Eine Menge Smartphones

Medienästhetische Überlegungen zur App – Teil 3

In seinem Essay zur App erklärt Medienwissenschaftler Mathias Mertens was Smartphone und App von Computer und Applikation unterscheidet.

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Zum zweiten Teil des Essays hier.

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Für bestimmte Sorten Spiele und ähnlich Unnützes hat man im Englischen den Begriff “casual” geprägt, was sich am besten mit “gelegentlich” und “unverbindlich” übersetzen ließe. Und auch einige Apps werden als casual bezeichnet, wenn sie mehr der Zerstreuung als einem Nutzen dienen. Tatsächlich wäre casual, wenn man es stärker an der philosophischen Urbedeutung orientieren würde, der richtige Begriff, um die Situativität der App zu fassen. Epikur verstand, nach Kants Ablehnung dieses Konzepts in seiner Kritik der Urteilskraft, Kasualität als eine Zweckmäßigkeit eines Dings, die zwar aus mechanischen Gründen zustande gekommen ist, dessen Zustandekommen aber nicht intendiert und arrangiert worden ist.1 Kant und andere übersetzen dieses Zustandekommen richtig aber unglücklich mit „Zufälligkeit“, unglücklich deshalb, weil in Zufall Unsinn, Unnutz und Nichtigkeit mitschwingen. Dabei ließe sich Kasualität nicht nur mit “zufällige Zweckmäßigkeit” sondern auch mit “unerwartete Nützlichkeit” übersetzen. Und genau in diesem Sinne wären alle Apps kasual, nicht nur diejenigen, die der Zerstreuung in einem Moment toter Zeit dienen können, sondern alle Programme, die in einer unvorbereiteten Situation sofort eine ganz bestimmte Hilfeleistung bringen können. Sie erfahren somit auch keine Entfaltung, sondern erschöpfen sich in dieser Anwendung; sie sind kein Multitool, mit dem man sich auf alle Eventualitäten vorbereitet hat, und das man an jede Situation anpassen muss, sondern sie sind das richtige Werkzeug für den Fall, der ist. Die dritte Bestimmung der App als Antwort auf eine Situation ließe sich also ergänzen um: Diese Antwort ist kasual, insofern sie eine unerwartete Nützlichkeit besitzt.

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“Das Überraschende an Apps, die [zum Beispiel] Mücken vertreiben ist, dass ihre bloße Existenz nicht mehr überraschend ist,” schreibt Edward C. Baig zum 5. Jubiläum der Eröffnung des Apple Appstores. 2 “Wir erwarten tatsächlich, dass alles, was wir jetzt gerade hier brauchen, nur so weit weg ist wie das Smartphone in unserer Tasche – gib mir nur eine Minute oder so, um es herunterzuladen.” Das ist die Botschaft, die das Medium App darstellt, das ist die Veränderung unserer Weltsicht, die es herbeigeführt hat. Wir haben begonnen, in Situationen zu denken, und nicht mehr nur in Begriffen, Konzepten und sinnvollen Artefakten. Mit Apps rüstet man sich für unvorhersehbare Situationen, das ist wie das Ausnutzen des restlichen Platzes im Rucksack mit zusätzlichem Zeug. Auf Apps baut man, wenn das Unverhoffte eintreten wird, das ist wie das Trampen an der Autobahnauffahrt. Mit Apps besteht man, wenn die Situation so ist, wie sie ist, das ist wie der glückliche Fund eines vergessenen Schokoriegels am Boden der Tasche, wenn man hungrig sonntagnachts in einer Wanderhütte sitzt. Wir antizipieren solche Situationen, wir sehen Pragmatiken in solchen Situationen, wir überlegen Lösungen für solche Situationen. Wir denken nicht über den Sinn unserer Existenz oder die Ungewissheit der Zukunft nach, sondern über unsere Körper an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten mit bestimmten Nöten in einer antizipierten Gegenwärtigkeit.

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Obwohl vollgestopft mit Werkzeugen, sind Anwendungsprogramme Archive für noch zu fertigende Artefakte. Apps dagegen sind Operationen auf Lager, die auf Abruf zur Verfügung stehen. Das ist die vierte, die kulturelle Bestimmung von Apps: Sie vermitteln ein Denken in speziellen Operationen, nicht eines in Begriffen. Und diese Operationen betreffen die Gegenwärtigkeit von Situationen, in denen man sich befindet, nicht die Bearbeitung eines noch zu schaffenden Artefakts, wie in den allermeisten Anwendungsprogrammen. “Rezeption” ist eine dieser Bearbeitungen, die wir Artefakten widerfahren lassen. Rezeption ist immer historisch, insofern wir eine vergangene Arbeit würdigen, die Zukunft entworfen und gestaltet hat. Diese projektierte Zukunft vergleichen wir dann mit der gerade vergangenen Gegenwart, die wir überblicken, und schätzen die Aktualität oder die Weitsicht oder die Historizität des Unternehmens ein. Produktion und Rezeption stellen einen zutiefst imaginären Prozess dar. Im Gegensatz dazu ist nichts an Apps rezipierbar, weil sie nur reagieren und nicht produzieren.

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Das alles ist entscheidend, wenn man über das künstlerische Potential von Apps nachdenken will und sich nicht aus medientheoretischer Verzweiflung auf das Abspielen von Animationsfilmen, Musikstücken, Romanen, Gedichten, Computerspielen oder Ähnlichem konzentriert, um an diesen Artefakten dann wieder eine gewohnte Interpretation zu vollziehen. Wenn man so verfährt, dann würdigt man die künstlerische Leistung eines Animationsfilms, eines Musikstücks, eines literarischen Werkes, nicht aber das, was die App dazu beiträgt, unsere Weltsicht zu verändern. Nicht die spezifischen Formen, die Apps erzeugen, die, wie hergeleitet, dadurch geprägt sind, dass sie situativ, reaktiv und vor allem operational sind – und vor allem nicht intersubjektiv. Apps stellen keine Versuche dar, die Gedankenwelt eines anderen Menschen zu vermitteln, mit der App will mir niemand etwas sagen. Definiert man Kunst ganz allgemein als ästhetische Arbeit an der Weltsicht der Menschen, dann gilt es bei Apps zu betrachten, wann und wo man etwas machen kann und inwiefern es die Selbstwahrnehmung in solchen Situationen bestimmt und verändert. Apps könnten als die Kunstform betrachtet werden, die unser Körperschema betrifft, jenes “Raumbild, das jeder von sich selber hat”, wie es Paul Schilder definiert hat, in dem “die einzelnen Teile des Körpers und ihre gegenseitige räumliche Beziehung zueinander” enthalten sind.3 Dass das Körperschema verändert wird, trifft zwar, zumindest wenn man Marshall McLuhan folgt, auf alle Medien zu, aber sie tun dieses eben nur in einer einzigen Weise. Das potentiell unendliche Hinzufügen von bestimmten Operationen zu bestimmten Situationen, zeichnet die App allerdings gegenüber anderen Medien aus und ist die ästhetische Qualität, an der man künstlerisch arbeiten kann.

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Die durch die Serie “The Big Bang Theory” populär gemachte Whip-App, die einen Peitschenknallsound abspielt, wenn man das Smartphone wie eine Peitsche durch die Luft schlägt, ist eine der größten Kunst-Apps in diesem Sinne. Denn kreativ ist eine App, wenn sie eine Situation überhaupt erst erkennbar macht, die man ohne ihre Antwort überhaupt nicht vermutet hätte, was die letzte Bestimmung der App ist. Niemals zuvor hatte ich in einer Situation das Bedürfnis, eine Peitsche knallen zu lassen, das Wissen darum, dass ich es nun kann, lässt mich Situationen zu App-Situationen umdefinieren, für die ich dann die passende Antwort parat habe. Es ist Schlagfertigkeit, Slapstick, Situationskomik, Artistik, zu der ich fähig bin, wann immer ich es passend finde. Ich bin nicht mehr daran gebunden, auf Situationen nachträglich mit Tinte auf Papier, Farbe auf Leinwand, Lichtstrahlen auf Fotopapier oder deklamierter Sprache reagieren zu müssen. Mein Repertoire an Operationen kann sich täglich erweitern, und so arbeite ich in Echtzeit an meinem Auftreten in der Welt, ab einem nicht mehr wie im 19. Jahrhundert choreographierten, sondern andauernd gefundenen Dandyismus.

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Zusammenfassend:

Erstens: Ohne Smartphones gäbe es keine Apps, denn das Smartphone ist ein Computer, dessen Computerhaftigkeit, also Universalmaschinenhaftigkeit, erst durch Apps aufgebaut werden muss. Jede einzelne App mag sich wie eine Killer-Application anfühlen, ist dann aber doch nur Baustein für die Rekonstruktion der Universalität des Geräts.

Zweitens: Als Handyhinzufügung befindet sich die App immer in Situationen, in denen sich der Nutzer befindet, und stellt keine eigenständige Situation wie die Application dar.

Drittens: Apps stellen Antworten auf bestimmte Situationen dar (das sind App-Situationen). Diese Antworten sind kasual, insofern sie eine unerwartete Nützlichkeit besitzen.

Viertens: Apps vermitteln ein Denken in einzelnen Operationen, nicht eines in Begriffen; und diese Operationen betreffen die Gegenwärtigkeit von Situationen, nicht die Fiktionen für die Zukunft.

Fünftens: Kreativ ist eine App, wenn sie eine Situation überhaupt erst erkennbar macht, die man ohne ihre Antwort überhaupt nicht vermutet hätte.

 

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  1. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hamburg: Tredition, 2012. S. 271.
  2. Edward C. Baig: “5 years in, there is indeed an app for that. In: USA TODAY (9. Juli 2013) http://www.usatoday.com/story/tech/columnist/baig/2013/07/09/apple-app-store-turns-5-baig/2503185/ (meine Übersetzung)
  3. Paul Schilder: Das Körperschema. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewusstsein des eigenen Körpers. Berlin: Verlag von Julius Springer, 1923.

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