XTausendmal Ich – Auf den Spuren der Googlegänger Teil 3

Was verbindet uns mit Menschen, die nichts mit einem gemeinsam haben als den Namen? Jan Fischer geht in seinem großen, dreiteteiligen Essay auf die Suche nach der Antwort. Teil 3 von 3.

„Es ist merkwürdig, wie wenig Sorge ihm die Bälle machen, seitdem er sie von sich getrennt hat. Solange sie hinter ihm her waren, konnte man sie für etwas zu ihm Gehöriges halten, für etwas, das bei Beurteilung seiner Person irgendwie mit herangezogen werden mußte, jetzt dagegen waren sie nur ein Spielzeug zu Hause im Kasten. Und es fällt hiebei Blumfeld ein, daß er die Bälle vielleicht am besten dadurch unschädlich machen könnte, daß er sie ihrer eigentlichen Bestimmung zuführt.“

(Franz Kafka, Blumfeld, ein älterer Junggeselle)

Mein erster Googlegänger, damals, auf der Abiturfeier, fühlte sich ein auch bisschen so an, als sei da jemand aus einer Parallelweltfolge meines Lebens gekrochen. Mein Lieblings-Googlegänger allerdings steht auf der ersten Trefferseite. Ich fand ihn, als ich, ich weiß nicht mehr aus welchem Grund, in Berlin war, und aus Langeweile durch die „Siegessäule“, das schwul-lesbische Stadtmagazin, blätterte. Und auf seiner Seite, plötzlich, in einer Anzeige für eine DVD-Kollektion, starrte er mich an: Mein Googlegänger, ein muskulöser Hochglanz-Pornostar, kaum bekleidet, das Gemächt spielerisch in der hohlen Hand verborgen. Ich habe das Bild ausgeschnitten und gegenüber meines Schreibtisches aufgehängt. Es hängt da schon seit ein paar Jahren, und ganz ehrlich gesagt: Ich weiß nicht genau, warum, aber beim Arbeiten starrt mich mein Name an, zusammen mit einem anderen Gesicht (und einem durchtrainierten Körper).
Unter meinen Googlegängern gibt es außerdem: Den verstorbenen Comicillustrator. Den ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten. Den olympischen Ringer. Den Typen, der Pianist bei der „Jan Fischer Bluesband“ ist. Die Figur bei – ausgerechnet – „Lenßen und Partner“. Und das ist nur die erste Trefferseite. Weiter hinten gibt es: Den Physiotherapeuten, den Rechtsanwalt, den IT-Spezialisten. Und, und und.
Ich habe viele dieser Leute im Auge – nicht nur, weil ich mich von Zeit zu Zeit selbst googele, um herauszufinden, was ich in den letzten paar Monaten so getrieben habe. Sondern auch, um herauszufinden, was die anderen gerade machen. Es sind völlig Fremde, aber mich interessiert, dass der Pornodarsteller mittlerweile etwas zu alt für die Filme geworden ist, und jetzt eher als DJ arbeitet. Mich interessiert die Frage, ob der tschechische Ministerpräsident wiedergewählt wird. Mich interessiert, ob die Jan Fischer Bluesband vielleicht auch mal bei mir in der Nähe spielt – ich würde es mir auf jeden Fall anschauen („Lenßen und Partner“ schalte ich allerdings trotzdem nicht ein. Niemals. Nicht in diesem Leben).

Die Schwerkraft der Googlegänger

In fiktionalen Parallelwelten sind die Figuren früher oder später immer mit sich selbst konfrontiert – sie können nicht anders. Irgendwann geht es immer um die Frage, wie diese unauflösbaren Unterschiede zwischen parallelen Welten oder Figuren aufgelöst werden können: 1985 verschmolzen die verliebenen Universen des DC-Multiversums zu einem, wie Daniel Bejar versucht (zugegeben, eher als Witz), mit seinem Googlegänger zu verschmelzen. In „Mirror, Mirror“ versuchen Kirk und der Rest seines Landungstrupps einen letzten Rest anstand in der diktatorischen Atmosphäre des Spiegeluniversums zu verkörpern, zu sagen: „Das bin nicht ich!“, ähnlich wie – ich spinne die urbane Legende einfach mal weiter – man sich vorstellen kann, dass auch Eve Fairbanks ihrer Mutter erklärt haben mag, dass es auf gar keinen Fall sie ist, die da in den Pornos zu sehen ist.
Das alles sind Extrembeispiele – es geht nur darum zu sagen: Die dramaturgischen Gesetze fordern, dass sich die Doppelgänger, oder Parallelgänger, oder wie man sie nennen will, sich früher oder später treffen – und sich zueinander positionieren.
Zugegeben, ich bin kein Superheld, und ich bin auch kein Raumschiff-Kapitän, aber das kann ja kaum jemand von sich behaupten. Trotzdem treibt mich eine eigenartige Schwerkraft wie ein dramaturgisches Gesetz immer in den Orbit meiner Googlegänger, trotzdem sitze ich manchmal stundenlang vor dem Computer und folge einem von ihnen durch sein Leben, ich folge ihnen weiter, als ich einem komplett Fremden eigentlich folgen sollte. Aber da bin ich wohl kaum der einzige. 2007 fand der Journalist Dirk von Gehlen seinen Googlegänger und schrieb für jetzt.de einen Texte darüber, wie er einen Nachmittag mit ihm über dem gemeinsamen Stammbaum verbrachte. 2012 freute sich Michael Brake in der taz, dass er unter seinen Googlegängern endlich auf Platz 1 des Google-Rankings aufgerückt war. Das größte Unternehmen dieser Art ist aber sicherlich der Film „Finding Angela Shelton“, in dem die Drehbuchautorin und Schauspielerin Angela Shelton quer durch die USA zieht, und 40 ihrer 76 Googlegängerinnen interviewt – mit dem Ergebnis, dass viele der Frauen, genau wie sie, zu irgendeinem Zeitpunkt ihres Lebens Erfahrungen mit Gewalt gemacht haben, oder sexuell belästigt oder missbraucht worden waren. Der Film war erfolgreich, und stieß in den USA eine Diskussion über Gewalt gegen Frauen an, Shelton schob dann noch ein Buch zu dem Thema nach: „Searching for Angela Shelton“. Dass sie ihre Googlegängerinnen besuchte, und sich ihre Interviewpartnerinnen nicht nach einem anderen Kriterium suchte, verleiht dem Film natürlich seine besondere Kraft – ist aber auch bezeichnend für diese eigenartige Schwerkraft, die von Googlegängern ausgeht: Zufälliger geht es kaum. Weniger zufällig allerdings auch nicht.

Impliziter Egoismus

Tatsächlich hat diese eigenartige Schwerkraft der Googlegänger auch einen Namen: Impliziter Egoismus, nennt sie sich, und da ist der Punkt, an dem es wirklich etwas gruselig wird – es ist eine Sache, über Parallelwelten zu fabulieren und darüber, dass Googlegänger sich zueinander positionieren müssen. Es ist eine andere, psychologische Studien zu haben, die einem sagen, dass man keine Wahl hat. Eine davon hat den wunderbaren Namen „Why Susie sells seashells by the seashore“ und wurde 2002 im „Journal of Personality and Social Psychology“ vorgelegt. Implizter Egoismus bezeichnet die Tendenz, unbewusst Dinge, Berufe oder Orte positiver zu bewerten, die eine Verbindung zu einem selbst haben – sei es der Name, das Geburtsdatum, irgendetwas anderes. „Why Susie sells seashells by the seashore“ argumentiert – und belegt auch – dass Impliziter Egoismus eine Rolle bei der Berufswahl oder der Wohnungswahl spielt. Menschen, die mit Nachnamen „Lane“ heißen, wohnen signifikant öfter in Straßen, die auf „Lane“ enden, und eben nicht auf „Street“. Menschen, die Dennis heißen, wohnen signifikant öfter in Denver und werden – das ist kein Witz – signifikant öfter Zahnärtze („dentist“ im Englischen). Eine Nachfolgestudie derselben Autoren – von 2005, erschienen in der Zeitschrift „Current Directions in Psychological Science“ – belegt auch, dass wir Menschen, die beispielsweise einen Namen haben, der dem eigenen ähnlich ist, oder auch nur assoziativ damit verbunden, als attraktiver bewerten. Dasselbe gilt übrigens für die Zahlen unserer Geburtsdaten.
Das muss man sich mal auf der Zunge vergehen lassen: Die Schwerkraft des eigenen Namens ist so stark, dass selbst ein paar gleiche Buchstaben oder ein ähnlicher Klang einen unbewusst anziehen können, bis zu dem Punkt, an dem er wichtige Entscheidungen für das ganze Leben beeinflussen kann – Wohnort, Beruf, Liebhaber, was könnte wichtiger sein?
Kein Wunder, dass Googlegänger so faszinierend sind, dass sie eine so große Anziehungskraft ausüben, kein Wunder, dass der Googlegänger niemanden kalt lässt: Die psychologische Anziehungskraft zwischen Googlegängern ist so groß wie die dramaturgische zwischen Doppelgängern aus Paralleluniversen. Irgendwann finden sie sich immer. Irgendwann müssen sie sich immer zueinander positionieren. Am Googlegänger führt kein Weg vorbei.
Und auf einem großen, leeren Platz vor einer Schule sind die Getränke alle, und ein gerade erst ehemaliger Schüler wankt nach Hause, den Kopf voller möglicher Varianten von sich selbst, voller Splitter von Geschichten, die, soweit er weiß, alle zu seinem Leben werden könnten.

 

Zum ersten Teil des Essays „XTausenmal Ich. Auf den Spuren der Googlegänger“ geht es hier.

Zum zweiten Teil des Essays „XTausenmal Ich. Auf den Spuren der Googlegänger“ geht es hier.