The sun always shines on tv

The Sun always shines on TV: Ein Krankenwagen ist ein Krankenwagen ist ein Krankenwagen – Die hohe Kunst der Reportage

In Mathias Mertens historischer Fernsehkolumne The Sun always shines on TV geht es heute um Reportagen im Fernsehen. # 18 (18. Februar 2001)

Wenn man endlich irgendwann nach Jahren der Aufforderung der Eltern nachkommt und die zuhause eingemotteten Sachen der eigenen Vergangenheit sichtet, um zu bestimmen, was bleiben muß und was gehen darf, stößt man unweigerlich auf Schulbücher. Man beginnt, sich langsam durchzuarbeiten, blättert in Mathematik- und Physikbüchern, die einem trotz aller Lebenserfahrung und Erwachsenenseins immer noch unverständlich sind, man erkennt die abgegriffenen und eingerissenen Seiten im Biologiebuch der fünften Klasse, wo die sekundären Merkmale des anderen Geschlechts in Farbphotographie präsentiert werden, man erkennt sofort die Münzporträts und Marmorbüsten berühmter Männer in Geschichtsbüchern, bei den Bildunterschriften allerdings herrscht weiterhin Leere im Kopf. Schritt für Schritt bewegt man sich rückwärts und kommt schließlich am Ursprung an. Der Grundlage allen Wissens. Dem Beginn gesellschaftlicher Existenz. Meine Fibel steht auf dem Umschlag, und es handelt von Hans und Suse, der Sonne, dem Ranzen und der Mutter. „Hans geht in die Schule. Geht Hans in die Schule?“ Unsere Welt baute sich auf Subjekt, Prädikat und gelegentlichem Objekt auf. Aber niemals mehr. „Hans geht. Suse geht. Die Mutter geht. Suse Suse Suse Suse. Hans Hans Hans Hans.“ Daneben Bilder von Hans und Suse.

In dieser Woche gab es einen weiteren Mordanschlag in Israel. Ein Palästinenser raste mit einem Bus in eine Gruppe wartender Israelis. Die 18:30-Nachrichten von SAT 1 schalteten auf einen Beitrag ihrer Korrespondentin in Israel, die den ganzen Tag eine Reportage über das Geschehen gedreht, geschrieben, komponiert hat. Denn nur so läßt sich das Unfaßbare, das Singuläre und das über alle Vorstellungskraft hinausgehende Geschehen fassen. Wir sehen Aufnahmen vom Unglücksort, überall sieht man noch Spuren des Anschlags. Dazu der Kommentar: „Der Unglücksort. Überall sieht man noch Spuren des Anschlags.“ Dann ein Schnitt auf verzweifelt weinende Menschen. Die Korrespondentin erläutert: „Verzweifelt weinende Menschen.“ Ein fahrender Krankenwagen wird mit Kameraschwenk abgefilmt, dazu der Satz: „Krankenwagen rasen heran.“ Und so geht es noch einige Bilder weiter.

Was sagt uns diese Reportage? Ist der Informationsgehalt dieser Bild-Text-Kombination größer als das, was uns die Anmoderation des Beitrags bereits gesagt hat? In gewisser Weise ja. Die Bilder und die Reporterin vermitteln uns, daß etwas tatsächlich geschehen ist, daß es sich nicht nur um Hörensagen handelt. An diesem Punkt bleibt die gemeine Fernsehreportage allerdings stehen. Die Möglichkeiten, die daraus ergeben, daß die Bilder schon offensichtlich sind und man deshalb im Text Anderes und Neues hinzufügen kann, werden nicht genutzt. Bilder und Text sollen sich nur gegenseitig stützen, so wie es das Bild von Hans und die Buchstabenfolge Hans in unserer Fibel getan haben. Und ebenso wie dort das Bild nur ein Hilfsmittel war, um die wichtigere Schriftrepräsentation durchzusetzen, ist das Fernsehen nur ein Radio, das sich voraussetzungsloser und damit einfallsloser geben kann.

Man mache den einfachen Test und drehe den Ton bei der Tagesschau weg. Man sieht die Bilder und weiß doch nicht, was sie diesmal illustrieren sollen. Man erkennt allerdings plötzlich die Muster. Den Rhythmus von Gebäudeansichten, Autoankünften, Statements in Mikrophonsträuße vor Eingangstüren, Archivmaterial, Statements auf Pressekonferenzbühnen, Grafiken, Reporterstatement in die Kamera. Dreimal hintereinander in derselben Sendung. Immer gleich. Es sind zwar immer Bilder vom Ort des Geschehens, sie sind raumzeitlich genau fixiert und authentisch, sie erzählen allerdings nichts. Der Krankenwagen, der in Israel zum Tatort rast, die weinende Frau, sie könnten auch woanders aufgenommen worden sein, zu verschiedenen Zeiten. Wladimir Pudowkin berichtet, wie sein Lehrer Lew Kuleschow einen Film beschrieb, in dem ein Mann gezeigt wird, der von links nach rechts, ein anderer Mann, der von rechts nach links durchs Bild geht, in dem ein weißes Haus von weitem gezeigt wird, dann eine Treppe in Nahaufnahme und dann ein Treffen dieser beiden Männer vor der Treppe. Die beiden ersten Aufnahmen entstanden in verschiedenen russischen Städten, das weiße Haus steht in Amerika und die Treppe befindet sich in Paris. Völlig egal, die Story ist da. Selbst wenn die Bilder authentisch wären, im Film verliert jedes Bild seine Herkunft und ordnet sich in den Gesamtzusammenhang ein.

https://www.youtube.com/watch?v=4uS640N2gNE

Man wird im Fernsehen niemals einen echten Kommentar zu Bildern sehen. Einen Kommentar, der uns nicht nur bestätigen will, daß wir sehen, was wir sehen, sondern der uns fragt, ob wir wirklich sehen, was wir sehen. Einen Kommentar, der uns darauf aufmerksam macht, was wir gerade alles nicht sehen können. Einen Kommentar, dessen Inhalt nicht nur die Erleichterung ausdrückt, daß man Bilder hat machen können, sondern der seinen eigenen Augen nicht traut und versucht, ein Ereignis tatsächlich zu rekonstruieren, zu erklären, wie die Bilder in dieser Form zustande kommen konnten. Das hat nichts mit komplizierten Gedankengängen zu tun oder mit schwieriger Sprache, es hat nur etwas damit zu tun, ob man verstanden hat, was geschehen ist. Komplizierte Sprache weist meistens darauf hin, daß man etwas nicht richtig verstanden hat und das wortreich kaschieren muß. Fibeldeutsch dagegen zeigt an, daß man überhaupt gar nicht versucht hat, zu verstehen, sondern daß man nur nachbuchstabieren kann.

Den State-of-the-art der Reportagekunst soll man zur Zeit im aufwendig lancierten Magazin zdf.reporter bewundern können. Die Reporter war leider schon von RTL 2 für gediegene Tittenfilmerei und Komasauftests besetzt, deshalb mußte man auf einen internetoiden und damit modern wirkenden Titel ausweichen. Die reporter@zdf.reporter haben mehr Zeit als ihre Kollegin bei SAT 1, was sie dazu nutzen, genau dasselbe über einen längeren Zeitraum zu machen. Es ist ein Zelebrieren der Tatsache, daß eine Kamera vor Ort ist. Der Kommentar weist uns ständig darauf hin. Wir sehen die Männer vom Technischen Hilfswerk, der Kommentator erklärt uns, daß wir die Männer vom Technischen Hilfswerk sehen. Wir sehen die Menschenschleuser auf dem LKW-Parkplatz, der Kommentator erklärt uns, daß wir die Menschenschleuser auf dem LKW-Parkplatz sehen. Keine Nebensätze. Keine Partizipialkonstruktionen. Adjektive nur, wenn sie dramatisch eingerahmt werden können. Zeit wird von den reportern@zdf.reporter allerdings benötigt, um die Kamera zu präsentieren. Da wird gewackelt, da wird es unscharf, da gibt es Reißschwenks, da gibt es Leute, die ihre Hand auf die Linse halten oder die Kamera nach unten reißen. Ausführlich. Dafür wird eine Menge Geld ausgegeben.

Fernsehreportagen zeigen uns das Investigative. Den Akt des Recherchierens als Inhalt des Films. Das Thema ist nur ein Aufhänger und wird zur Staffage. Bei jedem Medium gibt es irgendwann diesen Punkt, an dem es selbstreflexiv wird, sich seiner Mittel versichern möchte und ideologiekritisch auf seine eigenen Voraussetzungen aufmerksam macht. Schön und gut. Dann sollte allerdings auch die Lehre aus dieser Reflexion gezogen und auf andere Weise das gemacht werden, was man vorher so unbewußt getan hat. Man sollte erzählen, beschreiben, darstellen, argumentieren, hinterfragen. In neuer Form. Und nicht die Inszenierung der Form als Placebo servieren. Oder, noch schlimmer, durch Regression in den unschuldigen prä-alphabetischen Zustand streben zu wollen. Benutzt die Bilder. Erklärt uns nicht, was ein Bild ist. Das glauben wir zu wissen.

Bildquellen

  • The sun always shines on tv: Mathias Mertens