab. Auch mein privater nicht: Mich hat das Thema so weit beeinflusst, dass ich einen Gorleben-Roman geschrieben habe.
*Anmerkung: An die genaue Kilometerzahl auf den Flyern erinnert sich unser Autor nicht. 1315 km sind die Entfernung, die Google Maps angab.

Mathias Mertens

Um 1986 herum hat meine Familie sehr viel Zeit in der Waldhütte meines Großvaters im Elm verbracht, an Wochenenden und in Schulferien. Und es scheint mir, als hätte ich das Geschehen der Welt hauptsächlich auf dem kleinen Schwarzweißfernseher mit den Drehreglern für die Frequenzbereiche verfolgt. Zuerst haben die Russen die Challenger abgeschossen, dann haben die Amis Tschernobyl hochgejagt, dann mussten sich Reagan und Gorbatschow in Reykjavik treffen, um das ganze Schlamassel endlich in den Griff zu bekommen. So stellte sich für mich jedenfalls das Jahr 1986 weltpolitisch dar.

Vielleicht gab es wichtigere und richtigere Gründe für die Abrüstung und den Zerfall der Sowjetunion und des Kommunismus, aber für mich passte das alles zusammen und markierte den Beginn vom Ende des Kalten Kriegs. Irgendwie war alles plötzlich fragil, und mit der ominösen radioaktiven Wolke, die über Europa und die Welt zog gab es nun etwas, das eine realere körperliche Schädigung verhieß als das nur imaginierte Verglühen im Blitz von Tausenden gleichzeitig gezündeter Atomsprengköpfen. Der Kalte Krieg versaute die Waldpilze, die ich immer mit meinem Vater im Elm sammelte, mit Caesium 137, also gingen wir fortan nicht mehr in den Wald. Und in die Hütte sind wir dann nach diesem Jahr auch nicht mehr gefahren. Das ist die langlebigste Narbe, die der Kalte Krieg bei mir hinterlassen hat. Alles andere ist nur noch eine Folge von Schwarzweißfernsehbildern, an die ich mich erinnere wie im Traum.

Merlin Schumacher

Zum Zeitpunkt des Unfalls war ich noch keine drei Jahre alt. Persönliche Erinnerungen habe ich also eigentlich keine. Nicht mal eine fahle an ein Spielverbot im Sandkasten. Aber ich habe, wie alle, die Folgen des Unfalls sekundär erlebt. Tschernobyl hat die Umweltbewegung in Deutschland so sehr erstarken lassen, dass die damalige Regierung Kohls sich zum Handeln gezwungen sah und mit etwas begann, dass sich als moderne präventive Umweltpolitik begriff. Erstmals gab es Reaktorsicherheit auf der politischen Agenda, und erstmals war Nuklearenergie als Bedrohung im Bewusstsein der Deutschen verankert. Während manche bis dato als Folge von Radioaktivität nur Superkräfte kannten, lernten sie nun, dass sie statt Superkräften Krebs von einem nur zwei Tagesreisen entfernten Reaktor bekommen würden.

Das Deutschland einen Tschernobyl-Schock erlitten hat ist vermutlich eine der ganz wenigen guten Folgen des Unfalls. Damals wurden die Gleise für einen Atomausstieg gelegt der, von Fukushima beschleunigt, Deutschland zu einem Vorreiter der erneuerbaren Energien macht. Wir zeigen, dass selbst energiehungrige Industrienationen ohne Kernenergie auskommen können – wenn sie wollen.

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