The sun always shines on tv

The Sun always shines on TV: Über die allmähliche Verfertigung des Stars beim Glotzen – Popstars auf RTL 2

Von 2000 bis 2002 schrieb der Medienwissenschaftler Mathias Mertens die sonntägliche Kolumne The sun always shines on TV über das Fernsehen. Heute: Teil 11 (3. Dezember 2000)

RTL 2, das war mal der Sender, wo „die Reporter“ ihre Nase in anderer Leute schmutzige Wäsche steckten, vorzugsweise Unterwäsche, wo Verona Feldbusch eine Fernsehpersönlichkeit in einem Erotik-Talk werden konnte und wo „die Reportage“ immer neue Geheimnisse des Kampfsaufens und Sich-Durchvögelns auf Mallorca oder in Alpenhütten aufdeckte. Titten, Tratsch und Television, so hätte RTL 2 sich selbst tituliert, wäre es jemals Gegenstand seiner Aufmerksamkeit gewesen. Dann kam Big Brother und alles wurde anders. Nun ja, das Präteritum ist vielleicht ein bißchen übertrieben, aber daß es gerade anders wird, das läßt sich beobachten. Die journalistische Aufbereitung von Live-Sex-Shows in Amsterdam, der neuesten Erotik-Messe in Wanne-Eickel oder der Verleihung der Porno-Palme in Cannes findet zwar weiterhein statt, sie wird jedoch immer mehr eingeklemmt und abgedrängt von Big Brother, Big Brother – Die Reportage, Big Brother – Das Quiz, Big Brother – Family and Friends oder Call TV, einem dreistündigen Einschaltquote-Ermittlungsquiz zu besagter Reality-Soap.

Big Brother ist aber nicht nur für eine Flut von Sendungen zu sich selbst verantwortlich, es hat auch den Anstoß zu einem neuen Fernsehverständnis gegeben. Zumindest für RTL 2. Die Kombination aus realen Gefühlen in einem realen Wettkampf bei gleichzeitiger Möglichkeit, es alles kamera- und montagetechnisch aufzubereiten, besitzt ein ungeheures Potential, für jedes erdenkliche Setting aufbereitet zu werden. Das Abfilmen von Höhepunkten an dafür vorgesehenen Orten, wie es bisher die Praxis auf RTL 2 war, erzeugte auf Dauer nur Monotonie. Die Inszenierung der Möglichkeit eines Höhepunktes, das permanente Versprechen, es könnte was geschehen, weil wir ständig draufhalten, ist dagegen von einer nicht zu überbietenden Spannung. Gerade weil man jedesmal enttäuscht ist, daß es langweilig war, würde man es sich nie verzeihen, nicht zugesehen zu haben, als endlich mal etwas Großartiges geschah. Deshalb ist Fußball auch ein so ungemein erfolgreicher Fernsehsport in Deutschland, Basketball dagegen nicht. Und deshalb schießen bei RTL 2 jetzt auch die neuen Sendungen aus dem Boden.

Die erste Sendung nach dem Paradigmenwechsel durch Big Brother war Expedition Robinson, dasselbe in Grün, möchte man sagen, weil sich eine Gruppe auf einer Südsee-Insel durchschlagen muß und ständig Leute runternominiert. Im nächsten Jahr startet Der Club, wo man diversen Bewerbern dabei zusehen kann, wie sie Tanzschuppen in Hamburg hochziehen und sich höchstwahrscheinlich gegenseitig in den Bankrott treiben. Wenn nicht, ist ja auch gut, Hauptsache es bleibt offen. Gerade startet Einer gegen alle, die Big Brother-Variante von Wer wird Millionär?, eine Quizsendung, bei der die Kandidaten durch das Publikum herausgeschmissen werden können. Beworben vom aktuellen Big Brother-Star Christian und moderiert von Ex-Call TV-Moderatorin Andrea Wieser. Nächstes Jahr will die Produktionsfirma Brainpool eine Gruppe von Kandidaten sogar ins All schießen. Noch ist nicht klar, was geschieht, wenn man ausscheidet.

Seit drei Wochen allerdings kann man den wohl interessantesten Abkömmling dieses Sendeparadigmas begutachten: Popstars. Wir dürfen erleben, wie tausende von hoffnungsvollen Mädchen an Castings in mehreren deutschen Großstädten teilnahmen, wie sie vom Dreigestirn Mendrzycki, Angel und Moslener, ihres Zeichens wichtige Menschen im Musikbusiness, weil sie mal vor der Kamera standen oder sich von den Rolling Stones die Bedingungen für ihre 30. Welttournee diktieren lassen durften, brutalstmöglich aussortiert werden, wie Alison, Curly, Sandy und die anderen hoffen, bangen, leiden, dazwischen immer wieder dieselben Lieder der Spice Girls oder Britney Spears singen und einige abgeguckte Posen andeuten. Am Ende einer langen Sendestaffette wird eine deutsche Girl Group dem Workshop auf Mallorca entsteigen und die Verkaufscharts stürmen. Und wir waren dabei, wie sie dort ankamen, wo Tausende hinwollten.

Das Konzept von Popstars ist von geradezu ehrfurchtgebietender Brillianz. Es ist geradezu die Gödelisierung des Fernsehens. Kurt Gödel wies in den dreißiger Jahren nach, daß man jedem hinreichend mächtigen Aussagesystem auf einer meta-reflexiven Ebene nachweisen kann, daß es wahre Aussagen macht, die sich nicht beweisen lassen. Popstars beweist, daß man durch die Ausgestaltung einer meta-reflexiven Ebene wahre Aussagen erzeugt, ohne daß es dazu ein hinreichend mächtiges Aussagesystems mit einer irgendwie gearteten Beweislast bedürfte. Im Folgenden einige Erläuterungen zu diesen tiefsinnig daherkommenden Sätzen: Mit „hinreichend mächtigem Aussagesystem“ ist das Star-System gemeint, bei dem Menschen Produkte herstellen, die von anderen Menschen so stark konsumiert werden, daß diese Konsumenten das Produkt mit ihren Erzeugern identifizieren und ihr Interesse auf diese Menschen verlagern, die dann neben der eigentlichen Produkterzeugung nun auch noch Persönlichkeitsmaterial erzeugen müssen. „Beweis“ meint diese Erzeugnisse. „Wahre Aussagen“ sind die so entstandenen Stars. Die „meta-reflexive Ebene“ ist die Berichterstattung über die Produktion von und durch Stars.

Bei Popstars gibt es noch keine Erzeugnisse, über deren Urheber man mehr wissen möchte, was sie zu Stars macht (Fachbegriff für den geneigten Leser: Metonymische Verwechslung). Dieses „hinreichend mächtige Aussagesystem“ ist das zu erreichende Ziel der Sendung, gewissermaßen das Erzeugnis. Die Mädchen werden Popstars sein, weil sie Popstars werden. Genau das ist gemeint damit, daß die Ausgestaltung einer meta-reflexiven Ebene wahre Aussagen erzeugt, ohne daß es dazu ein hinreichend mächtiges Aussagesystems bedarf. So oder ähnlich muß der Urknall vonstatten gegangen sein. Es ist allerdings fraglich, ob die so geschaffenen Stars dann, wenn sie in ihr Plattenvertragsdasein entlassen worden sind, dieses Aussagesystem nachliefern können. Denn ein solches Aussagesystem würde das Fundament ihres Star-Seins, daß sie nämlich Stars werden wollen, untergraben. Durch das Star-Sein würden sie in ihrem Bezugsrahmen kein Star mehr sein. Das Erreichen des Ziels würde den Weg, zu dem dieses Ziel gehört, verschwinden lassen. Schlecht für die Mädchen, aber gut für RTL 2. Im so entstandenen Vakuum kann ein neuer Urknall versucht werden, der neue Sendezeit verspricht.

Die Sendung ist gleichzeitig in nicht zu überbietendem Maße reaktionär. Man warb in den Trailern eifrig mit einem Satz von Herrn Mendrzycki, der eine Bewerberin mit pinkem Cowboyhut mit den Worten „Wenn du Popstar werden willst, dann tu was dafür, wenn nicht, schau weiter Fernsehen“ zusammenstauchte. Richtig so, ruft man vor dem Fernseher, die ganzen blöden Hühner haben da sowieso nichts zu tun. Wodurch man sich mit der Jury identifiziert, wo man doch eigentlich in der Situation der Bewerberinnen wäre, die den allgemein verbreiteten Traum vom Aufstieg haben. Stattdessen bestätigen wir durch unsere Sympathie unsere eigene Situation, die uns vor den Fernseher zwingt. Wir gödeln uns sozusagen selbst aus. Nicht nur, daß es seinen Gegenstand selbst generiert, Popstars schreibt also auch noch sein Publikum fest. Es ist perfekt.

Bildquellen

  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens