Horror: Worüber wir sprechen, wenn wir vom Unaussprechlichen sprechen

Wie das Genre Horror erklärt, warum die Menschen in der Bahn immer so elend aussehen. Eine Spurensuche zwischen H.P. Lovecraft und E.A. Poe.

Ich lese hauptsächlich in der Bahn, wenn ich von irgendwo nach irgendwo anders fahre, manchmal zu Zeiten, zu denen alle anderen auch fahren, ich sitze da, oder stehe da, und quetsche mich durch die Menschen, ich weiche Batterien von Kinderwägen aus, ich warte – halb ungeduldig, halb verständnisvoll – darauf, dass ältere Frauen endlich ausgestiegen sind. Und irgendwo zwischendrin lese ich.

Es gibt bessere und schlechtere Bücher dafür. Vor ein paar Tagen, beispielsweise, fiel mir Lovecraft’s Monsters in die Hände. Das ist eine Anthologie – wirklich exzellent zusammengestellt von Ellen Datlow – in der Autoren sich in der Monsterwelt von H.P. Lovecraft umschauen und aus dem reichhaltigen Fundus, den der Meister hinterlassen hat, neue Geschichten bauen. Neil Gaiman ist als großer Name dabei, außerdem eine Menge anderer Autoren, meistens auf die eine oder andere Art preisgekrönt, die ihr Genre virtuos bespielen.

Lovecraft, der Werkzeugbauer

Wenn man sich das Elend, das die anderen Menschen in der Bahn sind (und sie sind ja immer irgendwie Elend) erklären will, gibt es keine bessere Lektüre als Lovecraft – oder alles, was mit der Lovecraft’schen Monsterwelt zu tun hat. Denn es ist ja nicht so, dass Lovecraft Horror geschrieben hat, weil er Spaß daran hatte, sich tolle Monster auszudenken. Lovecraft’sche Monster sind ja immer auch als Metaphern zu lesen, und Lovecraft’s Monsters zeigt das als Anthologie noch einmal gut:  Die Monster funktionieren in verschiedenen Settings immer wieder als Metaphern, die politisch oder sozialkritisch gedeutet werden können.  Lovecrafts Monster sind multifunktional, Werkzeuge, und wenn man so will, wäre Lovecraft ein genialer Werkzeugbauer gewesen (und Cthulhu so etwas wie der ganz, ganz große Vorschlaghammer), In Lovecraft’s Monsters tasten sich die Autoren mit Lovecrafts Werkzeugen metaphorisch an schwierige Themen heran, jedes Monster liegt da als Metapher etwas anders in der Hand. Diese Monster sind Werkzeuge, mit denen sich das Unausprechliche aussprechen lässt – das Elend der Menschen in der Bahn, auf das man nie so genau den Finger legen kann, Werkzeuge, mit denen man, langsam, vorsichtig, die dünnen Stellen in der Realität finden und ertasten kann, Werkzeuge zur indirekten Bildgebung. Etwas, das gerade greifbar ist um zu sagen, wie beschissen es mir rundrum geht mit der Art und Weise, wie die Welt ist, denn das wahre Monster lässt sich nicht erzählerisch fassen, es zu groß, zu unverständlich, ich kann immer nur drumrumschleichen (das ist in Die Musik des Erich Zann perfekt ausgeführt).

Befindlichkeitshorror

Wenn man über Lovecraft spricht, und wenn man über Horror spricht, muss man auch immer über Poe sprechen. Man sollte immer auch über Poe sprechen. Denn wenn Lovecraft einem vor Augen führt, wie dünn die Realität an manchen Stellen ist, und dass das, was dahinter lauert das Vorstellungsvermögen und die Fähigkeiten des Einzelnen, etwas daran zu ändern weit übersteigt, also den Menschen als einen zeigt, der dem Außen gegenüber machtlos ist, dann steigt Poe eher ins Innere ein, und lässt die Monster aus der Psyche auf seine Figuren los. Das heißt: Bei Poe gibt es eigentlich keine Monster – seine Protagonisten sind sich meistens selbst Monster genug, Das verräterische Herz ist ein Beispiel dafür, oder, selbstverständlich, Der Rabe.

