Anna Kim – Fingerpflanzen: Die Liebe in den Zeiten der Traumlogik

Fingerpflanzen von Anna Kim ist ein surreales Buch, das Liebesgeschichten nach Traumlogik erzählt – sperrig, verwirrend, dunkel glänzend wie ein Rohdiamant im Bergwerk des Unterbewusstseins.

Ein paar Adjektive, die nichts in einer Rezension von Anna Kims Buch Fingerpflanzen zu suchen haben: Angenehm, fluffig, leicht, romantisch, realistisch, tastend, verständnisvoll, vorsichtig, zart, zärtlich, zerbrechlich, zuversichtlich.

„In den Stunden nach der Dusche, die Sauberkeit tabellarisch geteilt, stach sich Schmidt mit dem Zeigefinger in die Augen und rührte in der geknackten Iris so lange, bis Knospen und Wurzeln trieben, von Wurzeln oder doch eher Würzelchen prospektiver Finger, Hände und Arme, zwei an der Zahl, ein Paar – weniger wäre zu wenig gewesen, vierarmig zu sein entsprach seiner Vorstellung von biblischer Vollendung – und begab sich sodann in sein Lager: Im blauen Garten dominierte der Geruch verrottender Äpfel.“

Statt putziger Boy-Meets-Girl-Geschichten steigt Anna Kim in ihrem Buch ins Bergwerk des Unterbewusstseins herab und holt Liebesgeschichten als Rohdiamanten daraus hervor. Ein Mann verwandelt sich in ein hamsterartiges Wesen und lebt zusammen mit Zwillingen in einem stillgelegten U-Bahn-Tunnel. Ein anderer entdeckt – in der Titelgeschichte Fingerpflanzen – dass er Kopien seiner Hände aus Tieren, Pflanzen und Menschen wachsen lassen kann, mit denen er sich die Welt ertastet. In Die Zeitbraut heiratet eine Frau ununterbrochen Männer, die hoffen, dadurch attraktiver für andere Frauen zu werden.

Die Geschichten tänzeln

Fingerpflanzen entstand in Zusammenarbeit mit dem Künstler Kristian Evju, dessen eigenartig surreale Collagen und Zeichnungen sich in ähnlichen Abgründen herumtreiben. Die beiden lernten sich 2015 auf einer Ausstellung kennen, Kim hatte 2012 mit Anatomie einer Nacht ihren zweiten Roman veröffentlicht, ein hoch gelobtes Buch über elf Selbstmorde auf Grönland, Kristian Evju hatte sich schon einen Namen als internationaler Künstler gemacht. Fingerpflanzen ist dabei eher ein Nebenprojekt – neben dem Erzählungsband erschien in diesem Jahr auch Kims Roman Die große HeimkehrTatsächlich ist es gerade dieses beiläufige, das die Geschichten in Fingerpflanzen, die nach nach den Bildern von Evju entstanden, zu faszinierend macht. Es gibt keinen großen Erzählentwurf, keine gigantischen Anforderungen an die Ernsthaftigkeit der Prosa. Stattdessen tänzeln die Erzählungen eher eine nach der anderen in den Vordergrund, stellen sich in alle ihrer Eigenartigkeit einfach hin und sind da, nicht mehr und nicht weniger, und gehen auch nicht weg.

Der Plot der Erzählungen operiert dabei oft nach Traumlogik: Ein Bild setzt sich fest, wächst wirr organisch in die Höhe, oft bis ins Groteske variiert und mutiert, und am Ende kommt meist noch ein Twist, irgendetwas unerwartetes, wie ein Erwachen aus der Geschichte. Grob geht es in allen Geschichten um Liebe – oder die Unmöglichkeit davon. Aber eigentlich geht es immer auch um einen Gegenentwurf zu realistischer und hyperrealistischer Er-sagt-sie-sagt-Oberflächenprosa. Und darum, unter diese Oberflächen zu tauchen und zu schauen, was sich darunter verbirgt. Kim steht damit in der in Deutschland etwas vernachlässigten Tradition des Magischen Realismus mit kleinen Ausflügen zu seinem nahen Verwandten, dem Horror.

Aus der Zeit gefallen

Stilistisch ist Fingerpflanzen dabei oft sperrig, zumindest sprachlich gut abgehangen. Während die Geschichten selbst oft beiläufig sind und ihre Tiefe eher in der Erkundung des Unterbewussten zeigen, ist die sperrige Sprache dabei eine Sprache, die sich auf wenig Leerstellen einlässt. Jedenfalls keine Sprache, die sich im Wabern des Traumhaften verliert, sondern immer da ist, auf den Punkt, und einem Szenen, Bilder und Ereignisse vor den Latz knallt. Sprache auch, die sich sympatischerweise  nicht um irgendwelche Moden oder Strömungen schert, sondern der Autorin ganz eigen ist. Mit seinen traumhaften Plots und der ältlich-sperrigen Sprache wirkt Fingerpflanzen dabei wie ein Buch, das auf eine sehr gute Art und Weise aus der Zeit gefallen ist – und mit der Zeit auch gar nichts zu tun haben will. Sondern einfach nur existieren und dunkel vor sich hin glänzen, ohne diese ganzen nutzlosen Adjektive, mit denen Liebesgeschichten sonst beschrieben werden müssen.

Anna Kim: Fingerpflanzen
Topalian & Milani, 2017
Ca. 130 Seiten mit Illustrationen, 20 €

Bildquellen

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