Kommentarkultur: Wer sich nicht ständig positioniert, überblickt den Gesamtzusammenhang

Kaum etwas entsteht so schnell wie eine windige Meinung im Internet. Nicht selten sind die Äußerungen kurz, pauschal, schwarz-weiß und negativ. Theo Wurth meint, immer alles doof zu finden ist zwar möglich, aber doof. Ein Kommentar zu Kommentarkultur.

Es gehört ja anscheinend zu unserer Netzkultur, dass man zu allem und jedem eine Meinung haben muss. Oftmals tendieren Menschen dabei eher zur Meinungsverbreitung, wenn ihnen etwas negativ aufstößt, anstatt wenn alles in bester Ordnung ist. Zufriedenheit und Zustimmung muss weniger dringend verarbeitet werden wie das Missfallen und die Antithese.

Besonders in sozialen Netzwerken macht sich der Trend zum Negativen bemerkbar, weil es die einfachste und populärste Form ist, einer Vielzahl an Nutzern auch noch halbwegs anonym die persönliche Meinung mitzuteilen. Menschen erzürnen sich nach Herzenslaune über politische Statements; sie krititisieren die Unleistung ihres Fußballvereins; sie finden das neue Album eines Musikers viel schlechter als das vorherige; und auf die bloße Meldung, dass Klaus Kinskis Tochter doch nicht ins Dschungelcamp einzieht, braucht es ein folgerichtiges „So einen Dreck will doch eh keiner sehen!!!“.

Ein falsch verstandener Vorzug des Rechts auf freie Meinungsäußerung ist, dass wir alles doof finden dürfen, wonach uns gerade ist. Hierbei sind offensichtliche Hetzkommentare sogar völlig außen vor gelassen. Die Lightform des Hetzens ist das „Dooffinden“. Immer und immer wieder. Alles und jeden. Völlig festgefahren. Undifferenzierte Kritik und Nörgelei paart sich diskursiv mit dem Ignorieren von Argumenten und gegenseitigem Absprechen der Urteilskompetenz. Das Verfolgen von Kommentarverläufen gleicht nicht selten der Beobachtung ziellosen Zootierverhaltens. Der Bildschirm ist gewissermaßen die Glaswand.

Das war schon in der Schule so

Dabei darf man all diese Meinungen ja haben. Sie lassen sich nicht einmal pauschal als ungerechtfertigt bezeichnen. Alles okay. Wir müssen uns nur von dem Glauben verabschieden, dass alle Meinungen gleich viel wert seien. Wer etwas ungehalten in den Raum brüllt, hat den Zweck von Diskursen verfehlt, woran auch die erinnernde Bekundung nichts ändert, dass es doch erlaubt sein müsse, eine Meinung zu äußern. Trotzdem bereichert sie dadurch nicht automatisch den Diskurs. Sie verkommt schlimmstenfalls im Gegenteil zu einem Spiegelbild des frustrierten bis unbeholfenen Äußerers.

Das war übrigens schon in der Schule so: Es gab mündliche Beiträge, die eine Thematik vorangebracht haben, die neue Aspekte eröffneten oder tiefer eindrangen; und es gab Beiträge, die mit „Ich finde…“ begannen.

Bemerkenswert ist der Effekt, der inzwischen bei mir eintritt, wenn ich im Netz eine Häufung von Meinungsäußerungen sehe, in denen alles doof gefunden und ohne Interesse an Synthesen aneinander vorbeigeschrieben wird: Ich sehe nicht mehr den gerechtfertigten oder ungerechtfertigten Grund, weshalb sich Nutzer hier schriftlich auslassen. Sondern ich sehe zunehmend nur noch die Nutzer selbst. Das wiederkehrende Raster des Dooffindens und ziellosen Diskutierens. Es führt dazu, dass die Thematik, auf Grund der ja eigentlich die Meinungsäußerung stattfindet, gleichgültig und austauschbar wird. Positionen verlieren ihre Glaubwürdigkeit, weil bei jeder Thematik aufs Neue eine Masse des schlichten „Dagegenseins“ auf ihren Einsatz wartet und die Fraktion derer, die bereit wären zu begründen, gleich mit degradiert.

Immer positionieren?

Einer Vielzahl an Usern ist es schlicht zu schwierig oder zu lästig, sich differenziert auszudrücken. Auf 140 Zeichen bei Twitter wäre dazu sowieso kein Platz. Natürlich lässt sich das Posten von schwarz-weiß-malerischen Negativmeinungen auch nicht verbieten; es wird ja viel mehr durch das System selbst gefördert, wie wir sehen.

Aber die Tatsache, dass wir zu einem bedenklichen Anteil reißerische Meinungen produzieren, positionieren, kritisieren, aufscheuchen und doof finden, anstatt häufiger auch zu problematisieren, zu differenzieren oder einfach mal zur Kenntnis zu nehmen, hat unweigerlich zu einer Stimmgewalt der Dummen geführt. Nicht nur durch die Hetzer, auch durch die Hetzer in Lightform. Um diese Hoheit der Dummen in Diskursen einzudämmen, lassen sich selbst die, die zu sinnvollen Beiträgen imstande wären, auf ähnlich traurige Muster ein. Gerne heißt es dann – „Wer sich nicht positioniert, macht sich mitschuldig“. Das stimmte vielleicht im Dritten Reich (selbst da nur bedingt). Versuchen wir es doch mal andersherum zu sehen: „Wer sich nicht ständig positioniert, überblickt und zeigt sich offen für den Gesamtzusammenhang.“

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