Auch Poe arbeitet wieder metaphorisch, man kann viele der Geschichten als Aufarbeitungen von Urängsten lesen, als verzweifelte Visualisierung, oder vorsichtige Nacherzählung dessen, was in dunklen Nächten gegen 3 Uhr morgens aus dem Unterbewusstsein heraufsteigt, als die Erkenntnis, dass der Dreck der Welt nicht in der Welt steckt – sondern in einem selbst. In Die Maske des Roten Todes steckt diese Bewegung von Außen nach Innen schon in den ersten beiden Sätzen:

„Lange schon wütete der rote Tod im Lande; nie war eine Pest verheerender, nie eine Krankheit gräßlicher gewesen. Blut war der Anfang, Blut das Ende – überall das Rote und der Schrecken des Blutes. Mit stechenden Schmerzen und Schwindelanfällen setzte es ein, dann quoll Blut aus allen Poren, und das war der Beginn der Auflösung.“

Auch das kann einem das Elend der Menschen in der Bahn gut erklären – aber erst in einem zweiten Schritt. Poe sucht die Monster nicht dort draußen, Poe sucht die Monster immer bei sich selbst. Nicht die Gesellschaft, nicht die politischen und sozialen Realitäten sind schuld, sondern der Einzelne, der an seinen dunklen Befindlichkeiten verzweifelt (Kafka kann das, stellenweise, auch sehr gut – diesen Horror, der aus unendlicher Selbstreflektion kommt. In Die Verwandlung ist ja das große Problem gar nicht, dass da einer aufwacht und plötzlich ein Insekt ist, das wird eher nonchalant zur Kenntnis genommen – das Problem kommt erst, als alle anfangen darüber nachzudenken, was das jetzt soll und wie man damit umgehen muss).

Die zwei Grundströmungen des Horror

Wenn man kategorisieren möchte, sind das die zwei Grundströmungen im Horror – Genre, und Poe und Lovecraft haben dazu die Blaupausen geliefert. Stephen King, beispielsweise, folgt beiden Traditionen – Das Spiel folgt als Kammerspiel eher der Poe-Schule des Menschen als des Menschen Monster, Needful Things als Kleinstadt-Dekonstruktion wäre eher in Richtung der Lovecraft-Strömung anzusiedeln, Shining dann wiederum eine Mischform.

Man könnte da beliebig Beispiele finden – als neueres ist vielleicht noch die Serie American Horror Story interessant, die immer wieder regelrechte Essays über zum Einen große gesellschaftspolitische Themen formuliert (die zweite Staffel, Asylum, schaltet diesbezüglich in den Overdrive und ist eine Geistesgeschichte der Unterdrückung von Außenseitern und Minderheiten im 20. Jahrhundert), und zum anderen Essays über die metaphorischen Möglichkeiten des Genres.

Der Punkt ist, dass Horror – als einziges Genre, das sich ausschließlich mit dem Aussprechen des Unaussprechlichen befasst – sich über die Jahre ein ganzes Arsenal an Bildern und Metaphern dafür aufgebaut hat, und die besten Autoren des Genres es immer geschafft haben, mit Hilfe dieser Bilder und Metaphern auf ganz verschiedenen Ebenen kluge Antworten auf die Frage zu formulieren, warum die Menschen der Bahn eigentlich immer so elend aussehen. Lovecraft’s Monsters – zusammen mit den Elenden in der Bahn – machte mir noch einmal klar, dass Horror genau das tut, seit das Genre existiert: Mit den Schilderungen von scheinbar Unausprechlichem gegen noch viel Unausprechlicheres anschreien und – schreiben, immer wieder neu. Genau deshalb darf Horror auch kein Happy End haben, außer er flüchtet sich in die Utopie.   Von allen Horror – Schriftstellern wusste das Lovecraft vielleicht am Besten: Dass nicht die Monster das Unaussprechliche sind, von dem er sprach. Sondern dass selbst der große Cthulhu vor Neid erblasst, wenn er sieht, was hinter der dünnen Tünche der Zivilisation passiert.