Retro Games: Through a rear-view mirror

Alle Games sind Retro Games. Die Vergangenheit wurde nie verlassen. Kulturwissenschaftler Christian Huberts über den Blick zurück.

„Konfrontiert mit einer vollkommen neuen Situation neigen wir immer dazu, uns an die Dinge und die Atmosphäre der jüngsten Vergangenheit zu klammern“, hat der kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan geschrieben. So wird seit 1868 das QWERTY-Tastaturlayout benutzt, obwohl es längst effizientere Alternativen gibt. Vinyl erobert die Musikanlagen mit Haptik und einem warmen Knistern zurück. Digitale Filme verwenden künstliches Rauschen, um die gewohnte Körnung analoger Filme zu simulieren. E-Books imitieren papierne Bücher, ohne das Möglichkeitsspektrum moderner Medien ansatzweise auszunutzen. Betriebssysteme tun bis heute so, als wären sie Schreibtische – mit Dokumenten, Aktenordnern und Papierkorb. Und Computerspiele orientieren sich seit mehr als 40 Jahren an den Grundprinzipien, die eine Handvoll Ingenieure, Informatiker, Physiker und Geschäftsleute anfangs etabliert haben. „Wir sehen die Gegenwart im Rückspiegel. Rückwärts marschieren wir in die Zukunft“, so McLuhan.

Dass unter den Spielenden dennoch das Gefühl stetiger Progression vorherrscht, hängt damit zusammen, dass es Computerspielen an Geschichte mangelt. Anders als in älteren Medien, fehlen den digitalen Spielen die großen Revolutionen, Umbrüche und – man entschuldige das Wortspiel – game changer. Die Literatur hat tausende Jahre des kontinuierlichen Wandels hinter sich. Jede Literaturepoche definierte neu, was Literatur ist und was sie leisten kann oder soll. Ein Ende der Neudefinitionen ist nicht in Sicht. Selbst der vergleichsweise jugendliche Film kann bereits auf einige tiefgreifende Veränderungen in seiner Historie zurückblicken – besonders abseits rein technischer Innovationen. Das Computerspiel scheint ebenso schon immer da gewesen zu sein, schließlich sind die meisten Spielenden damit aufgewachsen. Aber wenn wenige Jahrzehnte als Referenzrahmen für Fortschritt herhalten müssen, wird schnell klar, warum selbst kosmetische Updates als absolute Neuheit durchgehen können.

Proto-Games

Am 6. Oktober 1951 versetzte der Nimrod-Computer der englischen Firma Ferranti den damaligen Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard in Erstaunen. Auf der Berliner Industrieausstellung besiegte ihn das „Elektronen-Gehirn“ dreimal in Folge in einem einfachen Streichholz-Wegnehm-Spiel. Konrad Adenauer schaut aus sicherer Distanz zu. Ein riesiger, „denkender“ Kasten schürt sowohl Neugier als auch Berührungsangst. Die frühsten Computerspiele dienten daher der Demonstration von Technologie. Wo der Nimrod den verblüfften Laien in mathematischer Logik überflügelte, zeigte „Tennis for Two“ 1958 eine zivile Anwendung für Analogcomputer, die sonst eher die Flugbahnen von Atomraketen als von Filzbällen berechneten. Auf dem PDP-1 am Massachusetts Institute of Technology wurden physikalische Berechnungen anschaulich als Weltraumschlacht zweier Raumschiffe inszeniert. „Spacewar!“ nannte sich das und war so etwas wie das erste Shoot ‘em Up. Das erste Text-Adventure „ADVENT“ war derweil ein Network-Routing-Problem verpackt als fantastische Höhlenerkundung. Computerspielen hieß Logik, Mathematik und Simulation zu spielen und damit grundlegend zu verstehen.

Auch wenn digitale Spiele heute viel komplexer sind, das Erbe der Vergangenheit ist noch deutlich spürbar. Etwa bei der „Crysis“-Serie, wo jedem klar sein sollte, dass die Leistungsdemonstration neuster Hard- und Software im Vordergrund steht und inhaltliche sowie spielerische Innovationen quasi nicht vorhanden sind. Aber auch der Löwenanteil aller anderen Spiele dreht sich fast ausschließlich um die optimale Konfiguration von Variablen, um logische Entscheidungen und um perfekte Simulationen. Eben genau jene Arbeitsbereiche für die Computer ursprünglich konstruiert wurden – meist in wissenschaftlichen und/oder militärischen Zusammenhängen. „Unterhaltungsindustrie ist in jedem Wortsinn Mißbrauch von Heeresgerät“, ist daher ein vielzitierter Satz des Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler. Tatsächlich scheint die Definition von Computerspielen selbst ausnahmslos an den Kriterien wissenschaftlicher Versuchsdesigns und militärischer Anwendbarkeit orientiert zu sein: Messbarkeit, Effizienz und ein eindeutiges Endergebnis. Das ist so, weil es schon immer so war. Aber nur, weil es in der gesamten – kurzen! – Geschichte des Computerspiels so war, muss es nicht immer so bleiben.

Paleo-Games

Wer zumindest Computerspiele selbst als innovativen Gegenstand sehen möchte, wird ebenso enttäuscht sein. Natürlich ist das Spielen am Computer etwas Neues. Was wir spielen und wie wir es spielen ist jedoch ebenso Teil bedeutend älterer Traditionen, die nur selten hinterfragt werden. Der Professor für Medientheorie und Mediengeschichte Claus Pias macht in seinem Buch Computer Spiel Welten gleich eine ganze Reihe von Beispielen ausfindig, die noch längst keine Computerspiele sind, aber im Kern schon fast genauso funktionieren. So gibt es bis zur Perfektion optimierte Bewegungsabläufe und Speedruns nicht erst seit „Demon’s Souls“ und „Super Mario Bros.“, sondern schon in der Fabrikarbeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Arbeitswissenschaft um Frederick Winslow Taylor und Frank Bunker Gilbreth bemühte sich mit den selben Strategien um gesteigerte (Arbeits-)Leistung am Fließband, wie manches Computerspiel. Tutorials, Move-Listen, Speedrun-Walkthroughs und Flow-Zustände hat sich das Computerspiel aus der tayloristischen Arbeitswelt geliehen. „Wir stülpen neuen Inhalten alte Formen über. Wir haben nichts gelernt“, so Marshall McLuhan.

Schnelle Reaktionen werden nicht nur bei „Call of Duty“ abgefragt, sondern ebenso in der Experimentalpsychologie des 19. Jahrhunderts. Nur ruht der Finger hier nicht auf dem Joypad-Button, sondern auf dem Telegraphentaster. Zu spät auf einen virtuellen Terroristen reagiert und die körperliche Gesundheit ist bedroht. Zu spät auf eine Signallampe reagiert und die geistige Gesundheit steht in Frage. Im Zuge des Ersten Weltkriegs navigierten US-amerikanische Rekruten wie bei „Pac-Man“ durch Labyrinthe – unter Zeitdruck mit einem Bleistift auf Papier. Männer mit einer „high-score“ bei diesen so genannten Army Mental Tests kamen einen Level weiter – Richtung Kriegseinsatz. Die strategische Seite des Krieges treibt nicht erst die eSport-Szene um, sondern auch schon preußische Offiziere vor knapp 200 Jahren. Nur fand das „Kriegsspiel“ dort auf Holztischen mit modularen Landschaften des Barons von Reiswitz statt und nicht im virtuellen Kommandostand von „R.U.S.E.“. Und wer die Entscheidungsbäume in „The Walking Dead: The Game“ für komplex und moralisch zwiespältig hält, sollte sich mal die Flussdiagramme zum „roten Denken“ aus dem Kalten Krieg anschauen. Wo in der Zombie-Apokalypse die Paranoia der Überlebenden gegenüber möglicherweise Infizierten thematisiert wird, spielten die USA mit der Computersimulation AGILE-COIN das Verhalten ganzer kommunistischer Nationen durch. Schließlich könnte jeder unbemerkt von einem Zombie gebissen worden sein oder ist ein Kommunist. Damals wie heute.

Not-Games

Mehr durch Zufall als durch Vorsehung haben sich also alte (Spiel-)Formen und neue Technologien zu dem zusammengefügt, was heute gemeinhin als Computerspiel bezeichnet wird. Wie sehr sich diese Willkür dennoch als allgemeine Definition etabliert hat wird immer dann deutlich, wenn sich digitale Spiele anmaßen, tatsächlich neue Wege einzuschlagen. „Mountain“, ein kontemplatives Experiment ohne klares Ziel: „Not a game!“ Depression Quest“, ein Text-Adventure über Depressionen statt Dungeons: „Not a game!“ Jede Abweichung von der vermeintlichen Norm wird vom harten Kern der Spielenden als unverzeihliche Grenzverletzung gegenüber dem Lieblingshobby interpretiert. Kein neues Phänomen: Als sich beispielsweise im 18. Jahrhundert der Aufklärungsanspruch von Literatur langsam zu Gunsten von großen Gefühlen und populärer Unterhaltung verwässerte, sprach manch ein zeitgenössischer Experte vom „Hochverrath an der Menschheit“. Unkontrollierte Sexualität, Lethargie und Blähungen seien – besonders bei der empfindlichen Jugend – die unweigerliche Folge dieser unerhörten Veränderungen. Zustände also, wie in manchem Gamer-Forum. Denn der größte Wiederstand gegen die Fortentwicklung von Computerspielen kommt schon lange nicht mehr von außen, sondern von innen.

Die Forderung des belgischen Künstlerkollektivs Tale of Tales nach „notgames“ könnte als stilles Zugeständnis an die rigide Definition von Computerspielen interpretiert werden, ist aber das genaue Gegenteil. Auriea Harvey und Michaël Samyn verstehen den Begriff als Herausforderung an Entwickler: Können wir Computerspiele machen, die alles hinter sich lassen, was als obligatorisch für Computerspiele gilt? Wie sehen digitale Spiele ohne High-Score-Jagd, trial & error und klare Zielstellung aus? Lässt sich noch mehr ausmessen als unsere Geschicklichkeit, Reaktionsgeschwindigkeit und die Fähigkeit zum logischen Denken? Mit Spielen wie „The Path“ oder „Bientôt l’été“ haben Tale of Tales selbst schon bewiesen, dass so etwas möglich ist und dafür ebenso viel überschwängliches Lob wie beißende Kritik geerntet. „Der Amateur kann es sich leisten zu scheitern“, so McLuhan. Es ist eine große Ironie, dass der Fortschritt des Computerspiels meist dort am größten ist, wo am lautesten gespottet wird. Hardcore-Gamer haben sich mit ihrem Expertenwissen hingegen gehörig verzettelt. Jeder harte Kern favorisiert das Bekannte und verschmäht die allzu große Veränderung. Die 1337 ist zur größten konservativen Kraft in der Spielkultur geworden, die mit ihrem FUN-damentalismus tiefgreifende Innovationen ausbremst. „Der Profi klassifiziert und spezifiziert und akzeptiert damit unkritisch die Grundregeln der Umwelt“, so McLuhan weiter.

Retro Games

Selbst wenn alles ganz neu aussieht und auf Hochglanz poliert ist: In Wahrheit werden Retro-Games gespielt. Auch das vierte „DOOM“ wird einerseits eine Verbeugung vor dem gleichnamigen Klassiker und andererseits eine unbewusste Nachahmung der noch viel früheren Vergangenheit sein. Trotz modernster Engine und Millionenbudget werden die Spielenden wieder unter Zeitdruck durch die Labyrinthe der Army Mental Tests navigieren, sie werden erneut auf Signale mit dem Druck auf den Telegraphentaster reagieren und sie werden ihre Entscheidungen und Bewegungen wie üblich arbeitswissenschaftlich auf Höchstleistung trimmen. Das, was in der offiziellen Wahrnehmung als Retro-Games gilt, ist derweil nur die sichtbare Spitze des Eisbergs. Pixel, Chiptunes und Permadeath sind die eindeutigsten Bekenntnisse zur Vergangenheit. Und gleichzeitig erscheinen sie wie eine Selbstvergewisserung, wie ein bewusst gewählter Kontrast zum State-of-the-Art, der sowohl die Frühgeschichte des Mediums liebevoll verklärt als auch die großen Schritte aufzeigt, die seither vermeintlich getan wurden.

Wenn ein Computerspiel wie „Shovel Knight“ auf moderne Grafik, HiFi-Sound und andere kosmetische Details verzichtet, dann wird das als großer Gewinn gefeiert, als Rückkehr zu einer reineren Form. Aber verzichtet „Gone Home“ auf Waffen, „Dear Esther“ auf Herausforderung oder „Proteus“ auf ein Ziel, so legen die kritischen Reaktionen tatsächlich einen Hochverrat nahe. Der Blick ist gerichtet auf das, was jetzt fehlt, die etablierten Gameplay-Elemente. Was neu ist, was hinzugewonnen wurde und was wirklich anders ist, wird in der Fixierung auf die Vergangenheit übersehen. Der Rest ist Angst vor Veränderung, davor, dass die lieb gewonnenen Kindheitserinnerungen ersetzt werden. Durch neue Computerspiele, die nicht mehr wie die alten sind. Digitale Spiele, die ein Neulernen und Offenheit für fremde Erfahrungen erfordern. Die gute Nachricht ist, dass die Vergangenheit der Computerspiele nicht einfach verschwinden wird. Auch heute noch lesen Menschen griechische Epen. Und die schlechte Nachricht ist eigentlich gar nicht schlecht: Computerspiele werden sich früher oder später von ihrer Vergangenheit lösen. Die Frage, was Computerspiele sind, was sie für uns leisten können oder sollen wird noch lange ungeklärt bleiben. Um Marshall McLuhan ein wenig aus seiner Zeit zu reißen: „Computerspiele sind alles, womit man durchkommt!“

 

Dieser Essay erschien ursprünglich in der Ausgabe Nr. 6 des WASD-Bookazines.

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