Flüchtlinge aus der DDR: Zeltstadtbilder

Mitten in der Flüchtlingsdebatte geistern jetzt auch die Bilder von den Zeltstädten der DDR-Flüchtlinge durch die sozialen Netzwerke. Unsere Autorin Kathi Flau erinnert sich ans Ankommen in einem Land, in dem es selbstverständlich war, zu bleiben.

Das Gedankenspiel geht so: Hätte ich als Ostdeutsche in Westdeutschland Asyl bekommen, damals Ende der 80er, bevor die Grenzen gefallen sind? Was hätte ich vorzuweisen gehabt, mal sehen:

I. Eltern, die nicht länger in einem totalitären System leben wollten. Die Rechte wollten, ein selbstbestimmtes Leben. Raus aus einem Staat, der sie einsperrte, bevormundete und betrog.
II. Wurden wir verfolgt? Seit wir einen Ausreiseantrag gestellt hatten, ja.
III. Waren wir in Lebensgefahr? Ich glaube nicht. Wir waren Willkür und Diskriminierung ausgesetzt, und aufgrund der Protestaktionen, die mein Vater oft und öffentlich anzettelte, wäre es kein Wunder gewesen, wenn man ihn und meine Mutter eines Tages verhaftet hätte. Wenn man ihnen das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen hätte, für meinen Bruder und mich. So etwas kam vor, nicht selten. Aber Lebensgefahr, akute, nackte Angst – das ist etwas anderes.

Natürlich mussten wir keinen Asylantrag stellen. Es war selbstverständlich, dass wir bleiben durften, als Deutsche aus dem Ostteil des Landes. Als wir im Aufnahmelager in Gießen ankamen, mit nicht viel mehr als ein paar Klamotten für die nächsten Tage, ohne irgendwen in diesem Land zu kennen, bekamen wir ein bisschen Geld und jeweils eins der vierstöckigen Betten auf einem Flur, neben den Toiletten. Ansonsten warteten wir. Auf Stempel und Genehmigungen, darauf, dass es weiterging. Wie, wusste keiner von uns.
Dann ist man fremd: Wenn man trotz einer gemeinsamen Sprache nicht weiß, auf welche Weise man Leute anspricht. Wann der Müll abgeholt wird. Wer einem sagen kann, wann der Müll abgeholt wird. Dass es an den meisten Ampeln einen Schalter gibt, den man drücken muss, damit sie grün werden. Wo man Tickets für den Bus bekommt. Wenn jede Kleinigkeit eine Hürde ist. Wenn jeder Mensch, dem man begegnet, sofort merkt: Der ist nicht von hier.
Nicht mehr ganz so fremd ist man, wenn diese Menschen offen sind. Hilfsbereit. Das waren die, die wir trafen. Sie interessierten sich für das, was wir erlebt hatten, sogar mehr, als mir lieb war. Ich erzählte nicht so gern davon, aber sie hörten nicht auf zu fragen, so lange, bis mir klar wurde, dass sie es wirklich interessierte. Es war okay für sie, dass wir da waren, dieses Stück Geschichte, das wir mitbrachten.
Und es war immer noch okay, als nur Monate später Hunderttausende kamen. Als die Grenzen geöffnet und Zeltstädte errichtet wurden für alle, die kommen wollten. Der damalige Kieler Sozialminister Günther Jansen nahm laut SPIEGEL sofort 2 Millionen Mark in die Hand, um Dauerherbergen zu schaffen: „Selbst beste Wohnlagen, kündigte der SPD-Minister am Freitag an, seien für die Neuen nicht zu schade. Das Herrenhaus Salzau etwa könne man für 30 bis 40 Flüchtlinge bereitstellen.“ Nordrhein-Westfalens Sozialminister Heinemann sagte, notfalls wolle er den Katastrophenschutz die 30.000 in Bunkerkrankenhäusern eingelagerten Betten aufstellen lassen.
Notfalls ging alles. Man improvisierte. Rückte zusammen. Half sich. Fasste irgendwo mit an. Und irgendwie ging es dann ja auch. Weil man wollte, dass es ging. Überall wurde aufgebaut, aufgenommen, wurden Decken und Essen gereicht, wurde in Gesten und Worten gesagt: Willkommen.

Jetzt werden diese Zeltstädte für geflüchtete DDR-Bürger wieder gezeigt, auf Facebook, in Artikeln. Versehen mit der Frage, ob Dresden, Freital und andere Hochburgen des Flüchtlingshasses die damalige Solidarität vergessen hätten, ob sie vergessen hätten, dass sie diese Solidarität selbst vor gar nicht allzu langer Zeit gern in Anspruch genommen haben. Zweifellos eine Geste der Solidarität mit den Flüchtlingen. Aber eben auch eine Anklage in Richtung derer, die es doch aus eigener Erfahrung wissen müssten: wie das ist, irgendwo fremd zu sein, irgendwo anzukommen mit so gut wie nichts. Die Bilder der Zeltstädte von 1989 und 2015, nebeneinander gestellt, suggerieren: Die sich links willkommen heißen lassen, das sind dieselben, die rechts rechts sind.
Reflex Nummer eins: physische Übelkeit, die sich bei mir einstellt, ein Symptom der Scham, die – anders kann es nicht sein – jeden überfallen muss, der tatsächlich damals gegangen ist, entweder geflohen, als die DDR noch existierte, oder direkt nach ihrem Zusammenbruch.
Reflex Nummer zwei: den Vorwurf abzuschütteln. Die Rassisten von Freital und die Paranoiker von Pegida – das sind doch zu einem Großteil Menschen, die den Mauerfall noch gar nicht erlebt haben oder nur aus der höchst eingeschränkten Perspektive ihres Kinderwagens, damals schon schreiend. Die sind jung und perspektivlos und unendlich dumm. Und das wäre vielleicht nicht einmal ganz falsch, allerdings hätte man es sich damit genauso einfach gemacht wie es sich jetzt Leute machen, die eben die Frage nach „Dresden“ stellen.
Es gibt kein „Dresden“. Es gab nie eines. Die Einigkeit, die hier vorausgesetzt wird, hat nie bestanden. Vor allem zu DDR-Zeiten nicht. Ein Regime, ein totalitäres System, mit Befürwortern und Gegnern, mit Spitzeln und Ausreisewilligen, mit hohen Funktionären und Dissidenten, ist zwangsläufig eine tief gespaltene Gesellschaft. Da gibt es Verrat und Schmerz und Hass, die noch für Generationen reichen. Die Kluft der Gesinnungen war unendlich viel tiefer, als man das erahnen kann, wenn Katharina Witt an einem Samstagabend im Öffentlichrechtlichen launig von ihren ersten Schritten auf dem Eis erzählt und auch gleich noch ihren Schulranzen mitgebracht hat. Nö, war ooch schön damals, war ja nich alles schlecht. Das ist das Problem mit der DDR: ihre Verniedlichung, manchmal Ostalgie genannt, manchmal Sonnenallee.
Wer damals zur DDR nein gesagt hat, wer geflohen ist, wer in Leipzig, Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt, Magdeburg oder Rostock an den Montagsdemonstrationen teilgenommen hat, der steht nicht heute in einer dieser Städte und schreit: Ausländer raus! Wer damals in einer Zeltstadt aufgenommen worden ist, der schlägt heute nicht vor, die Zeltstadt von Dresden anzuzünden. Wir sind alles andere als „Dresden“.

Ich bin, wir sind dankbar, noch immer, für die Selbstverständlichkeit, mit der wir damals im anderen Teil Deuschlands aufgenommen wurden. Für alles, was uns entgegengebracht wurde. Dafür, dass uns niemand misstrauisch begutachtet hat: Was wollt ihr hier überhaupt? Mit welchem Recht kommt ihr in unser Land? Wurdet ihr auch ernsthaft genug verfolgt?
Anzunehmen, dass unsere Angaben in einem Asylverfahren ausgereicht hätten, um bleiben zu dürfen. Aber bleiben dürfen ist nur die halbe Miete, nur der rechtliche Anspruch, nicht die gesellschaftliche Anerkennung und schon gar nicht ihre Unterstützung. Insofern stehen wir, die ehemaligen Zeltstadt- und Lagerbewohner, durchaus in der Verantwortung, unsere Erfahrung von damals an die Flüchtlinge weiterzugeben: den Unterschied zwischen geduldet und willkommen sein.

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