Eine Menge Smartphones

Medienästhetische Überlegungen zur App – Teil 2

In seinem Essay zur App erklärt Medienwissenschaftler Mathias Mertens was Smartphone und App von Computer und Applikation unterscheidet.

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8.

Was das Smartphone ist, bevor es sich zum Computer aufbaut, ist ebenso trivial: es ist ein Handy. Und an der perfekten Handyhaftigkeit des Smartphones haben Apps nun ebenso teil wie an ihrer erst zu erarbeitenden Computerhaftigkeit. Ein Handy ist nicht nur ein mobiles Telefon, das waren auch Telefone mit sehr langen Schnüren oder mit Funkstationen, sondern es ist ein Telefon, das immer dort ist, wo man sich selbst gerade befindet. Ein Handy ist keine eigene Situation, man geht nicht zu ihm wie ans Telefon, sondern es befindet sich in all den Situationen, in denen man sich selbst befindet. Deshalb kann und muss man es gelegentlich ausschalten, deshalb beginnt man Handygespräche häufig mit einer Abfrage der Situation des Gesprächspartners und einer Beschreibung der eigenen, nur deshalb muss man es häufig suchen, weil die körperliche Beziehung unterbrochen ist. Das Handy ist immer situativ, nie situiert.

9.

Als Hinzufügungen zum Handy teilen Apps diese Situativität, und das stellt den wohl noch größeren Unterschied zu Applications von Computern dar als es die Leistungsreduktion tut. Der Vergleich zwischen Handy und Telefon beleuchtet auch den Charakter von Applications auf einem Computer. Diese lassen sich als eigenständige Situationen begreifen, nicht als Attribute zu Situationen eines menschlichen Körpers. Man setzt sich immer an den Computer, um ein Anwendungsprogramm zu nutzen1, und zwar egal, ob es sich um einen großen, klobigen Desktop-PC mit viel Peripherie handelt, oder um ein kleines, leicht mitzunehmendes Laptop. Immer ist oder wird der Computer eingerichtet, immer ist es eine Situation, in die man sich begibt. Die App dagegen wird in einer bestehenden Situation, in der sich der Nutzer befindet, aufgerufen, weil sie an einem Handy hängt, das an dem Nutzer hängt. Die zweite Bestimmung der App lautet dementsprechend: Als Handyhinzufügung befindet sich die App immer in Situationen, in denen sich der Nutzer befindet, und stellt keine eigenständige Situation wie die Application dar.

10.

Die anfängliche Pointe von Steve Jobs öffentlicher Vorstellung des iPhones am 9. Januar 2007 war, dass er ankündigte, gleich drei revolutionäre Geräte vorstellen zu wollen: ein Musik- und Video-Abspielgerät mit Touchscreen, ein Telefon und einen mobilen Internetbrowser. Gebetsmühlenartig wiederholte er das, bis das komplette Publikum verstanden hatte, dass es sich um ein einziges Gerät handelte, das diese drei verschiedenen Geräte in einem vereinen würde. In der Rückschau ist es interessant, dass beinahe nichts an dieser Präsentation des iPhones darauf hindeutete, zu was sich das iPhone innerhalb der folgenden zwei Jahre entwickeln würde. Niemals wurde das Wort App benutzt. Steve Jobs sprach nur von Applications. Die Zusammenfügung von drei Geräten zu einem wurde als eine Zusammenfügung von drei sehr starken Anwendungsprogrammen dargestellt, die dann wiederum mit einigen weniger starken Anwendungsprogrammen ausgestattet waren. Der Innovator Steve Jobs verkaufte das iPhone streng nach Marshall McLuhans Erkenntnis, dass Medien andere Medien beinhalten und dass sich neue Medien zu Beginn ihrer Existenz an den Formen älterer Medien orientieren.2

11.

Beinahe nichts deutete im Januar 2007 auf Apps hin. Nur in einer einzigen Passage lässt sich nachträglich erkennen, dass hier ein Prinzip angelegt wurde, das in den darauf folgenden Monaten greifen konnte und ein komplett anderes Verständnis des Geräts erzeugte. Als Steve Jobs das Touchscreen-Interface vorstellt, erklärt er, was das Problem mit Produkten anderer Hersteller sei:

“They all have these keyboards that are there whether or not you need them to be there. And they all have these control buttons that are fixed in plastic and are the same for every application. Well, every application wants a slightly different user interface, a slightly optimized set of buttons, just for it. And what happens if you think of a great idea six months from now? You can’t run around and add a button to these things. They’re already shipped. So what do you do? It doesn’t work because the buttons and the controls can’t change. They can’t change for each application, and they can’t change down the road if you think of another great idea you want to add to this product.
Well, how do you solve this? Hmm. It turns out, we have solved it! We solved in computers 20 years ago. We solved it with a bit-mapped screen that could display anything we want. Put any user inter face up. And a pointing device. We solved it with the mouse. We solved this problem. So how are we going to take this to a mobile device? What we’re going to do is get rid of all these buttons and just make a giant screen. […] [And] [w]e’re going to use a pointing device that we’re all born with — born with ten of them. We’re going to use our fingers.”3

Es soll möglich sein, dass verschiedene Applications verschiedene Interfaces haben, so wie bei einem Computer. Das war Steve Jobs Punkt bei der Vorstellung des iPhones. Zusammen mit den wenigen Anwendungsprogrammen, die das Smartphone zu diesem Zeitpunkt besaß, bedeutete das aber nur, dass die vorgestellten drei Geräte problemlos miteinander und ineinander funktionieren konnten. Erst nach seiner Vorstellung erkannte man, dass die Flexibilität dieses Interfaces zusammen mit der Unbegrenztheit des Internetzugriffs die Möglichkeit einer andauernden Bespielung und Ergänzung des Geräts ermöglichte. So entstanden Apps und wurden nicht gemacht, und so entstand ein allgemeiner Begriff von ihnen, der zu einer eigenen Bezeichnung führte.

12.

Befragt zum sechsten Jahrestag der Einführung des iPhones fiel dem Analysten Richard Doherty nur ein zu sagen, dass die Eröffnung des Apple Appstores am 10. Juli 2008 das viel bedeutendere Ereignis darstelle.4 Was anderhalb Jahre zuvor von seinen Entwicklern noch nicht vorausgesehen worden war, wurde nun nach unglaublich kurzer Zeit institutionalisiert: Es war eine neue Kulturtechnik entstanden, nicht ein besseres Gerät und auch nicht ein besseres Anwendungsprogramm. Sondern das neue Ding App, das sich epidemisch unter all den Menschen verbreitete, die in irgendeiner Form mit Elektrotechnik in Alltag oder Beruf zu tun haben. Die App wurde zwischen dem 9. Januar 2007 und dem 10. Juli 2008 geboren, gezeugt vom Computer, dem Anwendungsprogramm, dem Handy und dem Internet und ausgetragen vom Touchscreen-Smartphone. Und die Killer-Application für die App war der Appstore, der die Universalität für die Geräte zur Verfügung stellte.

13.

Es gab immer schon Situationen, wo man sich so etwas wie eine App gewünscht hatte. Auch schon bevor man Apps kannte. Auch schon bevor es Heimcomputer mit Anwendungsprogrammen gab. In diesen Situationen wünschte man sich immer, dass man etwas parat hätte, dass es eine schnelle und einfache Lösung für ein akutes Problem gäbe, dass man einer Situation souverän begegnen könne. Volksmärchen sind voll von solchen Situationen, in denen die Figuren eine instantane Lösung suchen: den Knüppel aus dem Sack, die Sterntaler in das Hemd, das Kleid am Baum für den Ball, den Spiegel zur Ermittlung des eigenen Marktwertes, die Siebenmeilenstiefel für die Reise – alles eindimensionale Lösungen, die aber enorme Potenz für einzelne Situationen besitzen. In ähnlicher Weise wünschte man sich, wenn man sich nachts mit dem Auto in einer Großstadt verfahren hatte, einen Taxifahrer auf dem Beifahrersitz, der einen mit einigen Anweisungen aus dem Labyrinth herausführen würde. Oder einen Reiseführer, der einem sagen könnte, was für andere Kneipen es noch gibt, die noch aufhaben, nachdem die Disco, in der man gefeiert hatte, um 2 Uhr nachts zugemacht hatte. Oder einen Spitzel an der Autobahn, der einem den Zeitraum nennen könnte, in dem die wenigsten Menschen in den Urlaub starten, um in dieser Delle fahren zu können und nicht in den Staus drumherum. Oder bloß einen Fotoapparat, wenn man dem Jugendidol im Urlaub begegnete und gerne einen Beweis für die Freunde zuhause gehabt hätte.

14.

“What’s great about the iPhone is that if you wanna check snow conditions on a mountain there’s an app for that. If you wanna check how many calories are in your lunch there’s an app for that. And if you wanna check where exactly you parked the car there’s even an app for that. Yup. There’s an app for just about anything. Only on the iPhone.”[5. Apple-Werbespot 2009 http://www.youtube.com/watch?v=szrsfeylLzyg

Diese behauptete Exklusivität des Apple-Werbespots im Jahr 2009 war natürlich nicht real. Zur selben Zeit, in der Apple und die Nutzer seiner Produkte die App entdeckten und erfanden, verstanden auch andere Konzerne, allen voran Google mit dem Android-Betriebssystem, dass Apps immer schon nötig gewesen waren und dass es unendlich viele Situationen geben kann, in denen eine App eine schnelle und einfache Lösung darstellt. Dennoch ist dieser Werbespot und der als Warenzeichen geschützte Spruch “There’s an app for that” paradigmatisch dafür, wie eine App funktioniert und wie sie in unser Leben integriert ist. Wenn ich in einer bestimmten Situation ein bestimmtes Bedürfnis habe und mich frage, ob es genau dafür eine App gibt, dann könnte es dafür eine App geben. Sonst nicht. Die dritte Bestimmung der App lautet also: Apps stellen Antworten auf bestimmte Situationen dar (das sind App-Situationen). Und wenn man diese Antwort nicht formulieren bzw. die Frage nicht stellen kann, ob es dafür nicht eine App gibt, dann ist das, was man in dieser Situation benutzt, keine App, sondern irgendetwas anderes.

 

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  1. Das war nicht immer so, und markiert genau den Unterschied, den der PC zu Mainframe-Rechnern gemacht hat.
  2. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Düsseldorf: Econ, 1992.
  3. Vincent Nguyen: Complete Transcript of Steve Jobs, Macworld Conference and Expo, January 9, 2007. http://www.iphonebuzz.com/complete-transcript-of-steve-jobs-macworld-conference-and-expo-january-9-2007-23447.php
  4. Zitiert nach Jefferson Graham: “Apple App Store marks 5 years of app-ortunity.” In: USA TODAY (9. Juli 2013) http://www.usatoday.com/story/tech/columnist/talkingtech/2013/07/09/5-years-of-apple-apps/2499299/

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