Prometheus, Leda und der Schwan – Über Sexismus in der Schule
Wie man Kuchenstücke wie eine echte Hausfrau verpackt, erklärt heute Sarah Kindermann. Was sie sonst noch Praktisches über ihre Rolle als Frau in der Schule gelernt hat, erzählt sie auch.
Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöh’n!
Mußt mir meine Erde
Doch lassen steh’n,
Und meine Hütte,
Die du nicht gebaut,
Und meinen Herd,
Um dessen Glut
Du mich beneidest.
In der Schule hatte ich einen Deutschlehrer, der sagte, wenn er vor einer Unterrichtsstunde den Raum betrat, den Namen einer Schülerin oder eines Schülers und diese Person musste dann die erste Zeile aus dem Aufruf von Theodor Körner zitieren:
„Frisch auf mein Volk, die Flammenzeichen rauchen.“
Erst dann durften wir uns setzen. Die Klasse ließ die Beweggründe, sich im Jahre zweitausendund täglich völlig zusammhangslos ein derart nationalistisches und misogynes Gedicht anzitieren zu lassen, unhinterfragt. Als wir aber einmal darum baten, beim Zitieren wenigstens sitzen bleiben zu dürfen, entgegnete unser Lehrer, wir würden ja wohl auch nicht einfach sitzen bleiben, wenn Präsident Obama jetzt den Raum beträte. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich auch angesichts eines Präsidenten lieber sitzen geblieben wäre, aber das sagte ich nicht laut.
Mein Verhältnis zu meinem Deutschlehrer war gespalten.
Die Vergewaltigung Ledas
In der zehnten Klasse las unser Deutschlehrer mit uns das Gedicht Leda und der Schwan von Rainer Maria Rilke. Es geht darin um den griechischen Gott Zeus, der unbedingt mit Leda schlafen will; und um Leda, die nicht mit Zeus schlafen will. Zeus verwandelt sich daraufhin in einen Schwan und vergewaltigt Leda, „halsend durch die immer schwäch’re Hand“.
Am Ende der Stunde verkündete unser Deutschlehrer, dass jede*r in der Klasse das Gedicht auswendig lernen und die Rezitation benotet werden sollte. Ich mochte Leda und der Schwan nicht. Irgendetwas an dem Gedicht kam mir komisch vor, aber so richtig in Worte fassen konnte ich das nicht. Ich wusste, dass mir die Vorstellung, vor meinem Deutschlehrer zu rezitieren, wie „der Gefiederte sich in die Geliebte los [ließ]“, äußerst unangenehm war. Ich fand es nicht OK, dass man sich in Leda los ließ, obwohl sie das nicht wollte.
Ich kann mir nicht erklären, warum es in unserer Klasse keine Diskussion darüber gab, ob das in Ordnung ist, was da beschrieben wird und wie wir das finden. Dass stattdessen ein erwachsener Mann entschied, sich die Vergewaltigung Ledas von etwa zwanzig minderjährigen Schüler*innen aufsagen zu lassen und das dann zu benoten. Mir fällt nichts ein, was daran nicht eigenartig wäre.
Gemeinsam mit einer Freundin habe ich meinen Deutschlehrer gebeten, etwas anderes rezitieren zu dürfen. Es war mir peinlich, danach zu fragen. Ich musste in Worte fassen, was mich an dem Gedicht störte, ohne Worte wie Sex, Missbrauch oder Vergewaltigung zu verwenden. Denn über solche Sachen möchte man nicht mit dem Deutschlehrer reden, vor allem nicht als pubertierendes Mädchen.
Nackte Götter
Mein Lehrer zeigte sich beleidigt und gab uns das Gefühl, wir hätten nicht das Recht, derartige Forderungen zu stellen. Zuerst drohte er mit null Punkten. Dann, in einem Anflug vermeintlicher Großzügigkeit, bot er der Klasse an, wahlweise auch Goethes Prometheus zu zitieren. Da Prometheus um Einiges länger war als Leda und der Schwan, blieben viele beim ersten Gedicht. Augen zu und durch. Guter Tipp auch für Leda und fürs weitere Leben, danke dafür.
Meine Freundin und ich haben Prometheus rezitiert.
„Passt ja auch thematisch“, meinte sie kürzlich, „geht schließlich auch um einen nackten Gott.“
Ich frage mich, ob sich mein Lehrer bewusst für ein Gedicht entschieden hat, in dem die Arroganz der Götter, die sich für überlegen halten und anderen bestimmte Rechte und Privilegien vorenthalten, angeprangert wird.
War ja nur Spaß
Ich wusste nicht, an wen ich mich noch hätte wenden sollen mit der Frage, ob Leda wirklich keine andere Wahl hatte, als sich von Zeus vergewaltigen zu lassen, weil der es so entschieden hatte; und ob ich wirklich keine andere Wahl hatte, als die Vergewaltigungsszene vor meinem Deutschlehrer zu rezitieren, wenn er es so entschied. Mir war unklar, wie und wem ich mein Problem hätte erklären sollen und ich befürchtete, mein Deutschlehrer könnte einen etwaigen „Verrat“ meinerseits mitbekommen. Ich hatte Angst, Ärger zu bekommen oder eine schlechte Note, oder Ärger und eine schlechte Note. Mir fiel kein*e Lehrer*in ein, die*r sich um meinetwillen mit meinem Deutschlehrer angelegt hätte und ich wusste zumindest von unserem Oberstufenberater, dass er bei jeder sich bietenden Gelegenheit frauenfeindliche Sprüche auf seine Klassen losließ, ohne damit größeres Aufsehen zu erregen.
Mit Schülerinnen pflegte er lediglich dann einen höflichen Umgang, wenn sie besonders gut in naturwissenschaftlichen Fächern waren (eine weitere Lektion: Du musst immer außergewöhnliche Leistungen erbringen, um dieselbe Anerkennung wie deine männlichen Kollegen zu bekommen). Einige lachten mit dem Oberstufenberater, andere lachten über ihn (natürlich heimlich). Niemand kam auf die Idee, sich über seine sexistischen Witze und Kommentare zu beschweren. War ja nur Spaß. Musste man ja nicht dramatisieren. Und wichtiger: nicht schlechte Noten riskieren, indem man jemandem auf den Schlips tritt.
Ich ging zur Schule in einer sächsischen Kleinstadt. Der Lehrplan beinhaltete keine antirassistische oder antisexistische Aufklärung. Ich lernte nicht, was Sexismus, Rassismus und andere -ismen sind, woran ich sie erkenne, wie ich darüber sprechen und was ich dagegen tun kann.
Was ich lernte war, dass man die Entscheidungen der Lehrer*innen besser nicht hinterfragt.
Dass meine Schulnoten von meiner Gefügigkeit abhängig sind. Dass die Qualität meines weiteren Lebens von meinen Schulnoten abhängig ist. Dass folglich mein Leben von der Aufrechterhaltung der fragilen männlichen Egos sexistischer Kleinstadtlehrer abhängig ist.
Die besten Witze des Jahres
Ich habe 2009 mein Abitur gemacht. Das ist acht Jahre her. Fünf Jahre später hat meine Schwester ihr Abitur an derselben Schule gemacht. In ihrem Abiheft wurden die lustigsten Zitate aus zwei Jahren Oberstufe gesammelt. Darunter:
„Ich kann mir keine Namen von Schülerinnen merken, ich kann mir nur merken, wie sie aussehen und ob sie gut waren.“
und:
„Jetzt sagen sie wieder, der hat was gegen Frauenbewegungen – ganz und gar nicht, solange, wie sie rhythmisch sind.“
Zwei Sprüche des Oberstufenberaters, nicht die einzigen dieser Art. Zeugnisse von gelebtem Sexismus in Form von schlechten Witzen – und zwar lediglich die Witze, die als „gut“ genug erachtet wurden, um im Abiheft abgedruckt zu werden.
Eine Schule, die duldet, dass ein Oberstufenberater bei allen bekannt ist für seine frauenfeindlichen Witze und dafür noch Beifall erhält, hat ein massives Sexismusproblem.
Eltern, die dulden, dass ihre Töchter in der Schule derartig sexualisiert werden und dass ihnen vermittelt wird, sie seien weniger wert als ihre männlichen Mitschüler, scheuen wohl die Auseinandersetzung. Oder sind selbst Männer, die über sexistische Witze lachen, selbst wenn es dabei um ihre eigene Tochter geht.
Als ich beim Abiball meiner Schwester die sexistischen Witze in ihrem Abiheft kritisiere, schlägt mir am Familientisch das alte Klischee entgegen, ich kenne es bereits aus meiner Schulzeit: Ich verstehe keinen Spaß, wenn ich über sexistische Witze nicht lachen kann. Ich sollte nicht so sensibel sein. Maaan, bin ich heute wieder empfindlich, ich suche ja regelrecht nach Sachen, über die ich mich aufregen kann. Boys will be boys oder so ähnlich.
Mit diesen Informationen als junge Frau heranzuwachsen und in die Welt geschickt zu werden, ist schädlich. Jegliche Form des Widerstandes gegen empfundene Ungerechtigkeiten ist für immer verbunden mit der Angst, „überzureagieren“, als „schwierig“, „zickig“, „überemotional“, „Spielverderberin“, „Spaßbremse“ zu gelten.
Vom empfindsamen Mann
Über sexistische Witze nicht lachen, das geht nicht, denn das männlich Ego ist so zart und empfindsam, dass es das nicht verkraften kann. Oder, noch schlimmer: Ein sexistischer Witz, der als nicht lustig bezeichnet wird. Oder, noch viel schlimmer: Ein sexistischer Witz, der als sexistisch bezeichnet wird.
Alle müssen jeden Tag zusammen daran arbeiten, das männliche Ego vor dem totalen Zusammenbruch zu bewahren. Alle müssen immer ein Taschentuch bereit halten, um dem fragilen männlichen Ego die Tränen zu trocknen.
Als Schülerin war ich ehrlich gesagt schon genug mit Mathelernen beschäftigt, meine Lehrer vor Beleidigung zu schützen, war da eher eine lästige Nebenaufgabe. Und ich habe so ungefähr acht Jahre gebraucht, um zu merken, dass es nicht das Allerschlimmste ist, wenn ein Mann beleidigt ist, weil ihm Sexismus vorgeworfen wird. Das männliche Ego ist nicht meine Baustelle. Ich bin nicht der überempfindliche Part in dieser Diskussion.
Ich hatte das Glück, nach der Schule von Menschen umgeben zu sein, die mir zeigten, dass die Anerkennung von Autoritäten nichts Obligatorisches ist. Dass ich mich wehren darf, kann und soll, wenn mir Unrecht getan wird. Aber um mich zu wehren, muss ich erkennen, wann das der Fall ist. Und als heranwachsende Frau hätte ich dazu Unterstützung benötigt. An dieser Stelle hat meine Schule versagt und tut es auch heute noch. Sie ist sicherlich keine Ausnahme.
Das Sexismus-Maskottchen
Es wäre doch schön gewesen, wenn da eine Ansprechperson gewesen wäre, ein Vorbild, vielleicht auch ein kleines Maskottchen in Form einer kleinen Eidechse mit Boxhandschuhen, das mich immer mal wieder daran erinnert hätte: Hallo, das ist übrigens Sexismus. Das musst du dir nicht bieten lassen. Ich hätte gern gewusst, dass ich mich nicht darum hätte sorgen müssen, wer mich für „hysterisch“ hält oder sich von mir auf den Schlips getreten fühlt, dass ich stattdessen noch lauter hätte sein dürfen. Dass es nicht meine Aufgabe ist und es niemals meine Aufgabe hätte sein sollen, die Egos mittelalter weißer Männer zu pflegen, indem ich ihnen das Gefühl gebe, unfehlbar zu sein.
Ich dich ehren? Wofür?
Dass ich, als der Bruder des Deutschlehrers (ebenfalls Deutschlehrer) mir am Tag der offenen Tür am Kuchenstand erklärte, wie ich ein Stück Kuchen richtig verpacke, weil ich das „als gute Hausfrau mal brauche“, dieses Stück Kuchen mit der flachen Hand hätte zerklatschen sollen. Erstens, weil ich nicht ein Schulsystem zerklatschen kann, das sexististische Ressentiments zumindest nicht unterbindet. Zweitens, einfach so. Ich habe einfach keine Lust mehr, nett zu sein.
Liebe Lehrer, keine Ahnung, wie man Kuchenstücke hausmanngerecht verpackt, echt nicht. Ich tippe lieber den ganzen Tag Gleichberechtigungsfantasien in meinen Computer. Ich träume von starken, jungen Frauen, die sich mehr trauen, als ich damals und euch mal so richtig, richtig auflaufen lassen. Von jungen Frauen, die euch euer paternalistisches Ich-meine-es-doch-nur-gut-und-außerdem-war-es-nur-ein-Witz-um-Gottes-Willen-jetzt-habt-euch-nicht-so-Getue um die Ohren hauen und dann noch vielen weiteren Männern, die nach euch kommen werden.
Hier sitz‘ ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, zu weinen,
Zu genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich!
Bildquellen
- Heinrich Lossow Leda und der Schwan: Wikimedia Commons, dem freien Medienarchiv
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