Über Populismus: Freiheit, nein danke!

Freiheit ist ein Geschenk, das verpflichtet. Viele scheuen diese Herausforderung und folgen daher lieber den autokratischen Demagogen.

Laut Jean-Paul Sartre ist der Mensch zur Freiheit verurteilt. Und in der Tat, Freiheit ist eine Bürde. Die prinzipiell unbegrenzten Möglichkeiten, die sie eröffnet, können das Individuum überfordern. Denn Freiheit gibt uns keine Richtung vor. Sie verlangt von uns, unseren eigenen Weg zu finden. Sie verlangt von uns Kreativität, Eigeninitiative und den Mut, auch gegen eventuelle Widerstände unseren eingeschlagenen Weg fortzuführen und auf diesem unter Umständen zu scheitern.

Verantwortung

Zudem lässt uns Freiheit die Last der Verantwortung tragen. Wir stehen in der Verantwortung, unsere Freiheit zu nutzen. Einerseits aus Respekt vor allen jenen, die im Laufe der Geschichte für die Freiheit kämpften und starben. Anderseits aus Achtung vor uns selbst, das bisschen Leben, das uns auf Erden vergönnt ist, nicht sinnlos zu vergeuden. Diesbezüglich tragen wir insbesondere die Verantwortung für unsere Entscheidungen und unsere Handlungen. Doch diese Verantwortung scheint für viele zu groß zu sein.
Verantwortung belastet. Es lebt sich deutlich leichter, sie abzugeben. Daher wälzen wir sie auf autoritäre Instanzen ab – ideologische wie institutionelle, die wir im Laufe unserer Kulturgeschichte entwickelt haben. Es ist weitaus weniger anstrengend und für den einzelnen weniger risikobehaftet, konformistisch zu leben – so zu leben, zu denken und zu fühlen wie das vorherrschende Wertesystem und seine Vertreter es vorgeben.

Evolutionäres Erbe

Unsere Auffassung von Autorität scheint dabei aus den animalischen Urtagen unserer Evolution zu stammen. Unsere Hörigkeit gegenüber dem Rudelführer setzt sich nahtlos fort im Stammesführer späterer, vorzivilisatorischer Gemeinwesen sowie natürlich den Machthabern der diversen Regierungsformen, die wir als hehre zivilisatorische Errungenschaften betrachten, wie dem König, General, Diktator, Vorstandsvorsitzenden oder Präsidenten. So bleibt der Mensch letztlich doch nur Herdentier, das dem stärksten und lautesten Alphatier folgt, anstatt seine individuelle Freiheit auszuleben.
Dieses Führerprinzip ist im Neo-Faschismus unserer Tage, der verharmlosend als Rechtspopulismus bezeichnet wird, wieder auf dem Vormarsch. Die Diktatur mit dem starken Mann an der Spitze ist die ultimative, postmoderne Reinkarnation urzeitiger Herrschaftsformen. Die Diktatur ist im Grunde die effektivste Staatsform, weil sie in Bezug auf den politischen Entscheidungsprozess am wenigsten komplex ist. Sie degradiert die Bürger zum Volk und nimmt ihnen jegliche Entscheidungsfindung ab.

Schuld

Viele sind von der Demokratie als schlechteste aller Staatsformen von allen anderen abgesehen enttäuscht. Sie geben dem System und seinen Eliten – gewiss nicht völlig zu unrecht – für unterschiedliche Missstände die Schuld. Allerdings wird dabei übersehen, dass die Demokratie und ihre Eliten nicht die Alleinschuldigen sind, sondern dass wir als Wähler und Konsumenten mitverantwortlich sind.
Aber niemand gesteht sich gerne die Schuld ein, Demokratie nicht gelebt und gedankenlos konsumiert zu haben. Unsere Konsumgesellschaft mit ihren preiswerten Produkten ist anderswo teuer erkauft. Statt einsichtig zu sein und daraus zu lernen, wendet man sich von der freiheitlich demokratischen Grundordnung als vermeintlichen Schuldigen ab und wendet sich im Gegenzug der Autokratie als vermeintlich effizientere Alternative zu. Je tiefer der Karren im Dreck steckt, auf desto mehr Freiheit wird verzichtet, um die Verantwortung und die Schuld immer weiter von zu weisen. Auf Freiheit zu verzichten, um die Verantwortung und damit die Schuld von sich zu weisen, ist der Deal, regiert zu werden.

Erlösung

Die bisherigen Verantwortungsträger haben in der öffentlichen Wahrnehmung mittlerweile zu viel Schuld auf sich geladen. Dementsprechend ist es ein Leichtes, als neues, unverbrauchtes Gesicht auf der politischen Bühne zu glänzen und die Wähler für sich zu gewinnen: Donald Trump, AfD, Emmanuel Macron in Frankreich und aktuell Martin Schulz. Ihr Erfolg liegt darin begründet, dass sie als Person noch keine Schuld, zum Beispiel durch Regierungsbeteiligung, auf sich geladen haben. In diesem Sinne sind sie unschuldig.
Sie sind Erlösungsfiguren, weil die Enttäuschten die Hoffnung in sie setzen, sie sowohl von den derzeitigen Missständen als auch von der Schuld, eventuell selbst dafür verantwortlich zu sein, zu erlösen. Mit ihrer weißen Weste haben sie noch reichlich Kredit. Sie können und sollen die alten Verantwortungsträger ersetzen. Anschließend werden sie so lange hingenommen, bis auch sie zu viel Schuld auf sich geladen haben und gekreuzigt werden.
Jesus Christus nahm die Schuld aller Menschen auf sich und starb für sie am Kreuz. Unseren politischen Oberhäuptern widerfährt ein ähnlichen Schicksal, indem sie abgewählt, was den politischen Tod bedeutet, oder wie Ludwig XVI. oder Zar Nikolaus II. in einer Revolution tatsächlich hingerichtet werden, weil auch sie mit der Zeit unerträglich viel Schuld auf sich genommen haben.

Das gelobte Land

So erhoffen sich die Enttäuschten, von ihrem unschuldigen Messias ins gelobte Land oder zumindest in eine strahlende Zukunft geführt zu werden. Doch die Zukunft wird immer die Altlast der Gegenwart mit sich tragen. Die Verantwortung für eine bessere Welt liegt nicht bei einem einzelnen, sondern bei jedem einzelnen.
„Die Leute versuchen heutzutage so verzweifelt, an Führer zu glauben, dass sie einem leid tun können“, schrieb F. Scott Fitzgerald in seinem 1920 veröffentlichten Debütroman Diesseits vom Paradies. Diese Leute können einem leid tun, weil ihnen im Umkehrschluss das Vertrauen in sich selbst fehlt. Ihnen fehlt das nötige Selbstvertrauen, die Freiheit als Herausforderung anzunehmen. Aber sich von der Last der Freiheit zu befreien, ist nur augenscheinlich befreiend.

Bildquellen