Papers, Please: Lose Notizen über Spiele als nicht-intellektuelle Kritikform

Dass Kritik nicht immer geradlinig ausgesprochen werden muss, um eine Wirkung zu entfalten, beweisen digitale Spiele immer wieder aufs Neue. Ein perfektes Beispiel dafür ist „Papers, Please“. Lose Notizen zu einer nicht-intellektuellen Kritikform von Computerspielen.

Dass Kritik nicht immer geradlinig ausgesprochen werden muss, um eine Wirkung zu entfalten, beweisen digitale Spiele immer wieder aufs Neue. Ein perfektes Beispiel dafür ist Papers, Please, in dem man als Opportunist innerhalb eines totalitären Systems selbst moralisch fragwürdige Entscheidungen treffen muss. Es folgen einige Notizen zur nicht-intellektuellen Kritikform von Computerspielen.

1.

Ein Gespenst geht um im Videospielejournalismus – das Gespenst des Elfenbeinturms. Alle Mächte des alten Videospielejournalismus haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet. Wo ist der Oppositionsjournalismus, der nicht von seinen GegnerInnen als hipsteresk und pseudointellektuell verschrien worden wäre? Einerlei geht aus dieser Tatsache hervor: Es ist hohe Zeit, dass der Elfenbeinturm seine Anschauungsweise, seine Zwecke, seine Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegt und dem Märchen vom Gespenst des Elfenbeinturms ein Manifest des anderen Videospieljournalismus selbst entgegenstellt.

2.

Ja, man könnte meinen, es läge ein modriger Gestank der Verwesung in der Luft, wenn Texte über digitale Spiele wie Papers, Please oder Cart Life erscheinen, die sich nur an deren Gesellschaftskritik abarbeiten und anschließend himmelhoch jauchzend auszurufen scheinen: Hurra! Spiele werden erwachsen! Ganz sicher sogar ist an diesem Vorwurf etwas dran. Allzu oft wirkt es so, als wollten AutorInnen solcher Texte ihr eigenes Spielverhalten damit legitimieren. Das ‚Erwachsenwerden‘ ist mit einer Ernsthaftigkeit, mit einem sozialen Status, mit einem Intellekt verbunden. Wenn Spiele also ‚erwachsen‘ werden, dann vermutlich auch ihre Nutzenden, so der reaktionäre Kurzschluss. Erst kürzlich haben wir mit der Spiegel-Schlagzeile Spielen macht klug öffentlichkeitswirksam bemerkt, wie viel Häme und Spott eine derartige Schlussfolgerung bereiten kann.

3.

Eine tendenzielle Lagerbildung tritt in Kraft, wenn positive Berichte über Spiele, die eine gesellschaftskritische Narration beinhalten, publiziert werden. Zum einen gibt es die BefürworterInnen solcher Texte. Zum anderen existiert fast immer die Gegenpartei, die den entsprechenden AutorInnen entweder vorwirft, dass sie Spiele entweder überinterpretieren, zu ernst nehmen oder aber – und das ist der Punkt, auf den sich dieser Text vorrangig beziehen soll – dass diese Spiele völlig zu Unrecht hochgejubelt werden, da die kritisierten Missstände ja bereits bekannt sind. Bleiben wir bei Papers Please: Dass Zuwanderungsströme in Staaten mit einer monströser Bürokratiemaschinerie nicht gerade ideal und mit größter Menschenliebe gehandhabt werden, sollte bekannt sein. Das ist korrekt.

4.

Wenn also nun ein Text über Papers, Please erscheint, der gerade dieses Narrationskonstrukt hervorhebt, dann kommt leicht eine Variation dieses Vorwurfs, beispielsweise so: ‚Du schreibst, dass Papers, Please ein gutes Spiel sei, weil es sich mit einem gesellschaftlichen Missstand beschäftigt? Was für ein Schwachsinn. Über die Problematik sollte doch jeder halbwegs informierte Mensch im Bilde sein! Und sicher will sich niemand von einem Spiel über etwas belehren lassen, da gibt es doch ganz andere Informationsquellen!‘ Der Vorwurf speist sich damit essenziell aus zwei Punkten: Zum einen soll ein Spiel nicht dieselbe Informationsfülle über etwas bieten können wie beispielsweise ein Buch, ein Zeitungsartikel oder eine Nachrichtensendung. Zum anderen würden Spielende nicht mit einem derartigen Bildungsanspruch an Spiele herangehen. Die Rezeptionshaltung bliebe also die konventionelle: Spiele sind Vergnügen, Unterhaltung, Freizeit. Beide Punkte sind nicht falsch. Sie gehen nur vollkommen an der Realität – nämlich den nicht-intellektuellen Wirkungen der Spiele – vorbei.

5.

Spiele sind in ihrer Medialität keine rein intellektuell funktionierenden.Produkte wie beispielsweise Bücher. Es geht nicht darum, durch die intellektuellen Fähigkeiten Informationen zu einem Sachverhalt (und dabei ist es ganz egal, ob diese in Text-, Bild-, Audio- oder Videoform dargelegt werden) zu betrachten, zu analysieren und anschließend zu interpretieren. Natürlich steht es den ProgrammiererInnen frei, auch diese Informationsformen zusätzlich einzubinden – doch sie sind eben nicht basal für das Medium des digitalen Spiels. Die dem Spiel medial eigene Form der Kritik entfaltet sich nicht durch die intellektuelle Aufnahme von Informationen. Die Kritik entfaltet sich durch das langsame Nachvollziehen der vorgegebenen Strukturen und Ordnungen sowie durch das anschließende Finden einer eigenen Spielstrategie. Damit diese Form der Kritik aber überhaupt fruchten kann, bedarf es bei den Spielenden keinerlei intellektueller, sondern emotionaler Fähigkeiten: Sie müssen empathisch sein. Papers, Please ist dafür ein eindringliches, mittlerweile populäres Beispiel. Das stete Erlernen immer neuer Muster – schließlich werden alle paar Spieltage neue Vorgaben gemacht, wer in den Staat Arstotzka einreisen darf oder wer warum nicht – ist ein elementarer Teil des Spielerlebnisses. Wer die Muster nicht früh genug zu beherrschen weiß, wird vorzeitig ’scheitern‘ und vom weiteren Verlauf ausgeschlossen. Sobald aber diese kritische Lernphase durchbrochen wird, hört das Spielerlebnis nicht etwa auf, sondern intensiviert sich. Ab diesem Zeitpunkt gilt es nämlich für die Spielenden sich langsam aus dem sonst so sicheren Dunstkreis der Vorgaben und Regeln herauszubewegen. Sie müssen eigene Entscheidungen treffen, eine Strategie entwickeln unter Berücksichtigung ihrer eigenen moralischen Vorgaben.

6.

Verhaften sie Menschen mit falschen Pässen, um einige Dollar mehr zu erwerben, oder aber schicken sie diese ’nur‘ weg?

„So from looking at this, I dont need to interrogate anyone till day 18? I hate to think ive been playing the game wrong all this time…“ 1

Trennt man ein vermeintliches Ehepaar voneinander bei der Passkontrolle um die Systemgefälligkeit einzuhalten, oder spricht am Ende doch das Herz?

„When you denied Sergiu’s lover I literally died inside. Cried..“2

„This game is truly beautiful and has it’s own way of going beneath your skin… when she arrived I let her pass…and they reunited and hugged on the other side… it was a truly beautiful moment… almost made me cry…“3

Interessant ist dabei gerade, dass die Spiele nicht einmal vorsätzlich als Kritik geplant sein müssen. Dies ist auch der Fall bei Papers Please: Programmierer Lucas Pope beschrieb in verschiedenen Interviews, dass dies nie der Grundgedanke war:

„I’m trying to avoid making sweeping statements about the good or bad sides of immigration policy.“4

„Only once I had the core mechanics of document checking working well did I start to think about a narrative to tie everything together.“ 5

7.

Spiele entwickeln sich dann zu einer Form der Kritik an etwas, wenn sie moralische Entscheidungen fordern und diese einen starken Kontrast zu ihren Genrekonventionen, spielmechanischen Vorgaben und/oder Regelwerk bilden. Ist diese Grundlage vorhanden, so bedarf es nur noch der Empathie der Spielenden: Wenn das Spiel sie emotional berührt hat und sie daraufhin ihr eigenes Spielverhalten hinterfragen, so werden ihre einzelnen moralischen Maßstäbe relevant. Der virtuelle Spielraum wird abgeglichen mit den eigenen Ansichten. Tauchen dabei für die Spielenden Momente auf, die sie aufwühlen und mit Fragen zurücklassen, so denken sie darüber nach, was sie stört. Die Thematik des jeweiligen Spiels wird damit zum Gegenstand einer Kritik. Die Spielenden werden sich darüber mit anderen Spielenden austauschen und es entsteht ein Diskurs. Das Spiel kann so als eine nicht-intellektuelle Form der Kritik fungieren.

8.

Damit man mich nicht missversteht: Dieser Text dient nur als medienwissenschaftliche Kurzanalyse des Potenzials von Spielen, nicht als eine Bewertung von derartig konzipierten Spielen selbst. Weder sind Spiele, die etwas kritisieren, automatisch die qualitativ ‚besseren‘ Spiele, noch ist diese nicht-intellektuelle und damit abstraktere Form der Kritik ein Ersatz für die faktenbasierte. Diese Kritikform ist eine Holzschlaghammermethode, die mitten auf das Herz abzielt – was in meinen Augen nicht ansatzweise verwerflich ist. Daher möchte ich all jenen, die sofort nach der Publikation eines positiven Textes für solche Spiele keifen, man solle doch mal die pseudoakademische Brille absetzen zurufen: „Es ist nicht der Elfenbeinturm, der solche Texte schreibt. Es ist die Empathie.“

  1. https://www.youtube.com/watch?v=DWvzPU2sgsM
  2. https://www.youtube.com/watch?v=DWvzPU2sgsM
  3. https://www.youtube.com/watch?v=DWvzPU2sgsM
  4. pixelenemy.com, 2013
  5. reason.com, 2013

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