Innderdeutsche Grenze am Harz

Von Deutschland nach Deutschland – Ein Fluchtbericht

Zum Tag der Deutschen Einheit veröffentlicht Zebrabutter einen Auszug aus dem Fluchtbericht von Wilfried Spieß, der 1972 von der DDR aus nach Westdeutschland floh.

Sonntag, der 28. Mai, kam. Der Tag, der die ganze weitere Flucht bestimmte. Auf die Minute genau um 7 Uhr stieg ich in M.s Wagen ein. Wir starteten sofort Richtung Budapest. Meine erste Frage war: „Sind H. und L. gut angekommen?“

Es wurde bejaht. Dann sagte M.: „Du scheinst den schwarzen Peter gezogen zu haben. Das Auto, das dich aufnehmen sollte, hat einen Unfall gehabt (Totalschaden), wobei auch der Fahrer zu Schaden gekommen ist. Bei dem anderen Wagen hat der Motor gestreikt. Die Zeit reicht nicht aus, um noch rechtzeitig einen anderen Wagen hierher zu schicken. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: entweder du fährst wieder zurück in die Zone oder versuchst, von Rumänien aus über die grüne Grenze nach Jugoslawien zu kommen.“

Natürlich kam für mich nur die zweite Variante in Frage.

Wenn etwas schiefgehen sollte, würde man mich auskaufen

Dazu gab es noch folgende Anweisungen: nach Arad fahren, von dort aus nach Valchani, aussteigen und bis Beba Veche laufen. Unterwegs verstecken und nachts die Grenze überqueren, ungefähr 8 km. In Jugoslawien per Anhalter nach Belgrad und auf der bundesdeutschen Botschaft Reisepass ausschreiben lassen.

Innerhalb von drei Tagen sollte ich mich dann in Stuttgart melden. Wenn etwas schiefgehen sollte, würde man mich nach acht Tagen auskaufen und sofort in die Bundesrepublik mitnehmen.

Um Reiseerleichterung zu schaffen, packten wir das Nötigste meiner Sachen während der Fahrt nach Budapest in eine Reisetasche. Dazu erhielt ich eine Karte über das Dreiländereck, 400 Forint und 80 DM.

Ein Kloß im Hals, ein Stein auf der Brust

In Budapest angekommen, machten meine Begleiter den Versuch, in Stuttgart anzurufen, um sich zu vergewissern, dass ihre Entscheidung richtig sei. Sie bekamen jedoch keinen Anschluss. Gegen 9 Uhr frühstückten wir im Bahnhofsrestaurant, dann verabschiedeten sich A. und M. Mein Zug nach Rumänien fuhr erst gegen 15 Uhr. Deshalb nutzte ich die Zeit, der Margareteninsel noch einen Besuch abzustatten. Ich lief nur durch die Straßen, um zu beobachten, ob ich beschattet würde. A. und M. hatten auf mich einen unsicheren, beinahe ängstlichen Eindruck gemacht. Nun war ich voll und ganz auf mich allein gestellt. Ich dachte nur immer: „So eine Sch***!“ Ein Kloß saß mir im Halse, ein Stein lag auf meiner Brust.

Der Zug fuhr ab Richtung Abenteuer. Das Westgeld hatte ich im Schuh versteckt, ich hoffte auf milde Kontrolle. Der Grenzübertritt nach Rumänien verlief ohne Schwierigkeiten. Ein Ehepaar aus der Bundesrepublik saß mit im Abteil, ich beneidete sie um ihre Sorglosigkeit. Wir stellten unsere Uhr eine Stunde vor (Sommerzeit). Gegen 21 Uhr kam Arad in Sicht, und ich hielt Einzug, leider einen unfreundlichen. Es hatte geregnet, die Häuser und Straßen sahen düster aus. Der Bahnhof roch scheußlich nach irgendeinem Desinfektionsmittel. Arme, zerlumpte Gestalten standen oder saßen überall herum. Ich zog los, um ein Zimmer zu suchen. Nach einer halben Stunde fand ich ein Hotel. Ein Zimmer war nicht frei, aber die Telefonistin rief eine Frau an, die Zimmer vermietete. Es klappte. Gegen 23 Uhr holte sie mich am Hotel ab. Sie bewohnte mit ihrem Mann eine 2-Zimmer-Wohnung mit fließend warmen Wasser (Eigeninitiative). Es waren Deutsch-Rumänen. Das Zimmer, in dem ich schlief, war im Stil der 30er Jahre deutsch eingerichtet, also altmodisch und kitschig. Ohne noch etwas zu essen, begab ich mich zu Bett. Der Schlaf war schlecht, verständlicherweise.

Da ich schon meine Tarnsachen trug, war die Wärme besonders unangenehm

Montag, 29. Mai. Ich stand früh auf, um die bulgarischen Lewa zu tauschen. Unterwegs trank ich einen Viertelliter Buttermilch, eine Art rumänisches Frühstücks-Nationalgetränk. Zurückgekommen, zahlte ich 100 Lei für das Zimmer und machte mich mit meinem Gepäck auf den Weg zum Bahnhof. Zerlumpte Menschen kehrten die Straße, Bettler saßen auf dem Fußweg, ärmlich gekleidete Leute überall. Wie arm muss dieses Land sein oder wie unfähig seine Regierung?

Am Bahnhof kaufte ich mir eine Fahrkarte nach Simicolau mare, Anschluss sollte ich dann bis Valcani haben. Bis zur Abfahrt des Zuges gegen 14 Uhr setzte ich mich ins Bahnhofsrestaurant, da man es in der Sonne kaum aushalten konnte. Das Thermometer stand sicher auf über 30 Grad. Da ich schon meine Tarnsachen trug – enge dunkelbraune Hose, dunkle Lederjacke und einen dunkelgrauen Pullover – war die Wärme besonders unangenehm. Während meiner Wartezeit bestellte ich mir ein paar Gläser Wein, ich wurde angenehm ruhig. Das Lokal mit seinen schmutzigen, ehemals weißen Tischdecken war ziemlich leer. Die meisten Gäste blieben nur kurze Zeit, um 100ml Schnaps zu trinken oder auch mehr. Zwei Tische weiter saß ein Mann in – für mich – historischer Kleidung: eine Lammfellweste, zerschlissen und schmutzig, wie auch die anderen Sachen, selbstgefertigte Schuhe aus gegerbtem Leder, bis zur Wade geschnürt, auf dem Kopf ein verblichener, zerbeulter Hut. Dazu hatte er eine riesige Hirtentasche umgehängt. Fast eine Märchengestalt, aber zu bedauern.

Der Plan zu laufen fiel ins Wasser

Im Zug lernte ich einen jungen Deutsch-Rumänen kennen, der mir sagte, dass der Zug bis Valcani durchfahren würde. Dann unterhielten wir uns über seine Probleme. Er werde nicht zum Studium zugelassen. Nach Deutschland würde er sehr gerne gehen, aber dies wäre unmöglich, weil seinen Anträgen nicht stattgegeben würde, und die Grenze sei zu gut bewacht. Meine Hoffnungen schwanden ein wenig. In irgendeinem Ort stieg der junge Mann dann aus. Zwei Orte vor der Grenzstation wurde ich von Soldaten kontrolliert. Ein Soldat verschwand mit meinem Ausweis und dem Visum. Nach einer halben Stunde brachte er beides zurück. Eine Zivilperson wurde mir mitgeschickt, die mich an die Bushaltestelle nach Beba veche bringen sollte. So fiel der Plan zu laufen ins Wasser. Auf holprigen, ungepflasterten Straßen beförderte mich der Bus nach Beba veche. An der Haltestelle fragte mich die Miliz nach dem Namen der Familie, die ich besuchen wollte. Ohne diese Adresse wäre ich wahrscheinlich nie in das Grenzgebiet gekommen. Bis dorthin fragte ich mich durch.
Das Haus der Leute lag am Ende des Dorfes. Die Wege waren alle unbefestigt, bei Regen müsste hier ein Kampf mit dem Schlamm stattfinden. Wald war weit und breit nicht zu sehen, nur Ebene.

Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn ins Vertrauen zu ziehen

Der Sohn des Ehepaares, das ich aufsuchte, war 1971 in die Bundesrepublik geflüchtet. Ich sollte bei seinen Eltern Grüße ausrichten von einem Bekannten, den ich in Budapest getroffen hätte und mich als Tourist ausgeben. Nach einer herzlichen Begrüßung – es wurde selbstgebrannter Weingeist angeboten – musste mich der Rumäne polizeilich anmelden. Wegen der Flucht seines Sohnes wäre er sonst in Schwierigkeiten gekommen. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihn ins Vertrauen zu ziehen. Nach der offiziellen Anmeldung konnte ich nicht spurlos verschwinden, er wäre ins Gefängnis gekommen. Auf dem Weg zur Polizeistation berichtete ich kurz von meinem Fluchtvorhaben. Er war betreten und bekam, wie ich bemerkte, Angst.

Als ich schon im Bett lag hörte ich, wie ganz leise die Fensterläden geschlossen wurden

Zunächst sagte er: „Um die Anmeldung kommen wir nicht herum. Jeder im Dorf weiß jetzt, bei wem sie zu Besuch sind. Schon durch ihre moderne Kleidung sind sie als Ausländer aufgefallen. Besprechen wir alles nachher.“ Der Miliz gab ich an, am nächsten Tag Richtung Bukarest weiterfahren zu wollen. Auf dem Rückweg beschrieb Herr F. den Verlauf der Grenze und zeigte mir einen beleuchteten Ölturm auf jugoslawischem Gebiet, der mir als Orientierungspunkt dienen sollte. Weiterhin die Lichter zweier jugoslawischer Dörfer, die ich ansteuern müsste. Nun bat er mich aber, auf keinen Fall in der kommenden Nacht zu flüchten, weil er sonst mit drei Jahren Gefängnis bestraft würde. Ich versprach es ihm. Wir verblieben so, dass ich am nächsten Morgen abreisen, abends zurückkommen und mich in der Nähe des Dorfes verstecken würde, um nachts über die Grenze zu gehen. Ansonsten sollte ich es in Teremia mare versuchen. Er gab mit die Adresse von dort lebenden Verwandten.

Um 20 Uhr wurde Abendbrot gegessen. Es gab eine Art Kartoffelsuppe, wobei die Kartoffeln nicht zerkleinert waren. Als zusätzliches Festessen stellte die Hausfrau Rühreier auf den Tisch. Das Ehepaar beklagte sich über die Landwirtschaftspolitik. Die Zwangsverstaatlichung hatte auch in Rumänien die landwirtschaftlichen Erträge verringert. Fleisch könnten sie sich nur am Wochenende leisten, dafür müssten sie schon zwei Stunden Anstellen vor Ladenöffnung einplanen. Es wäre auch verboten, mehr als 30 Liter Wein zu keltern. Der Verdienst sei so gering, dass Neuanschaffungen kaum möglich wären. Die Einrichtung zeugte auch davon. Bad und Waschbecken waren nicht diskutabel. Gegen 23 Uhr begaben wir uns zu Bett, ich bekam das Schlafzimmer zugewiesen. Bett und Schränke waren mit Blumen verziert, strohgefütterte Matratzen. Als ich schon im Bett lag, hörte ich, wie ganz leise die Fensterläden geschlossen wurden. Sie hatten wahrscheinlich doch Angst, ich könnte in der Nacht verschwinden. Mit meiner üblichen Beruhigungstablette döste ich in den nächsten Tag hinein.

Bildquellen