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Nicht damit umgehen, sondern es umgehen – Computerspiele müssen kultiviert werden, nicht verboten – The Sun Always Shines On TV

Medien sind schuld. Woran? An allem, vor allem aber an der Verrohung der Jugend. Mathias Mertens zeichnet nach, wie Dämonisierung funktioniert und warum Computerspiele wichtig sind. (5. Mai 2002)

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber sagte diese Woche einen denkwürdigen Satz. Anläßlich des Amoklaufes in Erfurt forderte er eine von allen Parteien unternommene Änderung des Waffengesetzes in den nächsten Wochen. Zitiert wurde der Kanzlerwerdenwollende in den morgendlichen Radionachrichtensendungen des 30. April mit den Worten „Diese Diskussion muß jetzt wirklich ohne Auseinandersetzungsbereitschaft geführt werden.“ Wir wissen über den Aspiranten auf das dritthöchste Amt des Staates ja, daß er eine Wortfindungsschwäche hat, doch dieser Fall scheint dem nicht zu entsprechen, weil er doch ein Wort gefunden hat. Sagen wollte er wahrscheinlich, daß man jetzt ohne Schuldvorwürfe und ohne wahlstrategische Überlegungen miteinander reden solle. Gesagt hat er allerdings etwas anderes. Nämlich daß man diskutieren solle, ohne sich mit dem anderen oder mit dem Gegenstand auseinanderzusetzen. Diese Aussage hat er ohne Stottern getätigt, es war also ein bewußt gesetzter Satz, dessen Charakter als Oxymoron ihm nicht auffiel. Wie auch den Radiostationen nicht, die ihn immer wieder reproduzierten. Man stößt sich also nicht am Widerspruch, sondern man erlebt ihn als eine den Umständen entsprechende Feststellung. Und das stimmt, wenn man sich anguckt, wie mit dem Verbrechen von Erfurt umgegangen wird.

Kaum 36 Stunden nach der Tat hatten sich Medien und Politik gegenseitig zu der Überzeugung hochreagiert, daß Robert Steinhäuser durch Rockmusik, Gewaltfilme und vor allem Computerspiele zu einem Amokläufer geworden war. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung stellte das jahrealte Spiel Counterstrike mit der sachlichen Überschrift „Die Software zum Massaker“ vor, und schilderte, wie man bei den Opfern zwischen Playmobilmännchen und Schulmädchen wählen kann, so, als wären das nicht von einzelnen Nutzer hergestellte Patches, die man sich im Internet besorgen kann, sondern als wären das vom Hersteller vorgesehen Features. Der für Besonnenheit und Ausgewogenheit bekannte bayrische Innenminister Günter Beckstein forderte aus tiefster Überzeugung heraus das Verbot von Computerspielen und machte die ganz sachliche und in keinem Zusammenhang mit der Bundestagswahl zu sehende Aussage, daß Familienministerin Bergmann seit zwei Jahren einen CDU/CSU-Antrag auf Verbot von Gewaltfilmen und Computerspielen ignoriere. Schon vor längerer Zeit, als im Spitzenland Bayern ein Schüler mit dem Gewehr seines Vaters auf Passanten schoß, war in den Fernsehnachrichten die Meldung zu hören, die Polizei habe in seinem Zimmer „Computerspiele und rechtsextreme Schriften“ sichergestellt. Was man aus diesem ganzen Getöse heraushören kann, ist die Aussage: „Jedes Spiel, das auf einem Computer läuft, macht aus jedem Menschen einen Massenmörder“. Das ist eine Diskussion ohne Auseinandersetzungsbereitschaft.

Bei jedem anderen Medium ist man bereit, zu differenzieren. Man spricht nicht von „Filmen“, sondern von „Gewaltfilmen“, man spricht nicht von „Schriften“, sondern von „rechtsextremen Schriften“, man spricht nicht vom „Fernsehen“, sondern von „Gewaltsendungen“, man spricht nicht von „Gewehr“, sondern von „Pumpgun“. Nur Computerspiele sind Computerspiele und sonst gar nichts. Es sei denn, man zeigt die Festlegung auch semantisch an und spricht von „Killerspielen“. Die Differenzierung bei allen anderen Medien zeugt davon, daß man mit ihnen umgegangen ist, sich mit ihnen auseinandergesetzt hat und man dabei die enorme Bandbreite ihrer Erscheinungsform kennengelernt hat. Außerdem hat man dabei einen bestimmten Bereich des Spektrums so schätzen gelernt, daß man nicht mehr auf ihn verzichten möchte, weshalb eine pauschale Kritik des Ganzen nicht mehr in Frage kommt. Computerspiele betreffen scheinbar nur Kinder und Jugendliche, deshalb darf man sich öffentlich nicht dafür interessieren. Einzig der Verbotsdiskurs ist möglich, weil man dabei anzeigen kann, daß man sich nicht dafür interessieren darf. Man kann dann darüber diskutieren, ohne sich damit auseinandersetzen zu müssen.

Daß man das Medium Spielfilm generell schätzt und seine kulturellen Leistungen anerkennt, führt beispielsweise dazu, daß ein rassistisches und ideologisch gewaltverherrlichendes Machwerk wie David W. Griffiths Birth of a Nation gemeinhin als der große Meilenstein des Mediums anerkannt wird. Denn seine erzählerischen Leistungen waren zum damaligen Zeitpunkt bahnbrechend, er zeigte Möglichkeiten auf, die Film über seinen Status als Jahrmarktsvergnügen und Konservierungstechnik für Theaterszenen in den Rang einer Kunstform hoben. Mit dem gleichen Respekt für die künstlerische Leistung unabhängig vom Inhalt wird auch Leni Riefenstahls Triumph des Willens behandelt, wenngleich in Deutschland mit sehr großem Vorbehalt. Auch in der Literatur gilt Homers Ilias als eine der größten Geistesleistungen, die von der Menschheit bisher hervorgebracht wurde, obwohl das Epos doch nur davon handelt, wie die Menschen einer Stadt jahrelang leiden unter einer Belagerung leiden mußten, die durch eine persönliche Eitelkeit begründet wurde, wie einzelne Krieger von ihnen erbarmungslos gehetzt werden und wie schließlich die gesamte Bevölkerung durch Hinterlist abgeschlachtet wird. Der Autor sagt es ganz explizit zu Beginn, es geht nicht um edle menschliche Gefühle, sondern um den reinen Haß, den Zorn des Achilles, um genau zu sein. Und trotz dieser ganzen Brutalität haben wir Hochachtung vor der Leistung, die lange Erzählung erfunden zu haben, die Selbstvergewisserung einer Gesellschaft mittels symbolischer Geschichten, die kunstvolle Sprache, die metaphorische Attribuierung, Synästhesie, Erzählperspektive aus dem Nichts zu schöpfen oder zumindest aus dem religiösen Sprechen herauszulösen und für säkulare Zwecke nutzbar zu machen.

Diese differenzierte Betrachtung unternimmt man vor allem deshalb, weil man sich mit den Medien auseinandergesetzt hat. Das heißt, man hat sie selbst rezipiert und kann deshalb die Folgen eines Konsums aufgrund eigener Erfahrungswerte abschätzen. Und weil man sowieso immer von sich ausgeht, wenn man etwas beurteilt, fällt diese Einschätzung grundsätzlich positiv aus, weil man selbst das für sich überzeugendste Beispiel darstellt, daß kein ursächlicher Zusammenhang zwischen Konsum und Verhalten besteht. Zumindest für die Produkte, die man persönlich schätzt, weshalb man auch alles daran setzt, deren Vorzüge hervorzuheben und auf die Mängel der anderen hinzuweisen. Man will andere überzeugen, will die Entwicklung des Ganzen in bestimmte Richtungen treiben. So etwas nennt sich dann öffentliche Diskussion, weil jeder nach diesen Grundsätzen handelt. Man diskutiert, indem man sich mit den Gegenständen auseinandersetzt. Man sagt nicht, daß Griffiths Birth of a Nation und mit ihm die gesamte Filmindustrie, die auf ihm aufbaut, getilgt werden muß, weil er einige furchtbare Perversionen enthält, sondern man weist darauf hin, was man von seinen Leistungen bewahren sollte, um den ganzen Rest nie mehr in anderen Filmen sehen zu müssen. Andere stimmen zu oder argumentieren dagegen, insgesamt hat es jedoch einen Einfluß auf die Gestaltung zukünftiger Produkte.

Norbert Elias hat dieses Prinzip als den „Prozeß der Zivilisation“ beschrieben, eine historisch voranschreitende Veränderung der dem Menschen innewohnenden Affekte. So wurden die Menschen, die den Göttern geopfert wurden, zuerst durch Tiere ersetzt, um schließlich in Ersatzhandlungen wie Fürbittegebet und karitativem Engagement zu münden. Gleichzeitig fanden die blutigen Rituale eine symbolische Darstellung im frühen Theater, entwickelten sich zur Reflexion über dargestellte menschliche Gewalt im Mittelalter, um schließlich bei den Nichthandlungen moderner Theaterstücke zu landen. Aus Menschenjagd wurde Schauprozeß wurde Sportveranstaltung. Alles das, weil die Menschen sich mit ihrem Tun auseinandersetzten, darüber diskutierten. Über Computerspiele gibt es keine öffentliche Diskussion. Es gibt entweder das plumpe Hochjubeln im Dienste der Industrie, wie es in den unzähligen, grottenschlechten Computerspielzeitschriften passiert, bei denen man zwischen Werbung der Firmen und Redaktionsbeiträgen kaum unterschieden kann, und es gibt das Wegreden, das wir im Moment erleben können. Beide Wege ermöglichen keine Entwicklung, beide zementieren den Status Quo des Mediums. Eine Affektmodulierung der Spieler findet nicht statt, dem Medium wird kein „Prozeß der Zivilisation“ zugestanden.

Im meinungsbildenden Feuilleton sucht man Computerspiele vergeblich. Bestenfalls gelingt es einmal alle zehn Jahre, daß ein Spiel wie Myst ehrfürchtig behandelt wird, weil es sich bezeichnenderweise bei der Literatur anbiedert und also wichtig sein muß. Interessant wäre es allerdings, wenn regelmäßiger Computerspiele wegen ihrer medienspezifischen Leistungen behandelt würden. Am allerwichtigsten aber wäre es, wenn auch Verrisse von Computerspielen erschienen. Wenn Counterstrike so ein furchtbares Spiel ist, warum hat man in den letzten Jahren keine einzige Rezension im Feuilleton lesen können, die auf seine mangelhafte Qualität hinweist? Und zwar nicht, weil es Gewalt darstellt, weil es eine „Ego-Shooter-Perspektive“ benutzt, sondern weil es unoriginell und langweilig ist. Man hätte explizit auseinanderlegen können, warum Doom eine zu einem bestimmten zeitgeschichtlichen Zeitpunkt wichtige und ästhetisch neuartige künstlerische Leistung darstellte, ähnlich Griffiths Birth of a Nation, warum Counterstrike und Half Life, auf dem es aufbaut, allerdings nur ein kosmetisch verbesserter Abklatsch ist, der einem ernsthaften Computerspieler keine wirklich neuen Erfahrungen bietet. Ein solches Feedback würde auf kommende Spiele einen Einfluß haben. So haben Spieler und Hersteller nur die Rückmeldung in Form von Verkaufszahlen und sehen sich ermutigt, immer wieder dieselbe Scheiße zu produzieren. Man kultiviert einen Garten nicht, indem man ihn niederbrennt, sondern indem man alle Pflanzen zurechtstutzt. Diese Kultivierung hätten Computerspiele auch nötig, nicht ein Verbot. Das wäre nur eine inverse Form der Affirmation. Oder, um es ein letztes Mal zu strapazieren, eine Diskussion ohne Auseinandersetzungsbereitschaft.

Bildquellen

  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens