Mirkos Lovecouch: Juhu! Scheiße! Meine Diät war erfolgreich!

Lovecouch-Kolumnist Mirko Wenig hat innerhalb eines Jahres mehr als 30 Kilo abgenommen. Und plötzlich bildeten sich Falten an Stellen, von denen er gar nicht wusste, dass sich dort überhaupt Falten bilden können. Zufriedener ist er trotzdem. Ein Plädoyer für mehr Mut zum Unperfekten.

Meine Freunde machen sich Sorgen, dass ich zu dünn geworden sei. „Mirko, willst du nicht mal wieder normal essen?“ – solche Sachen werde ich gefragt. „Nun ist aber mal genug mit dem ganzen Grünzeug“. Mit „Grünzeug“ gemeint ist der Salat, den ich mittags in mich reinstopfe, oder besser gesagt: federleicht in meinen Mund schweben lasse. Und nicht nur mittags, sondern auch abends. 250 Gramm, genau abgewogen. Manchmal gibt es dann noch ein Schwarzbrot-Sandwich als Beilage, dünn mit Margarine beschmiert. Und, wenn ich mir mal was leisten will, lege ich etwas Fisch und ein weiteres Salatblatt zwischen die Brotscheiben. Aber man soll es ja auch nicht übertreiben mit der Völlerei.

Wer mich lange nicht gesehen hat, wird sich nun wundern. Noch vor drei Jahren brachte ich stolze 102 Kilo auf die Waage. Das ist halb so viel wie ein ausgewachsenes Shetland-Pony. Wobei ich eher von meiner Bären-Phase sprechen würde, denn tatsächlich hat mich damals eine Frau mit einem Bären verglichen. „Du siehst aus wie Winnie Puuh“, hat sie gesagt. Ich bin mir nicht sicher, ob das als Kompliment gemeint war, aber sie hatte schon ein bisschen recht. Abstehende Ohren, hohe Stirn, rundes Gesicht: ich sah aus wie ein kleiner Tapse-Bär. Wobei ich auch recht kräftig war, denn ich machte viel Sport, auch damals schon. Aber eben fett, tapsig und kräftig.

Eine Radikaldiät ist im Grunde eine große Dummheit

Dann also die Diät. Ganz plötzlich entschloss ich mich: jetzt ist Schluss mit dem Gefresse. Warum ich mir das antat? Weil ich verliebt war. Und unglücklich mit meinem Aussehen. Vielleicht auch unglücklich mit meinem Leben. Ich wog 102 Kilo. Ich keuchte, wenn ich Treppen stieg. Man macht komische Sachen, wenn man unglücklich verliebt ist. Manche ritzen sich die Arme. Manche stürzen sich von einer Autobahnbrücke. Ich, verdammt, machte eben eine Diät. Diät heißt, mit dem Mangel leben lernen. „Jetzt nicht!“ ist die Kernbotschaft. „Du musst verzichten!“ eine weitere. Diät ist Selbstdisziplinierung. Ich aber betrieb sie als Selbstgeißelung. Denn eine Radikal-Diät ist eine riesige Dummheit:

Man geht früher ins Bett, um nicht immerzu ans Essen denken zu müssen.
Man ist auf Arbeit unkonzentriert.
Man hat oft schlechte Laune.
Man fühlt sich schlapp.
Man blafft Freunde an, wenn sie einem etwas zu essen anbieten.
Man denkt oft ans Essen. Ans Essen, immerzu ans Essen.
Man denkt an nichts anderes.
Und isst doch nichts. Schon aus Prinzip. Um sich zu quälen.
Man ist ein Junkie auf Entzug.

Nun werde ich nicht mehr mit Winnie Puuh verglichen, sondern mit Michael Stipe, dem früheren REM-Sänger. Richtig: der hat auch eine hohe Stirn, aber eingefallene Wangen. Der sieht immer ein bisschen leidend aus. Ich wiege nämlich nur noch 72 Kilo. Und da gibt es noch etwas, das mich mit Michael Stipe verbindet. Es sind diese Falten am Mundwinkel und unter den Augen. Michael Stipe sieht immer ein bisschen aus, als wenn er die Nacht kaum geschlafen hat und sich viel zu viel Gedanken macht. Ich hatte früher nie Falten, in meiner 102-Kilo-Phase war mein Gesicht unverschämt rund und glatt.

Meine kleinen Schwangerschaften

Die Sache hat einen weiteren Haken. Ich nenne diesen Haken liebevoll „meine kleine Schwangerschaft“. Denn wenn man 30 Kilo abnimmt, dann ist es ja tatsächlich so, als sei ein kleiner Mensch aus einem herausgeschlüpft. Zumindest im Bezug auf die Körpermasse. Vielleicht sogar drei kleine Menschen. Und so habe ich jetzt dieselben Probleme mit meiner Figur, die Frauen nach einer Geburt auch haben. Nein, das behaupte ich nicht einfach so. Das habe ich in in genau den Frauen-Foren recherchiert, in denen ich mir auch Tipps für meine radikale Diät holte.

Da wäre zum Beispiel der Po. Mein Oberkörper ist durchtrainiert, meine Arme sind muskulös, meine Haltung und Ausstrahlung haben sich verbessert. Aber mein Po fühlt sich an wie ein alter Waschlappen. Und da ist zu viel Haut. Haut, die keinen Zweck mehr hat, denn das Fett, das diese Haut umhüllen sollte, ist ja weg. Als würde mein Po in einer zu großen Ballon-Hose stecken. Und mein Po wird einfach nicht straff, obwohl ich ihn beinahe täglich trainiere. Obwohl ich mich regelmäßig auf dem Stepper abstrample, Rad fahre und Schwimmen gehe.

Es gibt schreckliche Seiten im Netz, auf denen Männern und Frauen, die stark abgenommen haben, eine Schönheits-OP empfohlen wird. Ich habe das nie verstanden. Falten sind auch ein Stück Individualität. Falten sind ein Beweis für mein früheres Leben: das ich gelitten, gelacht, in vielen Nächten zu wenig geschlafen habe. Zu viel gesoffen. Zu euphorisch mich gefreut. Zu oft abgestürzt. Zu oft getröstet habe – und getröstet wurde. Dass ich Konflikte hatte und Streit. Und zärtliche Momente. Ich bin 40 Jahre alt: Verdammt, es ist normal, dass ich Falten habe.

Perfektionismus ist ein Irrtum

Wenn ich ehrlich bin, bin ich nun, nachdem ich so viel abgenommen habe, genau so wenig perfekt wie zuvor auch. Der Makel, dass ich zu dick war, wurde durch andere Makel ersetzt. Und ehrlich: das ist gut so. Ich trinke immer noch zu viel. Ich schlafe zu wenig. Ich hocke zu lange im Büro. Ich bin auch immer noch unglücklich verliebt. Ich bin immer noch schüchtern. Ich bin immer noch ich. Und ich habe nun Falten.

Ja: Man kann an sich arbeiten, kann sich verbessern. Man kann dadurch zufriedener werden. Auch ich bin zufriedener, fitter, wohl auch attraktiver. Aber wenn eine ganze Generation nun Perfektionismus und Selbstoptimierung hinterherjagt, scheint mir das ein Irrweg. Ich kann das ganz ohne Ausflüchte begründen. Ich vergleiche das gerne mit einem Pop-Song. Ein Song, der allzu glatt ist, der keine Ecken und Kanten hat, langweilt schnell. Er fordert einen nicht. Er erzeugt keine Reibung. Er hat kein Spannungsmoment. Interessanter sind jene, die ihre Schönheit nur langsam -Entschuldigung!- ENTFALTEN. Die rau und ungeschliffen klingen. Nicht zu glatt. Wir brauchen den Moment des Unperfekten, schon als Kontrast. Deswegen hören wir lieber Nirvana als Pur. Und eher Gangster Rap als Oli P..

Einer der erfüllendsten Momente, der Orgasmus, dauert im Schnitt 12 Sekunden. Er mag sich perfekt anfühlen, aber schon von außen betrachtet ist er nicht perfekt. Der Mensch – er zieht Grimassen. Er hächelt und keuscht. Er krallt sich in die Kissen. Er verkrampft sich. Er schwitzt. Und wer sich nach dem permanenten Hochgefühl sehnt, den kann ich nur warnen. Ein Orgasmus ist kurz, sehr kurz, schon notwendigerweise. Ein Orgasmus ist Scheiße unperfekt. Und vielleicht gerade deshalb einer der schönsten Momente im Leben.

PS: Wer jetzt fragt: „Hast du keine Angst vor dem Jojo-Effekt? Hast du keine Angst, wieder dick zu werden?“, dem muss ich antworten: „Natürlich!“ Aber tatsächlich schaffe ich es bereits seit fast zwei Jahren, mein Gewicht zu halten. Und da muss ich mein kleines Erfolgsrezept verraten, das ich via „Trial and Error“-Prinzip herausgefunden habe. Denn ich zähle nicht an jedem Tag die Kalorien. Sondern es gibt Tage, an denen ich alles falsch mache: zu viel esse und zu viel trinke. Unmengen Schokolade in mich hineinstopfe und Sahneeis. Nicht nur ein Fast-Food-Sparmenü bestelle, sondern gleich zwei Menüs. Sieben Flaschen Bier trinke und drei Gin Tonic. Nur habe ich gelernt, dass mir diese Dinge keine Freude machen würden, wenn ich sie jeden Tag machen würde: sie quasi alltägliche Routine wären. Also schaffe ich mir kleine Anlässe, bei denen ich mir ebendies erlaube: zum Beispiel, wenn ich auf Konzerte gehe oder ins Kino. Oder wenn ich Freunde besuchen fahre.
Die Kunst besteht darin, in den richtigen Momenten alles falsch zu machen.

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