The sun always shines on tv

The Sun always shines on TV: Remote Control – Die Einflüsterungen der Fernsehregie

In Mathias Mertens historischer Fernsehkolumne The Sun always shines on TV fehlt heute mal die MAZ. Regie?! Hallo? #21 (11. März 2001)

Obwohl von solch reaktionärer Belehrung nichts zu halten ist, muß man doch einräumen, daß in manchen Fällen tatsächlich schon einmal etwas von jemandem festgestellt worden ist. Heinrich von Kleist, zum Beispiel, hat bereits vor zweihundert Jahren einige allgemeine Bemerkungen gemacht, die für die heutige fernsehwissenschaftliche Betrachtung von Relevanz sind. In seinem Text Über das Marionettentheater schreibt er davon, daß mit zunehmender Reflexion, also Grübelei, die Grazie der Handlungen abnimmt. Die vollkommene Grazie findet sich demnach bei demjenigen, der ein unendliches Bewußtsein besitzt und somit durch alle Reflexionen hindurchgegangen ist, was man dummerweise nur bei Gott vermuten darf, oder bei einem unbeseelten Körper wie der Marionette, weil sie sich vor aller Reflexion und damit Grazienverminderung befindet. Man muß eine Marionette nur ein wenig an bestimmten Schwerpunkten ziehen und ihre Glieder verhalten sich in vollkommener Anmut, weil sie sich um nichts anderes als diese Schwerpunkte bewegen. Das Fazit dieser Überlegung ist, daß das Profanste das Sublimste sein muß, weil es beinahe um seiner Selbst willen getan wird und nicht, um irgendwelchen Überlegungen Ausdruck zu geben. Oder auch, daß wir in unseren besten Momenten keine Kontrolle über unsere Handlungen haben, sondern daß wir dann an unsichtbaren Fäden gezogen werden, von jemand anderem gesteuert werden, dem wir als Werkzeug zur Produktion von Grazie dienen.

Von der Kastenbühne eines Marionettentheaters zum Fernsehgerät unserer Tage ist es nur ein winziger Schritt. In beiden sehen wir kleine Figuren agieren, die uns zum Lachen, Weinen, Staunen oder Nachdenken bringen sollen. Bei beiden bewundern wir die künstlichen und doch so an das Leben erinnernden Bewegungen und Dialoge. Daß allerdings bei beiden hinter den Figuren jemand sitzt, der die Fäden zieht, vergessen wir im Laufe der Zeit beim ersten; beim zweiten wissen wir es eigentlich überhaupt nicht, nur manchmal blitzen die Fäden im Licht, sehen wir die Hand am oberen Rand der Bühne, hören wir ein Geräusch hinter den Bauten, das nichts mit dem Vortrag zu tun hat. Die Marionetten im Fernsehen heißen Moderatoren. Im Gegensatz zu ihren hölzernen Ebenbildern sind die Fäden auf einen einzigen beschränkt, an dem sie auch nicht mehr aufgehängt sind, sondern der aus ihrem Ohr über den Rücken in einen kleinen Kasten am Gürtel mündet. Auch die Schwerpunkte, die stimuliert werden sollen, hat man auf einen einzigen neuralgischen Punkt reduziert: Man kann direkt auf das zentrale Nervensystem wirken, indem man dem Moderator mitteilt, was er jetzt tun, sagen, unterlassen soll. Die Puppenspieler heißen beim Fernsehen Regie, aber sonst unterscheiden sie sich nicht von ihren Jahrmarktsvorbildern. Auch sie müssen sich an ein Skript halten, müssen auf die Zeit und auf die Aufmerksamkeitsspanne der Zuschauer achten und vor allem ihre Marionetten durch Einflüsterungen so steuern, daß sie antigrav werden, daß die Kraft, die sie in die Höhen der Fernsehunterhaltung hebt, größer ist als jene, die sie an ihre alltägliche Existenz fesselt.

Die ominöse Regie beim Fernsehen hat eine eigene kleine ästhetische Geschichte. Wir erinnern uns, daß der Moderator früher nach oben rief, um von der Regie zu erfahren, wie er denn jetzt weiter zu verfahren habe, etwa wenn die MAZ im Aktuellen Sportstudio nicht vorlag oder ein Abstimmungsergebnis nicht angezeigt wurde. Von Mimik und Gestik her war es ein Stoßgebet in den Himmel, ein Anflehen der Götter um ihren Beistand, und mirakulöserweise wurde es immer erhört. Man hörte den elektrischen Kontakt, mit dem ein Mikrophon angeschaltet wurde und dann kam eine geschäftige Lautsprecherstimme, die kurz und bündig Anweisungen gab. Das war nicht besonders graziös, schien es doch, daß der Moderator nicht die Kontrolle über die Geschehnisse hatte und unfähig war, eigene Entscheidungen zu treffen. Man muß allerdings einräumen, daß diese Fürbitte an die Götter nur in Notfällen angewendet wurde, man konnte immer nachvollziehen, daß hier entscheidende Informationen erbeten wurden. Die Identifikation mit dem Menschen in dem Moderator war sehr stark, genauso hilflos wäre man sich selbst vorgekommen. Auf Dauer war diese Identifikation jedoch kontraproduktiv, denn dann mutete die Fernsehshow an wie das eigene Stammeln und Wühlen nach Zetteln, wenn man auf der Goldenen Hochzeit im Familienkreis eine Rede halten muß.

Als die Mikroelektronik sich endlich weit genug entwickelt hatte, ging man deshalb konsequent auf den Ohrstecker und den Funksender am Gürtel über. Ohrstecker gab es zwar auch schon früher, aber nicht in der Funktion der unsichtbaren Steuerung. Man begegnete ihnen bei Kommentierungen von Mondlandungen und Wahlsendungen. Es waren unappetitliche, sanitärhausfarbene, schnullerförmige Stöpsel, die anzeigten, daß der Moderator gerade zwei Sachen auf einmal bewältigen konnte: Moderieren und gleichzeitig die Geschehnisse im Kontrollzentrum verfolgen. Die Ohrstecker für Regieeinflüsterungen mußten unsichtbar sein, sie sollten durch ihre scheinbare Abwesenheit gerade das Gegenteil anzeigen. Der Moderator macht alles alleine und wird mit jeder nur denkbaren Situation fertig. Der Lautsprecher ist eine winzige Kugel, die direkt im Gehörgang sitzt und von einem transparenten, geschwungenen Bügel, der sich hauptsächlich hinter die Ohrmuschel schmiegt, an seinem Platz gehalten wird. Außerdem wurde ein neues Achsensprungverbot im Fernsehen eingeführt: Der Moderator darf nur noch im Halbprofil aufgenommen werden und zwar natürlich von der Seite mit dem freien Ohr. Es darf keine senkrechten Blickachsen mehr geben, also weder die Frontalaufnahme noch das Profil, weil man sonst das Kabel sehen könnte, das zum Gürtel runterreicht. Die Gesichter begegnen uns in einem Tortenstück von 5 bis 85°.

Jetzt wußten Moderatoren auf jede Frage eine Antwort, sie drehten sich immer im richtigen Augenblick zur anderen Kamera, sie standen immer am richtigen Platz, sie kannten jeden Namen und, am allerwichtigsten, sie hielten ihren Zeitplan ein. Vollendete Grazie. Am unsichtbaren Faden gezogen schwebten die Moderatoren durch die Sendung. Nirgends hakte die Mechanik. Alles floß. Doch die Einflüsterungen wurden immer spezieller, so daß die Marionetten irgendwann wie in einer schlechter 70er Jahre Bühnenperformance ihre Fäden zu kappen versuchten. In der Quizshow begann Jörg Pilawa diese Woche eine Moderation mit dem Satz „Die Regie sagt mir gerade, daß ich am Kinn glänze.“ Um sich dann mit dem Publikum zu verbünden, indem er fragte „Glänze ich wirklich am Kinn?“ Mehrere Punkte sind an diesem Vorfall bedenkenswert. Erstens scheint die Regie, seitdem sie nicht mehr zu hören ist, jegliche Beschränkung aufgegeben zu haben und ihre Moderatoren mit jeder Kleinigkeit zu konfrontieren. Zweitens scheint die Fernsteuerung den Moderatoren soviel Sicherheit gegeben zu haben, daß sie sich sogar gegen diesen Mechanismus stellen können, ohne fürchten zu müssen, in sich zusammenzufallen. Und drittens geschieht dieses Ansägen der Fäden anläßlich einer Banalität.

Noch bedenkenswerter allerdings ist, daß es uns, das Publikum, nicht stört, und daß Jörg Pilawa dadurch nicht an Ansehen, also Grazie, verliert, sondern, im Gegenteil, an Souveränität hinzugewinnt. Obwohl er offenbart, daß er sogar in den profansten Handlungen ferngesteuert ist. Man muß jedoch nur an Kleist zurückdenken, der uns erzählt, daß gerade die unwichtigsten, kreatürlichen Betätigungen eine natürliche Grazie besitzen (er bringt das Beispiel eines Jünglings, der sich einen Splitter aus dem Fuß zieht). Wenn er sich an das Publikum wendet, um zu erfahren, ob er wirklich am Kinn glänzt, dann ist das von dieser naiven Anmut, die uns rührt, ein Dasein vor der Grübelei und damit von vorreflektiver Grazie. Gleichzeitig läßt es sich jedoch auch als ein Hindurchgegangensein durch alle Reflexion verstehen. Weil Moderatoren nicht alles kontrollieren und wissen können, wird eine Regie installiert, die gelegentlich auf die Geschehnisse reflektiert. Um noch mehr Reflexion betreiben zu können, wird sie versteckt. Dadurch werden die Moderatoren allerdings in den Stand gesetzt, alles zu wissen, das heißt, sie können auf die Reflexion der Regie reflektieren. Das versetzt sie in einen Zustand der Kontrolle, den sie durch die gezielte Sichtbarmachung der Regie verdeutlichen können. Keine kopernikanische, sondern eine prometheische Wende des Fernsehen. Den Göttern ist gewissermaßen das Feuer geraubt und unter die Zuschauer verteilt worden.

Der Teil der Geschichte mit dem kaukasischen Felsen wird allerdings nicht von den Programmachern eingeführt werden. Der Frevel, daß Prometheus den Menschen das Wissen der Götter gegeben hat, kann nämlich am besten dadurch gesühnt werden, indem sich die Götter dieses Wissen um das Wissen wieder aneignen. Will sagen, daß eine solche subversive Praxis wegen ihrer Publikumswirksamkeit von den Programmachern gewünscht und als Standard etabliert wird. Nun wird eingeflüstert, daß man das Eingeflüsterte verraten soll. Diese repressive Toleranz ist weit entfernt von der autoritären Antiautorität der Siebziger Jahre, als es schon einmal Sichtbarmachung von Mechanismen gegeben hat. Damals wurde vom Gegenüber dogmatisch die Infragestellung der eigenen Dogmen eingefordert. Heute wird bei jedem Angriff immer nur mit den Schultern gezuckt und bedauert, daß man gar nichts zu bieten hat, was angegriffen werden kann. Man ist zum Kleistschen Bären geworden, der jeden Stoß mit dem Rapier gegen ihn parieren kann, ohne daß er sich eigentlich auf einen Kampf einläßt.

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  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens